Wissenschaft als Begreifen-wollen
In Sabine Nuss‘ Blog gibt es anlässlich eines Marx-Zitats einige Überlegungen zum Ziel und Anspruch von wissenschaftlicher Arbeit:
Zweifel und Zagheit, die beim Eingang in die Wissenschaft zu „ertöten“ sind, beziehen sich auf den Umgang mit den Ergebnissen der Analyse: sind sie Ergebnis ernsthafter Forschung, so müssen sie auch vertreten werden, egal wie viele Vorurteile der „öffentlichen Meinung“ oder der „herrschenden Klassen“ verletzt werden.
Vorurteile existieren aber auch bei der Linken, auch dort geht es nicht selten darum, sich liebgewonnene Beurteilungen der Verhältnisse durch eine Analyse bloß nicht kaputt machen zu lassen. Demgegenüber betont Marx an einer späteren Stelle des „Kapital“, dass es ihm gerade nicht um eine Kritik geht, „welche die Gegenwart zu be- und verurteilen, aber nicht zu begreifen weiß.“ (528, Fn. 324). Ohne ein „Begreifen“, das sich eben nicht vor seinen Resultaten fürchtet, egal wie sie ausfallen mögen, ist eine wirkliche Kritik schlechterdings nicht möglich!
Das ist es wohl, was die Wissenschaft und generell jede Suche nach Erkenntnis ausmacht: es geht darum, die Dinge möglichst gut verstehen zu wollen; sich darum zu bemühen, sie so zu begreifen, wie sie sind (nicht wie man sie gern hätte). Leider scheint das auch bei „Linken“ und „kritischen Geistern“ manchmal in Vergessenheit zu geraten…
Ja, im 19. Jahrhundert mag man das noch so gedacht haben. Leider dürfte es inzwischen klar sein, dass das alles etwas komplizierter ist. Keine Erkenntnis ohne Interesse. Die Idee der Aufklärung für immer zumindestens angeschlagen. Um nur zwei Quellen des Zweifels unter vielen zu nennen.
Ich will jetzt damit nicht sagen, dass man nicht versuchen soll, die Dinge zu verstehen und zu begreifen, doch sollte man sich der enormen Begrenztheit dieses Versuches bewußt bleiben. Deshalb halte ich das umgekehrte Vorgehen für genauso wichtig: Wenn einem jemand eine neue Erklärung vorlegt, frage man zuerst, was daraus folgt. Wenn man die Folgen nicht will, scheiße man im Zweifel auf die Erklärung. Und dabei gilt: Je umfassender der Anspruch der Erklärung, umso größer der Schiß.
Wenn man „die Folgen nicht will“, ist das ein guter Grund, die Erklärung einer sehr kritischen Überprüfung zu unterziehen – und oft genug, das lehrt die Erfahrung, wird man dann ja auch einen Fehler oder eine unhaltbare Annahme finden. Aber wenn nicht, wenn du selbst die Erklärung für fundiert und überzeugend hälst, macht es dann nicht mehr Sinn, sie (zumindest tentativ, denn alles Wissen ist revidierbar) in dein Weltbild zu integrieren? Statt vor deiner eigenen Erkenntnis die Augen zu verschließen und weiterhin etwas zu behaupten was du eigentlich selbst nicht mehr glaubst?
Wer Erkenntnis und Interesse als Gegensatz sieht und dafür plädiert, im Zweifelsfall die Erkenntnis dem Interesse unterzuordnen, spielt das zynische Spiel eines Machiavelli. Die „andere Seite“ macht das (ob bewusst oder unbewusst) regelmäßig, aber ich sehe keinen Grund, warum wir uns auf dieses fiese Spielchen einlassen sollten.
Der Witz ist ja auch, dass wir vor der Wahrheit keine Angst haben müssen. Es ist ja regelmäßig die „andere Seite“ (die Apologeten des bestehenden Systems), die in Verlegenheit gerät, weil sie, um das System zu rechtfertigen, mit Annahmen operieren muss, die einer kritischen Prüfung nicht standhalten (z.B. dem „Homo oeconomicus“).
Wir haben das nicht nötig, und wir sollten es auch nicht tun.
Tut mir leid Christian, ich bin einfach zu postmodern verseucht, um noch so denken zu können. „fundiert und überzeugend“, „Wahrheit“ usw., das sind halt selbst sehr vorraussetzungsreiche Geschichten.
Tja, ich wünsche dir viel Glück. Ich hatte diese Seuche auch mal und bin drüber hinweggekommen. Vielleicht ist das einfach eine Phase des Denkens, die man mal durchmachen muss, bevor man erkennt, dass, nur weil das Bemühen um Erkenntnis nicht so einfach ist wie sich das die Aufklärer vorgestellt hatten, es trotzdem nicht unmöglich ist.
Zur Postmoderne, deren große Zeit ja glücklicherweise schon wieder vorbei ist, hier noch ein Zitat von Alan D. Sokal (A Physicist Experiments With Cultural Studies):
Der Heroismus, der in dem Marxzitat liegt, ist mir (wesens)fremd und scheint mir dann doch recht an Zeit und Kontext gebunden.
Angst, die mit vorurteilslosem Forschen verbunden ist, kenne ich dann aber doch: Wenn eigene Gewissheiten sich im Angesicht der Wirklichkeit verfluessigen. Und leider ist meine Erfahrung, dass sie nicht in gleichem Masse durch neue Gewissheiten ersetzt werden. Da kann ich noch so viel denken und forschen und da mag ich dann Kind meiner Zeit und meines Kontexts sein.
Das auszuhalten ist manchmal schwierig. Als die alten Aufklaerer die absolute Wahrheit, die in Gott liegt, mit der absoluten Wahrheit, die in der Natur liegt (und die von der Wissenschaft zu entdecken ist), ersetzt haben, haben sie meiner Meinung nach gekniffen. Auch die Macht zum Absoluten zu erklaeren geht in diese Richtung. Das Beste an zeitgenoessischer Kritik, das ich kenne, sucht hingegen aufrichtig nach dem guten Leben in einer Welt ohne Gewissheiten.
Wer redet denn von „absoluter Wahrheit“? Die macht ja als Konzept schon deshalb wenig Sinn, weil wir in der Wissenschaft nie sagen können, ob eine Theorie (mit Realweltbezug, Mathematik ist wieder eine andere Sache) „absolut wahr“ ist.
Was wir im Allgemeinen sagen können, ist ob eine Theorie „wahrer“ als eine andere, d.h. eine bessere Beschreibung der Wirklichkeit ist (z.B. beim Übergang von der Newton’schen Physik zur Relativitätstheorie, oder vom ptolemäischen zum heliozentrischen Weltbild, oder beim Vergleich zwischen Evolutionstheorie und „Intelligent Design“). Das ist aber schon eine ganze Menge…
Die „Welt ohne Gewissheiten“ leuchtet mir nicht ein (wir wissen dass 2 + 2 = 4 und dass die Erde sich um die Sonne dreht, um nur 2 Beispiele zu nennen). Abgesehen davon ist die „Suche nach dem guten Leben“ (d.h. die doppelte Frage, wie wir leben wollen, und wie wir es schaffen können, so zu leben) natürlich eine andere wichtige menschliche Aktivität. Die Wissenschaft (um die es mir in diesem Beitrag ja eigentlich ging) kann darauf keine direkten Antworten geben, denn die Wissenschaft fragt ja nach dem Sein (wie sind die Dinge?) und nicht nach dem Sollen bzw. Wollen (wie wollen wir leben?).
Trotzdem können diese beiden Bereiche füreinander hilfreich sein, jedenfalls die Wissenschaft für die Frage nach dem guten Leben (*), denn wenn man die Dinge besser versteht, kann man auch besser feststellen, wo die Probleme liegen, und was man ändern könnte, um dem guten Leben näher zu kommen. Dazu hieß es ja schon im zitierten Artikel:
Und dieser Zusammenhang zwischen Verstehen und Verbessern ist keineswegs nur akademisch, sondern von großer praktischer Relevanz. Das zeigen die zahlreichen „Sündenbock-Theorien“ und anderen Verschlimmbesserungsversuche, die sich aus verkürzter Kapitalismuskritik (die den K. kritisiert, ohne ihn zu verstehen) ergeben. Ein besseres Verstehen könnte viele Irrwege auf der Suche nach dem besseren Leben vermeiden helfen…
(* Aber vermutlich gilt es auch andersrum, jedenfalls würde es mich nicht wundern, wenn ein glücklicherer Mensch auch eine bessere Wissenschaftler/in ist 🙂 )
Liebe alle,
nur kurz zur Klärung: es ging bei besagtem Zitat zunächst um den Unterschied von „sein“ und „sollen“, nicht sosehr um die Frage, wo dann die Grenzen der Erkenntnis dieses Seins liegen. Das ist nochmal eine andere riesengroße Frage. Müsste man also getrennt diskutieren.
Gruss, Sabine