Was kritisches Denken von FOSS Projekten lernen kann

Von seinen Anfängen an hat FOSS vom Wissen(schaft)sethos der Aufklärung gelernt: Frei soll er sein, der Code/Gedanke, und gemeinsam mit Peers wird er entwickelt. Kritische Denker und Denkerinnen sind ebenfalls diesem Erbe verpflichtet. Ich meine, dass nun die Zeit gekommen ist, in der sich diese von den PragmatikerInnen, die in FOSS Projekten Wunderbares schaffen, inspirieren lassen sollten. Probehalber und auch als Beitrag zu der jüngeren Debatte ueber Dorftratsch und das Keimform-Forschungsprojekt lege ich hier einige Thesen vor, wie diese Inspiration aussehen könnte.

1.
Given enough eyeballs, all problems are shallow: Der einsame Denker ist in den meisten Fällen eine tragische Figur, auf den Adornos Verdikt ueber den Autodidakten zutrifft: sein Wissen hat immer etwas Einseitiges und Schweres. Ziel kritischen Denkens ist trotzdem nicht Quantität, sondern Qualität durch gemeinsames Denken.

2.
Kannst du kein Ganzes sein, so schliesse dich einem Ganzen an. Im übertragenen Sinne sind Texte, die sich um (derzeit modische) „GrosstheoretikerInnen“ gruppieren, bereits bestehende erfolgreiche Projekte, denen man sich anschliessen kann. Die Vorteile liegen auf der Hand: Man bekommt Gesprächspartner und die eigenen Beiträge sind Beiträge zu ‚etwas Grösserem‘. Findest du kein Projekt, das dem deinen entspricht, dann versuche zunächst einmal Leute zu finden, denen es ebenso geht, dann könnt ihr immernoch zusammen forken (wie weiland die Linkshegelianer). Wenn das nicht möglich ist, dann kannst du/ihr dein/euer eigenes Projekt aufmachen.

3.
Hast du (1) letztere Option gewaehlt, so sei einE wohlwollendeR DiktatorIn. Deine Gedanken werden aufgenommen und weiterentwickelt wenn

  • sie einen gemeinsamen Juckreiz stillen. Das können gemeinsame theoretische Probleme sein, aber auch Gefühle und Begierden, die von anderen geteilt werden. Ob das der Fall ist, entscheidest nicht du, es wird mit den Füßen abgestimmt.
  • andere ein Gefühl der Teilhabe bekommen, d.h. wenn ihre Beiträge von dir positiv aufgenommen werden. Du musst nicht alle Beiträge aufnehmen, letztlich bestimmst du die Richtung – mach dich aber darauf gefasst, dass du allein bleibst, wenn du zu keinen Kompromissen bereit bist.
  • die Einstiegshürde nicht zu hoch ist. Versuch nicht ein perfektes Ganzes zu schaffen, deine Schwächen sind die Stärke deiner MitstreiterInnen.
  • du deinen Nutzern zuhörst. Das hat nichts mit beliebiger Willfährigkeit zu tun, vielmehr gilt es fuer eine von dir selbst gewählte Gruppe nützlich zu sein und diese Gruppe als Ressource wahrzunehmen.

4.
You should believe in rough consensus and running code: Ultimates Ziel ist nicht das perfekte Luftschloss, sondern ein Haus, in dem verschiedene (=rough consensus), wenn auch nicht beliebige (=rough consensus) Leute wohnen können und wollen (running code). Scheu dich auch nicht davor, eklektizistisch Gedanken, Beobachtungen und Argumente von anderen zu uebernehmen. Solange du vermutest, dass sie das Ganze verbessern, sind keine Referenzen tabu. Noch ist tabu, Bestände zu opfern, wenn sie sich als Hemmschuh erweisen. Deine Aufgabe ist, deine und die Beiträge anderer zu einem sinnvollen Ganzen zu verbinden. Nicht ist deine Aufgabe, die Reinheit des Gedachten zu überwachen.

5.
Wer die Arbeit tut, wer viel Zeit reinsteckt und unermuedlich ist, hat Autoritaet ueber das Projekt und seine Richtung. Andere Statusmerkmale, wie Doktorgrade, alte Rechte (2) und so weiter sind irrelevant. Jeden Tag aufs neue entscheidet sich, ob das Projekt deins bleibt oder ob es von anderen gekapert wird oder ob es gar im Unbedeutenden versinkt. Sei ein guter Verlierer, wenn es soweit ist, und tritt nicht beleidigt nach.
mfg snauth (aka thomasbe)

Fussnoten:

(1) Ich benutze im weiteren die Einzahl: Natürlich gibt es auch Maintainerteams.
(2) Zum Beispiel: „Ich war dabei, als das Projekt gegründet wurde, daher habe ich mehr Recht als du.“

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