André Gorz aus dem Nachlass
André Gorz, zu dessen kürzlichen Tod Stefan ja schon einen Beitrag schrieb, hatte einen langjährigen Briefwechsel mit Franz Schandel und Andreas Exner von den Streifzügen. Diese haben jetzt Auszüge daraus veröffentlicht. Die sind sehr interessant und einige Passagen sind inbesondere für unsere Keimformproblematik interessant. Diese gebe ich hier mal als Auszüge der Auszüge wieder:
„Weiter: Warum [bei A.G. unterstrichen] ist ein Rückgriff auf keynesianische Umverteilungs- und Fiskalpolitik ausgeschlossen und machen wir uns über die Leute lustig, die behaupten ‚Geld ist genügend da‘? Wir haben da ein kitzliges Problem. Wir müssten beweisen, dass keynesianische Politik unmöglich ist, um den Glauben zu zerstören, dass sich der Kapitalismus doch noch retten ließe. (In FN: Der Beweis der ökonomischen Unmöglichkeit bleibt weiter aus. In einer Überakkumulationskrise sollte doch keynesiansiche Umverteilung viel leichter sein. Ein Hindernis, das ihr entgegensteht, sind die ‚politischen Machtverhältnisse‘, die globale Macht des überakkumulierten Geldes. Oder nicht?) Wir wollen ihn weder retten noch sozialpolitisch stärken. Wir wollen, dass sein zukünftiger Zusammenbruch der Sinn, das Ziel, der Horizont unserer Handlungen sei. Aber wir dürfen zugleich nicht all die Menschen entmutigen und vor den Kopf stoßen, die gegen den Sozialabbau und die private Kapitalisierung des Gemeinwesens Widerstand leisten (wollen).
Da haben wir wieder die Antinomien, die in den 50er-Jahren die europäischen KPs fähig machten, Massen zu mobilisieren, aber damit nichts anzufangen wussten, die Aktionen müssen hoffnungsreich erscheinen, um stattzufinden, und hoffnungslose erscheinen, um sich zu radikalisieren. In den späten 50er-Jahren fand ich mit den ‚revolutionären Reformen‘ einen Ausweg aus dieser Klemme. Dafür gibt es heute keine Vorbedingung mehr. Die einzige ausgesprochen antikapitalistische Bewegung, die sich effektiv in einen frontalen Konflikt mit der Kapitallogik umzusetzen versteht, ist die Freie Software-Bewegung (zum Teil zumindest). Ob Selbstversorgungskooperativen sich zu einer Bewegung entwickeln können, bleibt noch fraglich (ich war erleichtert zu sehen, dass sie Norbert Trenkle 1995 nicht prinzipiell verworfen hat; und Hildebrandt Jahre später auch nicht.)
Die Zukunft sollte der Umsonst-Ökonomie gehören (Existenzgeld als Umsonst-Geld begreifen weist geradezu auf eine geldlose Umsonst-Ökonomie hin), ich möchte glauben, dass wir in den nächsten [Jahren] immer von ihr hören werden. Deshalb scheint mir Deine Metakritik so wichtig und dringend.“ (11/2004)
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„Die Weise in der Ernst Lohoff den anti-ökonomischen Begriff des ‚wahren‘, d.i. ’sinnlich-stofflichen‘ Reichtum ausarbeitet, gefällt mir … sehr. Ist er sich der Kluft bewusst, die sich zwischen seinen Beiträgen zu den Streifzügen Nr. 32 und 34 auftut? In Nr. 32 schreibt er:
‚Eine Emanzipationsbewegung kommt nicht umhin, diesem traurigen Umstand Rechnung zu tragen. In Sachen Reichtumsproduktion ist sie aufgerufen, gesellschaftlichen Reichtum vor der Kommodifizierung und Monetarisierung zu bewahren und kommodifizierten und monetarisierten Reichtum zu dekommodifizieren und zu demonetarisieren. Solange aber ein Großteil des gesellschaftlichen Reichtums indes Warengestalt annimmt, muss sich ihr Augenmerk natürlich auch darauf richten, wie mensch selbst im dekommodifizierten Zustand doch zum notwendigen allgemeinen Äquivalent, alias Geld, kommt. Das Offensivprojekt Dekommodifizierung der gesellschaftlichen Reichtumsproduktion ist ohne ein parallel geschaltetes Defensivunternehmen gar nicht zu denken, das die Geldversorgung der im kapitalistischen Sinne Überflüssigen sicherstellt und ihnen einen hinreichenden Zugang auch zum Warenreichtum ermöglicht. Nur in dem Maße, wie gesellschaftlicher Reichtum tatsächlich frei zugänglich wird, entkoppelt sich die Frage des Auskommens vom Einkommen und erübrigen sich alle monetären Verteilungskämpfe auf dieser Ebene.
Dieses Defensivunternehmen knüpft, zumindest in den Metropolen, natürlich an den Sozialstaat an. Genauer gesagt, es kann nur Konturen annehmen, indem soziale Bewegungen sich gegen die derzeit auf Hochtouren laufenden Angriffe auf das traditionelle Zwangssozialversicherungswesen und ihr Ergebnis formieren.‘ (Streifzüge 32, S. 20)
In Nr. 34 (zum Konzept des Grundeinkommens) ist davon nicht mehr die Rede. Oder behandelt er im zweiten Teil das Problem des Übergangs (Transition), dessen Wichtigkeit er in Nr. 32 hervorhebt? Ist er denn so sicher, dass es keine Form des Grundeinkommens in den nächsten Jahren geben wird – bzw. jetzt schon in mehr oder minder heimlicher Form (Niederlande, Dänemark, Frankreich) gibt?
Das Gespräch mit Franz Nahrada (Streifzüge 34, S. 18-22) hat mich begeistert. Da werden mehrere Fäden verknüpft. Da erscheint die Lösung des Problems des Übergangs in der Dynamik liegen zu können, mit der die HighTechEigenProduktion sich entwickelt und ausbreitet, hegemonial zu werden beansprucht und die Warenbeziehungen überrundet.
Fritjof Bergmann ist auf theoretischem Gebiet ganz ungebildet, er hat von Marx und Sozialismus die Vorstellung eines US-amerikanischen Kleinhändlers, scheint mir stark katholisch geprägt, aber eben seine Ungebildetheit und Unkenntnisse befähigen ihn, gegen das Lohnverhältnis der Verschwendungen und Verwüstungen und Erniedrigungen der Warengesellschaft wütig herzuziehen und praktische Ansätze einer radikalen Alternative zum Kapitalismus zu finden. Er wendet sich an einfache, aufrichtige Menschen, überzeugt sie, dass er sie versteht und sie ihn verstehen müssen. Die Ausführungen über die Armut der Begierde sind wunderbar. Aber 400 Seiten sind zuviel (für Intellektuelle wenigstens).‘ (8/2005)
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“ Ich habe schon früher bemerkt, dass für Dich wie auch für Stefan Meretz aller Mangel behebbar ist. Daran glaube ich nicht. Das würde voraussetzen, dass alles Nötige in ausreichenden Mengen erzeugbar ist. Nun, wo das nicht der Fall ist, ist Geld das falsche Verteilungsmedium: Es würde allein den Tauschwert der Mangelgüter in die Höhe treiben. Das richtige Verteilungsmedium wären Gutscheine. Du hast die Rationierung alles Lebensnotwendigen in der (Nach)Kriegszeit nicht erlebt. Dank ihr gab es endlich die Gleichheit – gleiche materielle Rechte – aller (sofern kein schwarzer Markt da war, und den gab es in England nicht).
Wie immer stellt sich für die Abschaffung der Geld- und Warenbeziehungen die Frage des Übergangs. ‚Wenn genug da ist für alle…‘, schreibst Du. Aber wird genug da sein für alle, wenn die Warengesellschaft zusammenbricht? Wenn die Produzenten nicht mehr Waren ihres Geldwerts zuliebe erzeugen können, werden sie weiter Güter im heutigen Ausmaß erzeugen? Oder werden sie dafür sorgen, dass es nur noch Mangelwaren gibt, die einen überhöhten Tauschwert erreichen? Das hatten ‚wir‘ bis in die 50er-Jahre in Frankreich und Deutschland.
‚Was gilt es zu ermöglichen und zu garantieren?‘, schreibst Du, ‚das Leben oder das Kaufen?‘ That’s the question. Die einen kaufen sich ihr Leben, die anderen verkaufen es, um – paradoxerweise – nicht zu krepieren. Wie können wir die Überlegenheit einer Gemeinwohlökonomie praktisch beweisen? Bevor es zu spät ist?“ (10/2005)
Die Nachkriegsjahre als Keimform? Da können wir wohl nicht mehr mitreden, fürchte ich. Generell bin ich skeptisch gegenüber den Potentialen einer solchen Mangelverwaltung. Aber das klingt sehr so, als hätte er Christians Buch mit Interesse gelesen.
„Man kann den Kapitalismus nicht heimlich abschaffen, ohne dass er das gleich erkennt.“ (1/2007)
Hoffentlich wird das dann nicht blutig enden.
„Lieber Andreas, ich bemerke, dass Sie 50 Jahre jünger sind als ich, gerade geboren waren, als Illich in ‚Technologie und Politik‘ Nr. 1 einen 1972 verfassten Text veröffentlichte, der mich begeistert hat. [Ivan Illich: Ansatz zu einer radikalen Kritik des Industriesystems, Technologie und Politik, aktuell-Magazin Nr. 1, S. 3-11, Rowohlt, 1975 (hg. von Freimut Duve). André Gorz war Mitarbeiter dieser Zeitschrift.] Seither habe ich auch viel Blödsinn geschrieben, zuletzt (1996) über Tauschkreise. Viel zu spät habe ich die „Wertkritischen“ entdeckt, das verdanke ich Stefan Meretz.
Für krisis 19 muss ich mich noch einmal bedanken. Dass die Überwindung des Kapital-/Warenverhältnisses damit beginnen kann, Gebiete dem Kapitalismus zu entziehen und in ihnen selbstorganisierte Selbstversorgung jenseits von Markt und Geld zu betreiben und von den entzogenen Gebieten stromaufwärts andere, komplementäre zu besetzen, erinnert mich an den schwedischen Meidner Plan. Die Frage ist: Wie lange werden sich das die herrschenden Mächte ansehen? Bergmann hat die Frage aufgeworfen. Norbert Trenkle auch (in krisis 15). Machbar dürfte dieser ‚lange Marsch‘ nur in Situationen des Zusammenbruchs sein, wenn bereits Kristallisationskerne einer Antiökonomie bestehen. Immerhin – der Kurz-Essay in krisis 19 bekräftigt mich in der Meinung, dass die Trennung zwischen Produktion und Konsumtion – Produzenten und Konsumenten – das größte Hindernis auf dem Weg aus dem Kapitalismus hinaus ist. Was ich diesbezüglich geschrieben habe, gibt es nur auf französisch und z.T. englisch.“ (6/2007)
Viel zu früh gestorben. Ich hätte ihn gerne mal kennengelernt.
@Benni:
Ja, ich auch. Fast hätte ich ihn und seine Frau Dorine im Frühjahr besucht, aber dann ging es Dorine sehr schlecht. Wir hatten einen über vier Jahre gehenden Briefwechsel, in dem wir sehr intensiv verschiedene Fragen diskutierten. Zum einem Nachlass könnte ich also auch einiges beisteuern. Briefschreiben, das war Andrés Medium. Wenn er mal im Internet recherchieren wollte, ging er zu einem Freund. Bis zuletzt war er immer sehr interessiert an Neuem, nie wirkte er abgeklärt und „fertig“. Ganz vorsichtig seine Skepsis formulierend hat er mich das mit dem „Mangel“ im letzten Brief gefragt — ich konnte ihm meine Sicht nicht mehr erklären.