Keimformen auf Andymon

Buchcover

Beim Wiederlesen einiger utopischer Romane bei der Beschäftigung mit dem Thema einer geldfreien Utopie stieß ich wieder auf den Roman von Angela und Karlheinz Steinmüller: „Andymon“ aus der DDR von 1982. Das Thema „Geld“ gibt es dort gar nicht, so selbstverständlich geht’s auch ohne. Wenn man auf der Suche nach gesellschaftlichen Möglichkeiten außerhalb ausgetretener kapitalistischer oder realsozialistischer Pfade ist, gibt es in diesem Roman viele Anregungen.

Dass die traditionellen Wege verlassen werden, dafür sorgt das Setting des Romans: In einem Raumschiff werden nach jahrtausendelangem Flug nach und nach Kinder durch Inkubatoren ausgetragen und nach ihrer „Geburt“ von sorgfältig programmierten Robotern erzogen. Als Gesellschaft erfahren sie ihre eigenen Geschwister, die sich bald auch entsprechend den Altersgruppen zu differenzieren beginnen, den Umgang mit den einst von irdischen Menschen programmierten Robotern und Erfahrungen mit dem früheren Leben der Menschen auf der entfernten Erde mit Hilfe der Virtuellen Realität im „Totaloskop“. Das Raumschiff ist auf dem Weg zu einem Planeten; die Jugendlichen haben außer einer ausgezeichneten Bildung auf allen Gebieten keine Vorgaben mit auf den Weg bekommen, was sie tun sollen.

In den sich entsprechend dem Lebensalter zusammenfindenden Gruppen bilden sich bald unterschiedliche Rollen heraus, die von den Persönlichkeiten und der jeweiligen Situation der Gruppe bestimmt werden. Feste Führungsstrukturen gibt es nicht; allerdings verhalten sich einige so, dass ihnen mehr Autorität zukommt und die anderen sich gern an ihnen orientieren. Als die Gruppenautorität, Delth, einmal nicht so leicht mit seinen Vorschlägen durchkommt, kann er sich nicht mit Druck oder Zwang durchsetzen:

„Delths Gesicht war krebsrot. Er wußte, daß er sich, auch wenn wir ihn alle als fähigen Kommandanten anerkannten, einzig und allein auf seine Überzeugungskraft stützen konnte.“

Nach Delths Tod geht die Hauptverantwortung auf den Ich-Erzähler Beth über. Er übernimmt diese Rolle nicht gern und sagt zu seiner Partnerin:

„Weißt du, Gamma, unsere Geschwister sind jetzt so erwachsen, die brauchen keinen Anführer mehr. Bestenfalls einen Koordinator, eben einen, der über alles informiert ist, der Streit schlichtet, in extremen Situationen schnell eine Entscheidung trifft, aber hauptsächlich, wie soll ich es ausdrücken, die Meinungsbildung organisiert.“

Das, was wir später als „Maintainerschaft“ bei der Entwicklung Freier Software in der Realität gefunden haben, wurde in diesem Roman von 1982 bereits vorgeahnt.

Auch das alltägliche Miteinander gestalten die Geschwister auf eine Weise, wie sie für die Menschen auf der Erde angesichts überkommener Traditionen ungewohnt ist. Als Teth zum Beispiel bei der Annäherung an den Planeten ziemlich voreilig in einer bemannten Sonde vorausfliegen will, meinen die anderen: „wir zwingen niemanden, etwas zu tun oder zu lassen – aber wir werden Teth auch nicht unterstützen.“ Als einer der Jüngeren wegen einem Problem mit einer anderen Gruppe zu einem Älteren kommt, wird ihm entgegnet:

„Und warum kommst du damit zu mir?“ […] „Ihr müßt euch selbst gegenüber der fünften Gruppe durchsetzen. Ihr habt doch Argumente und Münder zum Reden.“

Die Aussicht, sich viele Jahre für die Umgestaltung des neuen Planeten einsetzen zu müssen, bevor sichtbare Ergebnisse zu erwarten sind, führt bei einem der Geschwister dazu, dass er dauernd im Totaloskop bleibt, um die triste Realität mit spannenden virtuellen Erlebnissen zu ersetzen. Er kann nur mit Mühe herausgeholt werden. Darauf folgte eine Debatte über den künftigen Umgang mit solchen Vorfällen:

„Einige jüngere Geschwister verlangten die allgemeine psychologische Überwachung eines jeden mit regelmäßig zu absolvierenden Computertests, um Wiederholungen des Falles zu vermeiden. Wir diskutierten lange und entschieden uns dann dagegen, denn es hätte bedeutet, Aufmerksamkeit für unsere Geschwister und Anteilnahme an ihrem Leben durch maschinelle Checklisten zu ersetzen.“

Etwas später, als sie sich auf dem Planeten, den sie inzwischen „Andymon“ nennen, eingerichtet haben, erfinden sie auch so etwas wie das Internet und stigmergische Organisierungsprinzipien. Es wird ein Computer eingesetzt, der sogenannte „AN-ALLE-Nachrichten“ auf Abruf weiterleitet und vor allem über unbesetzte Betätigungsfelder informiert. Niemand kann andere gegen deren eigenes Interesse dazu bringen, für ihn und seine Interessen zu arbeiten. Das muss auch der Raumschiffkonstrukteur, der ein neues Raumschiff für die weitere Expansion ins Weltall bauen will, erfahren, als seine Helfer sich immer wieder absetzen und die Besiedlung des Planeten spannender finden.

Es ist dann auch der Umgang mit den Ressourcen, der zu den Konflikten führt, die auch in diesem Roman zu Spannung und Trouble führen. Das Raumschiff selbst birgt zwar viele Quellen, aber es hat keine unendlichen Energie- und Materialvorräte und die Arbeitszeit verteilt sich entsprechend den Interessen, so dass nicht alle Wünsche sofort erfüllt werden können. Die Entscheidungen, wie mit den Ressourcen umgegangen wird, erfolgt zumindest in der Anfangszeit auf dem Planeten in direkter Absprache. Allerdings beginnt einer der Siedler mit dem Namen Resth sich massiv gegen das Weiterverfolgen des Raumflugprogrammes zu stellen. Er sieht die Pläne der Siedler in Gefahr:

„Wir werden niemals zulassen, daß die Zukunft Andymons wegen utopischer Traumprojekte gefährdet wird. Nur eins ist unser Ziel: die Besiedlung Andymons.“

Für Beth dagegen wäre das ein großer Verlust.

„Es konnte Dutzende von Generationen dauern, bis meine Geschwister aus der Enge der Tagesnot, einer auf das Wesentlichste beschränkten Existenz wieder zu sich finden würden, ein ganzes dunkles, verlorenes Zeitalter. Für mich bedeutete ein Leben ohne das großartige Ziel der Sterne nur ein dumpfes Vegetieren.“

Gelernte DDR-Bürger werden in dieser Auseinandersetzung leicht die Argumente von jenen, die die kommunistischen Ideale angesichts der realsozialistischen Mühen der Ebene verleugneten, und derer, denen das zu trist und unattraktiv wurde, wieder erkennen.

Resth greift schließlich zu Gewalt: Er zerstört alle Dateien mit Wissen und Konstruktionsplänen zu Raumschiffen. In diesem Zusammenhang wird aber entdeckt, dass er seine Geschwister mit Wanzen abgehört hat, „um ihre Bedürfnisse besser zu kennen“. Er verliert damit jede Anerkennung und Unterstützung.

In den späteren Jahrzehnten, als auf dem Planeten und seinen Monden schon Siedlungen mit recht verschiedenen Kulturen entstanden sind und Kinder wieder von Müttern geboren werden, begannen die ersten „von der Notwendigkeit zu reden, Normen des Zusammenlebens zu formulieren und zu beschließen, Gesetze aufzustellen. Früher oder später wären diese sowieso nötig.“ Hier überlassen die Steinmüllers die neue Geschwister-Gesellschaft auf Andymon ihrer eigenen Geschichte. Beth, der die Geschichte von Anfang an erzählt, steckt mitten in neuen Debatten:

„Bis zum heutigen Tag haben wir weder Gesetze noch gewählte Interessenvertreter. Aber die Diskussion darüber hat begonnen. Die nächsten Generationen müssen das Problem des Miteinanders in einer großen Gemeinschaft selbst lösen.“

Im Herbst 1989 (!) meinen die Steinmüllers bei einer Kulturbundveranstaltung in Berlin, dass „die Schriftsteller heutzutage mit einem komplexen Entwurf einer zukünftigen Gesellschaft total überfordert“ seien, „da sie von den Gesellschaftswissenschaftlern völlig mit diesem Problem allein gelassen würden“ (Terminator, S. 15).

„Andymon“ jedenfalls wurde zum Namensgeber des Andymon-Stammtischs und des heute noch aktiven SF-Clubs Andymon (zur Geschichte siehe Both, Neumann, Scheffer 1998: 82ff.):
Andymon-Stammtisch

An dem „Problem des Miteinanders einer großen Gemeinschaft“ auf dem Planeten Erde knabbern wir heute noch…

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