CyberSyn — Realsozialismus in Echtzeit
Vor ziemlich genau 35 Jahren wurde der Realsozialismus in spe zerschlagen — in Chile. Kurz nach dem Putsch in Chile am 11. September 1973 zerstörten Militärs das CyberSyn-Kontrollzentrum (links im Bild). Ein neuer Anlauf zu einer sozialistischen Ökonomie war zerschlagen, die »Chicago-Boys« hielten Einzug, und das neoliberale Experiment begann.
Die Art des Scheiterns des chilenischen Sozialismusanlaufs — ein gewalttätiger Abbruch — ist geeignet, allerlei Phantasien, was da hätte noch kommen können, zu mobilisieren. CyberSyn ist Teil der Projektionen.
Was ist CyberSyn?
CyberSyn (Cybernetic Synergy) war ein Projekt der Allende-Regierung in Chile (1970-1973), das eine zentrale Wirtschaftssteuerung auf Basis eines Fernschreiber-Netzwerkes anstrebte. In der Hauptstadt Santiago stand ein Mainframe-Rechner mit dem die bedeutenden Unternehmen des Landes sternförmig »verbunden« waren. Die Daten — sieben Kennziffern — wurden per Hand in den Zentralrechner eingegeben, der auf dieser Grundlage dann Prognosen errechnete und die Datenbasis für steuernde Maßnahmen lieferte. Im zentralen »Operationsraum« (ein Begriff aus der Kriegsführung) saßen maximal sieben Personen — was als optimale Gruppengröße für kreative Prozesse angesehen wurde — und diskutierten und entschieden die Maßnahmen.
Das Besondere war die in Software implementierten kybernetischen Regelkreise und Bayesischen Filterverfahren. Ziel war es, die Nachteile der Zentralverwaltungswirtschaften (Sowjetunion etc.) zu überwinden. Diese wurde vor allem in der großen Trägheit der steuernden Direktiven gesehen, die zudem oft falsch waren, weil zu wenige und oft nicht die richtigen Informationen rechtzeitig vorlagen. CyberSyn sollte einen real-funktionierenden Sozialismus mit einer Planung »in Echtzeit« möglich machen.
Ursprünglich war geplant, sukzessive in allen Betrieben ud Branchen Operationsräume einzurichten. Entscheidungen sollten nicht nur zentral, sondern in einem vierstufigen Verfahren auch lokal, sektoral oder branchenbezogen getroffen werden. Dabei gibt es ein kaskadiertes Eskalationsschema, wonach jeweils die nächst höhere Steuerungsebene eingreifen kann, wenn die untere Ebene nicht innerhalb einer festgesetzen Frist reagiert (siehe die nebenstehende Skizze von Stafford Beer, dem Architekten von CyberSyn). Zu dieser flächendeckenden Ausbaustufe kam es jedoch aufgrund des Putsches nicht mehr. CyberSyn kam so nie richtig zum Einsatz. Das Fernschreibernetz bewährte sich jedoch beim Transport-Boykott der Fuhrunternehmer von 1972, wo es der Regierung gelang, die verbliebenen geringen Transportkapazitäten so zu koordinieren, dass eine Grundversorgung der blockierten Hauptstadt aufrecht erhalten werden konnte.
Bewertung
CyberSyn ist gescheitert, nach Aussagen von Stafford Beer wegen der ökonomischen Subversion durch die CIA. Das ist sicher richtig. Die Frage ist heute jedoch: Hätte es funktionieren können?
Paul Cockshott und Allin Cottrell meinen »ja«. In ihrem Buch »Alternativen aus dem Rechner« (das ich immer noch nicht gelesen habe, ts) widmen sie der »ökonomischen Kybernetik in Chile« allerings gerade mal zweieinhalb Seiten. Ich meine: Kommt drauf an, was man als »funktionieren« verstehen möchte. Versteht man darunter, die kapitalistische Warenwirtschaft möglichst effizient zu beeinflussen, dann könnte das kybernetische Steuerungsmodell der bloß dirigistischen Planwirtschaft überlegen sein. Versteht man darunter jedoch die Überwindung des Kapitalismus und seine Ersetzung durch eine andere, bessere Form der »Ökonomie«, dann sehe ich keine Chance.
Das Projekt CyberSyn und generell die sozialitische Regierung Allendes ging davon aus, dass Wirtschaft nun mal Wirtschaft sei — es käme darauf an, wer sie kontrolliert und welche Motive sich durchsetzen. Gemäß damaliger Vorstellungen können das entweder Privateigentümer (Motiv: Profit) oder der Staat (Motiv: Gemeinwohl) sein. Erstes wurde im damaligen Verständnis »Kapitalismus« genannt, zweites zumindest der Möglichkeit nach »Sozialismus«. Ich fürchte daran hat sich bis heute auch nicht viel geändert.
Beide Sichtweisen gehen von der grundsätzlichen Neutralität der Warenwirtschaft aus. Dem ist jedoch nicht so. Die Warenwirtschaft als solche erzeugt bereits ein marktvermitteltes kybernetisches Regelsystem, in dessen Zentrum der Verwertungszwang steht. Egal, wer es tut (privater Unternehmer oder Staat) und egal, was dieser Agent tut: Es muss sich rechnen. Die Verwertungslogik und damit auch das Profitmotiv ist in die Warenwirtschaft eingeschrieben. Man wird es auch durch Planung nicht los und kann es höchstens kaschieren oder missachten (bei Strafe des Bankrotts).
Interessant ist nun aber dennoch, dass der Kybernetik des Marktes mit dem CyberSyn-Konzept eine informationelle Kybernetik der Austarierung zur Seite gestellt wurde. Allerdings ist jedes informationelle kybernetische Abbild bestenfalls eine angenäherte Simulation der wirklichen Verhältnisse. Wenn nun die vollständige — weil reale — Kybernetik des Marktes systemlogisch zyklisch Krisen hervorbringt, wäre die interessante Frage, ob man diese Krisen »ausregulieren« könnte oder ob aufgrund der Kopplung zweier getrennter kybernetischer Regelkreise sogar krisenverschärfende Rückkopplungen möglich sind. — Angesichts der aktuellen Finanzkrise, die auch als Regulationskrise reflektiert wird, könnte das doch eine interessante Forschungsfrage sein.
Die These einer möglichen »Ausregulierung« zyklischer Krisen setzt aber eben jenes als Vorannahme voraus: Die Krise ist stets nur zyklisch, aber niemals systemisch. Kapitalismus als Pendel. Ich denke jedoch, dass die Annahme nicht (mehr) zu halten ist. Die Finanzkrise ist heute nicht nurmehr als zyklische, sondern vor allem als Systemkrise zu begreifen. Systemkrisen, also Krisen der auf Ware und Wert beruhenden Regulationsform selbst, lassen sich jedoch nicht mehr »ausregulieren«. Regulieren lässt sich immer nur mit den vorgegebenen Mitteln (im wesentlichen über den Preis), die Mittel selbst können nicht »reguliert«, sie können nur gewechselt werden.
Was erforderlich wäre, ist ein Systemwechsel, also ein Wechsel der Regulationsform selbst. Mit der »Peer-Ökonomie« liegt ein alternativer Vorschlag auf dem Tisch. Es handelt sich hierbei um eine »aufwandsregulierte« Produktionsweise, die man durchaus mit kybernetischen Ansätzen abbilden könnte. Die kybernetischen »Steuerinstanzen« sind allerdings hier die Menschen selbst. Und das ist meiner Meinung nach der einzige Ansatz, der überhaupt sinnvoll ist.
Kennst du das? Kommunismus = Sowjetmacht und Internet
http://erste.oekonux-konferenz.de/dokumentation/texte/dunkhase.html – ist mir beim Lesen dieses Posts wieder mal in den Sinn gekommen.
Ich bin bei beidem skepetisch. Denn die Frage heute ist doch nicht wie wir eine Alternative zum Kapitalismus organisieren (da gibts genug Beispiele in allen Bereichen, die das schon antizipieren), sondern wie wir Alternativen durchsetzen gegen die herrschenden Eliten. Genau das zeigt doch das Beispiel Chile.
@Andrea: Ja, der Helmut Dunkhase von der ersten Oekonux-Konferenz ist auch der deutsche Übersetzer des erwähnten Buches »Alternativen aus dem Rechner« von Cockshott/Cottrell. Nein, nein, das wird es nicht sein.
Allerdings halte ich die Frage »wie wir eine Alternative zum Kapitalismus organisieren« noch nicht für abgemacht — es sei denn, mir ist was entgangen und du klärst mich auf. 🙂
am beispiel von venezuela kann man aktuell sehen,daß veränderungen praktische prozesse sind,die inmitten internationaler klassenkämpfe stattfinden,ausgeführt mit allen denkbaren mitteln. ( mit geheimdiensten,infiltration,preismanipulation,
praktische und ideologische manipulation der bevölkerung,infiltration mit drogen,mord und schließlich attentate und putschversuche,wirtschafts -u. technologieboykott,am ende offener krieg mit folgendem ausbluten und klein-
beigeben der bevölkerung )
nur mit schönen modellen kommen wir da nicht weiter.innerhalb dieser revo-
lutionären rahmenbedingungen vermischen sich lokale bedingungen,prinzipien,
strategien und taktiken.gute beispiele : rußland/udssr,china,nicaragua,cuba …..
grüße uwe rosenboom
Zu diesem Thema habe ich vor einiger Zeit auf zwei interessante Beiträge verwiesen, die online zu finden sind: http://www.systemagazin.de/serendipity/index.php?/archives/863-Stafford-Beer,-Salvador-Allende-und-das-Schicksal-der-Kybernetik-in-Chile.html
Grüße
Tom Levold
Ich finde, damit tut man den Projekten von damals dann doch Unrecht. Gerechnet wird natürlich sowohl in der Buchführung eines Unternehmens als auch in der Steuerungsbehörde einer Planwirtschaft, aber doch in verschiedener Weise und tatsächlich unter ganz verschiedenen Zielsetzungen, so dass man dies nicht einfach über einen Kamm scheren kann. Die Frage, ob man für den Profit oder für die Menschen rechnet, macht schon einen großen Unterschied. Die heute geläufige Formel über die Ostblocksysteme „Das war doch eh nur gesteuerter Kapitalismus“ greift IMHO zu kurz. Viele zentrale Merkmale, die Marx beschreibt, fehlen in einem komplett gesteuerten Modell. So gäbe es keinen Zwang, den Arbeitstag immer weiter zu verlängern und die Löhne zu senken. Tausch und der daraus resultierende Wert sind auch weitgehend außer Kraft gesetzt, da ja eigentlich gar nicht mehr getauscht wird, sondern zentral festgelegt, wer was zu welchem Preis kriegt. Geld verliert damit seine Funktion als Wertausdruck (und damit entstehen natürlich neue Probleme). In jedem Fall kann man – sofern meine Annahme richtig ist – damit auch die ganzen darauf aufbauenden Kategorien von Marx nicht oder nur mit viel Zwang anwenden.
Ich meine, Planwirtschaften sind anders als der Kapitalismus, aber sie sind (zumindest in manchen Fällen) ineffektiver als er. In anderen Fällen sind sie dagegen vielleicht noch recht effektiv, so hätte man die Sowjetunion mit Kapitalismus sicher nicht in wenigen Jahrzehnten von einem Entwicklungsland zu einer Weltmacht machen können. Darin ist der Kap. nämlich nicht gut, er neigt zur Verstärkung vorhandener Unterschiede.
@Martin: Das sehe ich viel kritischer, wenngleich ich dir zustimme, dass ich nicht so pauschalierend urteilen sollte. Das wäre in der Tat viel differenzierter zu untersuchen.
Aber du machst dir m.E. was vor, wenn du schreibst:
Selbstverständlich gab es einen Zwang, den Arbeitstag so lang wie möglich zu machen bzw. zu halten: In der DDR gab es wesentliche längere Arbeitszeiten als in der BRD. Und natürlich mussten die Löhne so niedrig wie möglich gehalten werden, um auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig zu bleiben: Die Löhne in der DDR waren — auch gemessen an der Kaufkraft — ziemlich niedrig. Und selbstverständlich musste der Wert als Tauschkriterium berücksichtigt werden, nämlich genau bei jener zentralen Preisgestaltung.
Ich kann mich noch sehr gut an die Debatten um den »Voluntarismus« der Preise in der DDR erinnern, sie — so eine angebliche linke Kritik — permanent gegen das Wertgesetz verstoßen würden. Das stimmte ja auch, und irgendwann galt dann wieder das Wertgesetz voll (1990).
Also: Nur weil willkürlich gegen das Wertgesetz gehandelt wurde, war es nicht weg, sondern verschaffte sich indirekt weiterhin Geltung. Diese indirekten Wirkungen mal konkret aufzuschlüsseln, wäre eine interessante Aufgabe (aber nicht meine).
Der Kampf der beiden Linien (Ulbricht vs. Honecker aka mehr Markt vs. mehr Staat) lebt weiter fort. Über Ulbricht:
Über Honecker:
Auf die Idee, die Wert- und Tauschlogik zu verlassen, kommen diese Linken nicht.
Die Weltmarktkonkurrenz hatte ich weggelassen. da sie eben Kapitalismus ist. Wenn ein Land beschließt, auf dem kapitalistischen Weltmarkt teilzzunehmen, betreibt es auf dieser Ebene Kapitalismus, unterliegt damit dessen Gesetzen.
Was den Wert betrifft, könntest du Recht haben: Er spielt wohl doch eine Rolle. Ob es aber wirklich der kapitalistische Wert ist, der sich doch im Kap. hinter dem Rücken der Warenproduzenten beim Austausch der Waren herausbildet? Darüber müsste man nochmal nachdenken … Meine Vermutung wäre: Sobald es zu einem Schwarzmarkt kommt, hat man eben wieder Markt und die Planwirtschaft muss den kap. Wert berücksichtigen (und kann z.B. nicht bestimmte lebensnotwendige Güter stark verbilligen, weil damit andre Güter teurer werden müssen, und diese dann auf dem Schwarzmarkt billiger auftauchen). Eine echte Planwirtschaft muss das Auftauchen eines Markts verhindern, sonst ist sie in der Preisgestaltung völlig gebunden.
Ob es in Chile hätte gelingen können, eine Wirtschaft aufzubauen, die alle Bedürfnisse prompt befriedigt und damit einer Schwarzmarktbildung vorbeugt? Durch das mehrschichtige, ausgefeilte System, das (im Ggs. zum Ostblock) offenbar die Nachfrage in Realtime berücksichtigen sollte, hätte dies vielleicht gelingen können – auch, weil in einem solchen System nicht so einfach größere Mengen von Gütern verschwinden können, wie in einem „brute force“-System wie z.B. der DDR, wo im Zweifel auf Vorrat produziert wird.
Mir ist wichtig, auf die indirekten Wirkungen der global dominanten Form der Vergesellschaftung über den Wert hinzuweisen. Der Weltmarkt war für den Realsozialismus die Referenz, die in alle Betriebe hineinwirkte (hab ich seinerzeit persönlich mit den Genossen Betriebsleitern diskutieren können).
Um diese indirekten Wirkungen ginge es mir auch, wenn wir überlegen, befreite Inseln auf Basis der Peer-Produktion aufzubauen: Da sollten wir uns nix vormachen.
Der New Yorker zum Thema.