Motiviert leben, statt erzwungen arbeiten

Einer der zentralen theoretischen Angriffe gilt dem kapitalistischen Menschenbild: dem Homo oeconomicus. Dies ist ein Wesen, das grundsätzlich versucht, möglichst wenig zu tun und möglichst viel zu bekommen. Wir sagen: Die Utopie, ist eine Gesellschaft ohne Arbeit, ohne leistungsvermittelten Konsum. Eine Gesellschaft in der wir unabhängig davon, was wir tun, bekommen, was wir brauchen. – Hier läuten alle Alarmglocken des kapitalistischen Subjektes: „Eine Welt, in der Menschen das tun, was ihnen wichtig ist? In denen niemand zur Arbeit gedrängt und gezwungen wird? In denen ich darauf hoffen muss, das die Ärztin operiert und die Bäckerin bäckt, weil es ihnen wichtig ist? Habt ihr noch alle Tassen im Schrank? Was ist denn bei euch falsch gelaufen?“

Kooperation erzwingen

Tatsächlich straft ein Blick in unsere gesellschaftliche Realität die Arbeitsfans lügen: Es gibt eine große Anzahl an wichtigen Bedürfnissen, die unbefriedigt bleiben. Egal, ob es um eine nachhaltige und sichere Zukunft für alle geht, für manche um Nicht-Hungern oder Wasser. Für andere aber auch um weniger Stress, mehr Aufgehobenheit und Zuwendung, mehr Liebe und Wertschätzung. Zusätzlich werden viele wichtige Tätigkeiten gar nicht bezahlt. Als „unbezahlte Arbeit“ bleiben sie der Motivation der Einzelnen überlassen, ob das nun die Pflege der Oma ist oder das Kochen des Abendessens. Wer behauptet, dass die soziale Marktwirtschaft unsere Bedürfnisse befriedigt, lügt. So viele Tätigkeiten bleiben ungetan, so viel Sorge um alte Menschen und Kinder fällt unter den Tisch. Soviel Wertschätzung wird nicht entgegen gebracht – und warum sollte ich mich den auch bei der Kellnerin bedanken oder bei dem Putzmann oder der Busfahrerin? Er*sie macht nur ihren Job. Ich mach das gleiche und dankt mir jemand dafür? Nein, das ist auch selbstverständlich.

Aber warum ist es selbstverständlich, dass wir arbeiten? Weil die meisten Menschen dieser Welt keine andere Wahl haben. Die Mehrheit muss arbeiten, weil sie sonst nichts zu beißen hat, oder zumindest keine annehmbare Wohnung und Urlaubsmöglichkeiten. Im Kapitalismus werden wir erpresst. Unsere Leistung wird uns abgepresst. Und am besten möglichst viel davon.

Diese Erpressung wird gerechtfertigt: „Jede*r hat seinen Beitrag zu leisten.“ „Stell dir mal vor wie es wäre, wenn alle so wie du nur rumhängen würden.“ „Meine Steuern, meine Arbeitszeit bezahlt dein Krankenhaus“. Und darin steckt eine gesellschaftstheoretische Wahrheit: Alle Mittel, die wir konsumieren wollen, müssen auch hergestellt* werden. Der gesellschaftliche Zusammenhang zwischen „Arbeit“ und Nutzen, Re/Produktion und Konsum besteht real. Darin steckt auch eine gesellschaftstheoretische Lüge: Kooperation müsste nicht erpresst und erzwungen werden. Kooperation könnte freiwillig sein. Und historisch gab es viele Gesellschaften, in denen ein Großteil der Tätigkeiten freiwillig erbracht wurden.

Kürzester historischer Arbeitsausflug

Die meisten vorkapitalistischen Gesellschaften waren landwirtschaftlich geprägt, darum sind gerade die Bäuer*innen für uns interessant. Viele davon versorgten sich relativ selbständig/autonom. Sie betrieben Eigenwirtschaft/Subsistenz. Und ein Zusammenhang war hier sehr deutlich: Wenn sie zu wenig herstellten*, hatten sie nichts zu beißen. Subsistenzbäuer*innen bestellten das meiste Land direkt für ihre eigenen Bedürfnisse. Ihre Tätigkeit war direkt bedürfnisbezogen. Und deshalb waren sie auch motiviert dazu. Sie taten die Tätigkeiten, weil sie ihnen wichtig waren.

Nun lebten diese Bäuer*innen nie einfach für sich allein, auch wenn sie sich das immer wieder wünschten und gegen adlige oder kirchliche Herrschaft kämpften. Französische Grundherrscher*innen oder römische Staaten zwangen ihnen immer ein Teil ihrer Ernte ab, und versprachen dafür Frieden und Schutz. Grundherr*innen verlangte in Deutschland bis ins 19. Jh. in England bspw. nur ins 15. Jh. auch direkte Tätigkeit. Die Bäuer*innen mussten Frontätigkeit leisten, und hier kommt wohl auch das Wort „Arbeit“ her. Arbeit war damals Tätigkeit in Mühsahl und Not. Arbeit hängt wohl auch mit rabota (von rabu = ‚Knecht, Leibeigener‘) zusammen, was Knechtsarbeit oder Frondient meinte. Tja, die Sozialist*innen bezeichneten sich häufig als „Partei der Arbeit“. Und heute kann man jeden gesellschaftlichen Diskurs torpedieren in dem man darauf verweist, dass die notwendigen Maßnahmen „Arbeitsplätze“ kosten könnten. Und tatsächlich fühlen sich viele Arbeitslose total mies, und dafür gibt es gute Gründe.

Den Homo oeconomicus begründen, uns Menschen verstehen

Der erste Grund ist an die Gesellschaftsform gebunden: Wer im Kapitalismus nicht arbeitet, hat meist kein Geld und damit keinen Zugriff auf den gesellschaftliche Reichtum. Kino, Urlaub, Familie besuchen – adé. Nur wer arbeitet, kann auf Reichtum zugreifen. So handeln Menschen im Kapitalismus sehr rational, wenn sie unbedingt ihre Lebenszeit verkaufen wollen.

Der zweite Grund gilt für alle Gesellschaftsformen. Egal, ob in Feudalismus, Kapitalismus oder Commonismus, die Menschen haben einen guten Grund tätig zu sein. Die Kritische Psychologie sagt: Menschliche Bedürfnisse kennen zwei Aspekte: den sinnlich-vitalen und den produktiven Aspekt. Der sinnlich-vitale Aspekt ist relativ klar. Wir wollen essen, trinken, ein Dach überm Kopf etc. Aber die Kritische Psychologie behauptet revolutionäres: Menschen wollen an der Herstellung* ihrer Lebensbedingungen teilhaben.

Nehmen wir die frühneuzeitliche Utopie des Schlaraffenlands: Menschen liegen herum und jedes Bedürfnis, das sie sich nur vorstellen können, wird befriedigt. Alles einfach da. Tätigkeit? Nicht notwendig. Arbeit? Nicht da. Und doch ist dieses Schlaraffenland für die meisten Menschen keine Utopie: „Alles immer bekommen? Nichts tun müssen? Nicht mal so richtig was tun können? Also ob ich das jetzt wirklich will … Ob ich da wirklich glücklich bin …“

Wenn ich über eine Gesellschaft ohne Arbeit spreche, eine Gesellschaft, wo ich mir den Konsum nicht verdienen muss, höre ich ganz oft: „„Die machen alle nur Urlaub“ „Oh nein, dann liegen sie doch alle nur am Strand“. Ich frage dann: Wie lange? 2 Wochen? 1 Monat? 3 Monate? 4 Monate? Wären Sie da glücklich? „Nein, nein, ich nicht … aber die anderen würden das so machen“ – Es sind immer „die Anderen“. Ich glaube „diese Anderen“, die nur herumliegen wollen, die nichts für andere Menschen tun wollen, die gibt es nicht. Und das begründet die Kritische Psychologie.

Die Natur des Menschen ernst nehmen

Wir Menschen haben uns aus der Evolution entwickelt. Jetzt stellen wir uns mal eine Gruppe von Menschen vor, die sich aus der Evolution so entwickelt hat, dass sie möglichst nichts machen wollen: Sie liegen also am liebsten herum und vergnügen sich. Wenn der Hungerdrang richtig dolle wird, suchen sie vielleicht mal Essen. Aber niemand kümmert sich so richtig darum. Diese Menschenart ist stark vom Aussterben bedroht – evolutionsmäßig gefährlich. Und sie passt nicht zur Menschheitsgeschichte. Menschen unterscheiden sich von den anderen Lebewesen dadurch, dass sie nicht nur die Früchte der Natur konsumieren, sondern diese Früchte selbst herstellen. Sie schaffen sich ihre Lebensbedingungen, bauen Häuser, pflanzen Weizen an, leiten Wasser um etc. Und sie schaffen ihre Lebensbedingungen nicht nur jetzt gerade, sondern sogar vorsorgend. Wir Menschen planen in die Zukunft: Wie kommen wir mit den Vorräten durch den Winter? Was brauchen wir dafür noch? Der Klima-Umbruch bedroht unsere Zivilisation, was tun? Falls ein Meteorit auf die Erde zusteuert, was tun wir dagegen (echt krass wie viel wir vorsorgen)? Menschen also eine Gruppe von ‚Faulen‘? Nope.

Die zweite Menschengruppe stellen wir uns als Workaholics vor: Sie wandern die ganze Zeit umher und versuchen möglichst viel zu machen. „Den Fluss da könnten wir noch aufstauen.“ „Das Feld können wir noch bestellen.“ „Und den Baum dort noch fällen.“ Diese Menschengruppe wäre wahrscheinlich nicht ausgestorben, auch wenn Burn Out ihre Reihen sicher ganz schön dezimiert hätte. (Hierbei hab ich noch immer unterstellt, dass die Menschen in ihrer Tätigkeitswut auch Bedürfnisse befriedigen wollten. Also nicht einfach Fluss dämmen, weil möglichst Irgendetwas-Tun, sondern Fluss dämmen, weil schönes Planschbecken.) Nein wir Menschen sind auch keine Workaholics. Wir sind eine gesunde Mischung. Menschen haben evolutionär eine gute Mischung aus Tätigkeitslust und Faulheit. Aber was macht die gute Mischung? Die gute Mischung kommt daher, dass die Menschen Lust haben an den Tätigkeiten, die sinnlich-vitalen Bedürfnisse befriedigen.

Reich der Notwendigkeit und Reich der Freiheit

Uns motivieren die Tätigkeiten, die reale, sinnlich-vitale Bedürfnisse befriedigen. Und zwar verschieden stark: Wenn wir denken „Boah, voll wichtig was gegen Klimaumbruch zu tun“ – haben wir viel Energie dafür. Das gilt natürlich auch für „Boah, voll wichtig Kloputzroboter zu bauen“ oder „Boah, voll wichtig Stahl zu produzieren, alte Menschen zu pflegen, etc.“. Menschen haben ein Bedürfnis produktiv tätig zu sein. Und produktives Tätigsein bedeutet: sinnlich-vitale Bedürfnisse befriedigen.

Damit ist aber auch die Mischungsmetapher beseitigt. Menschen haben nicht eine Mischung aus Tätigkeitslust und Faulheit, sondern ihre Tätigkeitslust ist in sich selber konkrete Bedürfnisbefriedigung, weil sie auf sinnlich-vitale Bedürfnisbefriedigung (anderer Menschen) zielt. Ich hab nun oft festgestellt, dass ich so was schreibe wie „Wir sind motiviert Bedürfnisse zu befriedigen“. Aber das tut so, als wäre das Tätigsein selber kein Bedürfnis. Aber als Menschen ist gerade das sinnlich-vitale-Bedürfnisse-befriedigen selber ein Bedürfnis.

Und dieses Bedürfnis haben wir auch im Kapitalismus. An Arbeitslosigkeit leiden Menschen nicht nur, weil sie ihre sinnlich-vitale Bedürfnisdimension nicht mehr befriedigen können, sondern wesentlich auch, weil sie die produktive Dimension nicht mehr befriedigen können. Diese produktive Dimension tritt auch immer wieder in einen Widerspruch zum Verwertungszwang: Die Ingenieurin, die das Produkt gerne möglichst gut und dauerhaft entwerfen will, aber vom Chef drauf hingewiesen wird: Besser ist es, wenn es auch wieder kaputt geht und neues gekauft wird. Unsere produktive Bedürfnisdimension wird also vom Kapitalismus nur teilweise befriedigt. Im Kapitalismus erfahren wir Tätigsein oft als Leid, und darum wollen wir auch möglichst nicht zu viel mit Arbeit zu tun haben. Wir verhalten uns wie kleine Homines oeconomici und haben keinen Bock zu arbeiten. Aber Menschen sind nicht Homines oeconomici. Wir könnten auch anders, unter anderen gesellschaftlichen Bedingungen.

Uns allen sind unterschiedliche Dinge wichtig. Manche wollen lieber Teddybären nähen, andere Kinder aufziehen und wieder andere Strom herstellen. Wozu wir motiviert sind, hängt auch von den gesellschaftlichen Möglichkeiten und Bedürfnissen ab. Im Mittelalter hatten Menschen einfach kein Bedürfnis Eisenbahnen zu bauen, erst als die Möglichkeit kam und sich an diese Möglichkeit auch Bedürfnisse binden konnten – „Wäre das cool, da könnte wir super schnell Leute besuchen“ etc. – wurde Eisenbahnbauen zum Bedürfnis. Motivation hängt also an Möglichkeit, aber auch an Bedürfnissen. Wenn niemand ein Bedürfnis nach Smartphones hat, sind Menschen auch kaum motiviert, das herzustellen. Unsere Motivation ist auf die (sinnlich-vitalen und auch auf die konstruktiven) Bedürfnisse anderer Menschen verwiesen. Wir sind bedürftig Bedürfnisse zu befriedigen.

Das ist etwas, was der gute alte Marx manchmal nicht so verstanden hat. Er unterscheidet ein „Reich der Notwendigkeit“, wo wir Weizen anbauen, Stahl herstellen und Brot backen, von einem „Reich der Freiheit“, wo wir komponieren und Texte schreiben. Diese Unterscheidung ignoriert die Bedürfnisse. Auch Texte und Stahl, Brot und Musik herzustellen, befriedigt Bedürfnisse, wir können zu allen notwendigen Tätigkeiten (in verschiedenen Maßen) motiviert sein. Die Utopie wäre diejenige, wo die Erfüllung der Notwendigkeit die Realisation der Freiheit ist. Unsere produktive Bedürfnisdimension wird nie all unsere sinnlich-vitalen Bedürfnisse abdecken. Es wird immer einen Unterschied geben. Immer einen Widerspruch zwischen dem, was wir bekommen wollen, und dem, was wir machen wollen. Nicht alle sinnlich-vitalen Bedürfnisse werden befriedigt werden. Aber das ist okay. Es geht nicht darum, diesen Widerspruch zu beseitigen, sondern ihm eine Bewegungsform zu geben – ohne Herrschaft. Es geht darum, Konflikte zu führen, wo es Menschen nicht nahegelegt ist sich gegeneinander durchzusetzen. Das geht in einer Inklusionsgesellschaft. Das geht in einer Utopie der herrschaftsfreien Koordination, in der es weiterhin einen Widerspruch gibt zwischen dem, was wir tun wollen und was wir brauchen. Zwischen Freiheit und Notwendigkeit. Zwischen sinnlich-vitalen und produktiven Bedürfnissen.

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