Lust auf Theorie?

Eine solidarische Kritik des MOVE Utopia (Teil I)

Diese Texte wollen meine Probleme mit dem MOVE aufwerfen. Sie fragen danach warum die gesellschaftliche Perspektive so häufig fehlt und weshalb Theorie oft so abstrakt und ausschließend ist, oder gar nicht erst wichtig wird. Der zweite Text versucht ein zentrales inhaltliches Problem des MOVE zu formulieren, dass aus der Betonung des kollektiven Wandels resultiert.

Wackelpudding und Nicht-Position – Kapitalismuskritik als kulturelles Milieu

Auf das MOVE Utopia kommen viele Menschen, die links anpolitisiert sind. Ihre Kritik des Kapitalismus ist nicht klar, ebenso wenig ihre Transformationsperspektive oder ihre Utopie. Sie verstehen sich häufig als links, aber was dieses „links“ ist, ist unklar. Das ist voll okay und sogar zuerst mal gut, da es eine Offenheit und Anschlussfähigkeit zeigt. Inhaltlich kann links aber verschieden gefüllt werden. Linke Kapitalismuskritik bedeutet für Menschen „die Herrschenden Kapitalist*innen sind das Problem“ oder „die Gier der Menschen“ oder „der Zins ist das Problem“ oder halt eine wirklich fundierte Kapitalismuskritik die Ware, Tausch, getrennte Privatproduktion, Arbeit und Staatlichkeit kritisiert. Linke Utopie bedeutet „Gemeinwohlökonomie“, „soziale Marktwirtschaft + bedingungsloses Grundeinkommen“, „Staatliche Planungswirtschaft“ bis zu „Commonismus und Inklusionsgesellschaft“. Linke Transformation bedeutet „soziale Kämpfe bis zum Kommunismus“, „Revolution“, „staatlicher Reformismus“, „Commons kleinklein“ oder der Konstruktionsprozess commonistischer Beziehungen zusammen mit sozialen Kämpfen und „transpersonales Commoning“.

Das Problem ist: Vor fast all diesen verschiedenen Kritiken, Utopien und Transformationsstrategien kann ich Yoga machen, meditieren, mich in „transparenter Kommunikation“ üben, meinen Körper kennenlernen und Vulva-Workshops machen. Man macht Yoga und glaubt der Zins ist das Problem, man lernt seinen Körper kennen und glaubt das individuelle Loslassen der Gier ist zentral. Individueller Wandel ist mit sehr viel vereinbar. Aber auch kollektive Praktiken von Gemeinschaften, Kommunen, Yoga-Retreats, Commons können vor weniger wahllosen, aber doch verschiedenen Theorien zu Kapitalismus, befreiter Gesellschaft und Revolution existieren.

Linke Positionen sind beim MOVE eher ein Hintergrundrauschen. Es existiert ein linkes kulturelles Milieu. Die Menschen entscheiden sich nicht bewusst für bestimme Positionen, sondern fühlen, denken und sprechen „irgendwie links“. Und genau in diesem „irgendwie“ liegt die Gefahr. Viele Menschen die auf dem MOVE waren, finden wahrscheinlich auch eine Kritik des Kapitalismus voll okay, wo die Gier des Menschen zum Problem erklärt wird. Oder die Utopie einer sozialen Marktwirtschaft mit bedingungslosen Grundeinkommen.

Das linke Hintergrundrauschen ist zu einem gewissen Grad austauschbar. Diese Austauschbarkeit drückt sich in einer „Nicht-Position“ bzw. Offenheit aus. Viele Menschen sind offen für verschiedenste Formen der Kritik. Sie haben keine klaren Positionen. Eine Person auf dem MOVE meinte zu mir: „Ich hab mit Menschen diskutiert und es fühlte sich manchmal so an als würde ich mit einem Wackelpudding sprechen: Ein bisschen war es egal welche Utopie, Kritik oder Transformationsidee ich vertrat, die Menschen stimmten mir bereitwillig zu und nickten zufrieden.“ Auch wenn die Wackelpuddingmetapher uns Menschen nicht gerecht wird, kann ich das Gefühl nachvollziehen: Nicht-Position fühlt sich verbindend und schön an, aber schafft auch eine gefährliche Offenheit. „Wer zu allen Seiten offen ist, kann nicht ganz dicht sein“. Theorie ist nämlich überhaupt nicht egal. Ist die Gier der Menschen das Problem, dann zielt meine Praxis auf die Beseitigung dieser Gier. Ist die ungerechte Verteilung des Reichtums das Problem, dann mach ich halt sozialdemokratisches Blabla (außer in Deutschland, da kriegt die Sozialdemokratie nicht mal mehr das hin).

Das MOVE hätte die Aufgabe dieses „irgendwie links“ zu qualifizieren, zu fundieren. Wir sollten darauf zielen eine gemeinsame Diskussion und Streit über Kritik, Utopie und Transformation zu führen, anstatt dass diese Positionen nur so nebeneinander stehen. Verbunden nur über ein abstraktes linkes Selbstverständnis. Begriffe und Positionen schärfen sich in Abgrenzung. Ich wünsche mir, dass Menschen die auf dem MOVE waren, beim nächsten Yoga-Retreat der Person, die sie in der Pause über die Gier des Menschen und „weibliche und männliche Energien“ zutexten die Meinung geigen, Position beziehen und diese auch argumentieren können.

Theorie praxisrelevant machen! – „Abstrakte“, „konkrete“ Theorie und Handlungsfähigkeit

Als Commons Institut sind wir auf das MOVE gefahren um Inhalte und Theorie hineinzutragen. Aber wann wird Theorie für Menschen wichtig? Die Fish Bowl mit Ernst Lohoff und Friederike Habermann am Freitagabend war für mich und andere inhaltliche spannend, aber für viele Menschen war sie abschreckend. Sie wiederholte für sie genau die Form der Theorie, von der sie sich ausgeschlossen fühlten, die abstrakt scheint, wirklichkeitsfern. Dies hat sowohl mit Form als auch dem Inhalt der Theorie zu tun.

Von der Form her kann Theorie zu kompliziert sein, zu viel Fachbegriffe verwenden, zu komplexe Sätze enthalten. Das schließt aus und erzeugt ein Gefühl des Nicht-Genügens, im schlimmsten Falle des „Ich bin zu blöd dafür“ im besseren (aber auch ärgerlichen) Falle „Das ist nichts für mich“. Doch auch der Inhalt der Theorie kann ausschließen. Mich interessieren eine Unmenge an theoretischen Fragen, von Hegels Erkenntnistheorie, Arendts Glücksbegriff, Foucaults Machtkonzept, Adornos Kunsttheorie, Butlers Subjektbegriff – Warum? Weil sie für mich wirklichkeitsrelevant sind. Sie verändern mein Denken über Wirklichkeit, sie lassen mich die Welt mit anderen Augen sehen. Und das heißt: Sie verändern meine Praxis. Ich beziehe mich dann anders auf die Welt, auf mich, auf meine Mitmenschen. Ich handle dann anders in der Welt. Für mich hat eine Unmenge an Theorie Praxisrelevanz. Für andere Menschen nur sehr wenige. Ich mache nur Theorie um anders handeln zu können, ich mache nur Theorie um handlungsfähig zu werden.

Es gibt auch Theorie die für mich irrelevant bzw. weniger relevant ist. Es gibt Theorie die für mich zu „abstrakt“ ist. Beispielsweise sehe ich es einfach nicht so richtig ein, warum ich mich darum streiten soll was Marx nun mit Fußnote 163 im zweiten Band des Kapitals genau gemeint hat. Für andere Menschen hat das Relevanz, das find ich beeindruckend. Ich kenne auch eine etwas verselbständige Lust an Theorie – es kann auch einfach geil sein zu versuchen Thomas Hobbes zu verstehen, weil es einfach geil ist Thomas Hobbes zu verstehen und Schluss. Aber ich glaub selbst das ist auf meine Handlungsfähigkeit gerichtet. Ich bleibe lieber bei den Fragen die mich direkter handlungsfähiger machen: „Was ist die befreite Gesellschaft?“, „Wie kommen wir dahin?“, „Wie gehen wir mit der Klimakrise um?“.

Stimmt diese Theorie, dass die Frage nach Handlungsfähigkeit zentral ist für das Interesse an Theorie, dann wäre die entscheidende Fragen an die Theorie: Macht diese Theorie mich handlungsfähig? Hilft sie mir? Da wir auf Befreiung abzielen, wäre die konkretere Frage an Theorie: Macht diese Theorie mich verallgemeinert handlungsfähig? Kann ich mit ihr besser mich selbst verstehen und den Commonismus erreichen? Ich frage mich welche Art von Veranstaltungen wir machen würden wäre dies die leitende Fragen unsere Pädagogik. Welche Theorie würden wir anbieten? Wie würden wir diese vermitteln?

… Gut, dies sei das Ende meines persönlichen Ausflugs in Theorie. Zum MOVE zurück.

Theorie als Kopf der Leidenschaft

Theorie wird für Menschen relevant, wenn sie glauben durch sie handlungsfähig zu werden. Aber, wenn Menschen sich schon handlungsfähig fühlen, dann brauchen sie keine Theorie. Der Wunsch nach Theorie kommt aus einer Unzufriedenheit mit den möglichen Handlungsoptionen, aus einer Frustration der Handlungsfähigkeit, er ist von einer Suche nach neuer Handlungsfähigkeit getrieben. Wer glaubt, dass er alles richtig macht, braucht keine Theorie. Er*sie hat dann wohl die richtige Theorie, da er*sie ja schon offenbar richtig handelt. Kein theoretischer Bedarf feststellbar. Und ich hab solche Menschen auf dem MOVE getroffen, v.a. männliche Hippis die voll Zufriedenheit durch die Welt stolzierten mit der festen Einstellung: „Ich bin wohl das Beste, was der Welt und den Menschen um mich herum so passieren konnte“ – Zum kotzen. Mich frustrieren Menschen die glauben alles richtig zu machen. „Theorie ist nicht die Leidenschaft des Kopfes, sondern der Kopf der Leidenschaft“ – sie kommt aus Leiden, aus Streben, aus Suchen, nicht aus Selbstgenügsamkeit und Selbstbeschäftigung. Oder zumindest sollte sie daraus kommen. Wenn ich mir die Uni so ansehe, dann machen der Gros an Wissenschaftlerinnen Theorie wohl nur aus Anpassung, als Diener*innen des Kapitalismus, um ihre Stellen zu halten, um zu verstehen warum nun Hannah Arendt so gedacht hat, oder um die Herstellung von Dünger zu optimieren. Eine kritische, emanzipatorische Theorie kommt aus einer revolutionären Frustration, aus der Einsicht, dass das was ich tue nicht ausreicht um ein gutes Leben für mich und für alle zu ermöglichen.

So kann es sein, dass Theorie zuerst frustrieren muss. Sie kann aufzeigen, dass das was ich tue nicht zu dem führt was ich will. Sie kann den Widerspruch zwischen Ziel und Handlung offenlegen. Wenn dieser Widerspruch schon bewusst ist, kann sie direkt bei dieser Frustration beginnen. Der nächste Teil der solidarischen Kritik möchte frustrieren. Er will zeigen, was an Commons, Gemeinschaften, Kommunen und auch an Yoga, Meditation nicht ausreicht. Er will frustrieren, aber damit zur Suche anstifteten, zum Streben anregen, zur Theorielust bewegen.

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