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Commoning als strukturelle Solidarität

In der Zeitschrift „Außerschulische Bildung“ [1] erschien in der Nummer 1/2020 [2] ein Beitrag von mir über

Neue Formen von Solidarität und Solidarisierung

Solidarität wird hochgelobt und häufig praktiziert. Sie kommt als Anrufung – und kann allzu leicht ignoriert werden. Sie bezieht sich auf Gemeinschaften, deren Gemeinsames jeweils Anderes ausgrenzen kann. Wie kann Solidarität trotz der Freiwilligkeit verallgemeinert werden und strukturelle Grundlagen bekommen? Das Commoning erweist sich als eine verallgemeinerbare Praxis, die alle Ansprüche von Solidarität enthält und sie als Extra-Veranstaltung für Hilfsbedürftige überflüssig macht.

Solidarität

Im Jahr 2002 überflutete die Elbe große Gebiete. Viele Häuser wurden mitgerissen, Schlammlawinen begruben Infrastrukturen und Gärten. Woran erinnern sich die Menschen heute? Erstaunlicherweise zählen sie meist nicht die Kosten auf und die Verluste, sondern berichten über die Stimmung, die alle überwältigte, denn alle halfen einander und erhielten auch von außen vielerlei konkrete Hilfe und Unterstützung. Rebecca Solnit (2009) berichtet Ähnliches von Katastrophen aus aller Welt. Entgegen der Erwartung, im Katastrophenfall wäre jeder Mensch nur sich selbst der Nächste, berichten die meisten Katastrophenerfahrenen davon, dass Selbstlosigkeit, Besonnenheit und ein neuartiges Miteinander aufblühten – zumindest solange, bis technikfixierte und politisch „von oben herab“ organisierte Hilfeleistungen die sich selbst organisierenden Strukturen scheinbar überflüssig machen oder gezielt zerstören. Rebecca Solnit erfuhr von den Betroffenen, wie ausgerechnet in unglücklichen Situationen sich ein Fenster in Richtung sozial-kooperativer Möglichkeiten öffnet, das sonst fest verrammelt scheint.

Die Praxis der Hilfeleistung ist wertvoll genug. Aber Hilfe kann leicht demütigend für die Empfänger*innen sein, und sie kann jederzeit entzogen werden. Angesichts der weltweit ständig wechselnden Katastrophenorte wechseln die Adressaten der Spendenaufrufe fast täglich und weil ich nicht jemanden bevorzugen will, könnte ich dazu neigen, diese Anrufe an mir abprallen zu lassen. Ich und auch niemand anders kann allen helfen, die es nötig hätten. Damit sind wir auch schon bei einem Problem, das auch der Solidarität anhaftet. Solidarität kann über reine Hilfeleistungen, die die Opfer in ihrem Opferstatus als Objekte meiner Zuwendung bestätigt, hinausgehen. Hilfe wird dann zur Solidarität, wenn jene, denen die Solidarität gilt, als selbstbestimmte Akteure handeln können und sich Menschen gegenseitig in dieser Rolle bestätigen und bestärken. Diese Rolle bekam „Solidarität“ erst in der Neuzeit; traditionell ging es eher darum, was Menschen einander „schulden“. Im römischen Schuldrecht hafteten Mitglieder einer Gemeinschaft nach dem Grundsatz „obligatio in solidum“ (Schuld für das Ganze) für die Gemeinschaft und diese für die Mitglieder. Diesem Begriff entsprechen heute noch die Versicherungen. Die Quelle des Begriffs enthält zwei Merkmale, die heute jedoch für manche Verwendungszwecke des Begriffs „Solidarität“ auch als problematisch angesehen werden können: Erstens hat Solidarität damit den Aspekt einer Pflicht, also etwas normativ der Entscheidung eines einzelnen Menschen Vorgegebenem, und zweitens bezieht sie sich auf eine konkrete Gemeinschaft und schließt damit andere Menschen aus. Dieses Manko hat auch eine Berufung auf die „Brüderlichkeit“, das auch durch die Ergänzung mit „Schwesterlichkeit“ nicht aufgehoben wird, denn die Solidarität bleibt innerhalb der Familie. Die häufigsten Begriffsbestimmungen von „Solidarität“ halten diese innerhalb eines bestimmten „Wir“. So definiert etwa Kurt Bayertz eine „Gemeinschafts-Solidarität“ als „Inbegriff der wechselseitigen Bindungen und Verpflichtungen (…), die zwischen einer Gruppe von Menschen bestehen“, die „durch gemeinsame Lebensbedingungen, gemeinsame Überzeugungen, gemeinsame Werte etc. getragen“ werden (Bayertz 1998, S. 49).

Das Ganze des gemeinsamen „Wir“ kann natürlich auch auf die gesamte „Menschheitsfamilie“ ausgedehnt werden. Dieses „kann“ ist aber prekär. Es ist nicht von vornherein gegeben, sondern muss ständig aktiv herausgefordert werden. Gruppensolidarität kann auch zu Gruppenegoismus werden, worauf u. a. Friederike Habermann (2011) aufmerksam macht. Der Bezug auf ein solidarisches „Wir“ erzeugt automatisch die ausgeschlossenen „Anderen“. Bei einer Kampf-Solidarität, bei der „einem anderen Individuum oder einer anderen Gruppe bei der Durchsetzung seiner oder ihrer Rechte“ (Bayertz 1998, S. 49) geholfen wird, sind jene, die um ihre Rechte kämpfen, und jene, die sie ihnen vorenthalten, natürlicherweise getrennt. Aber einen Ausschluss gibt es auch in anders gemeinten Kontexten: In der New Yorker Erklärung für Flüchtlinge und Migranten sind die Solidarischen und Unterstützenden geschieden von Flüchtlingen und Migranten und diese beiden Gruppen noch einmal voneinander. Wenn die Solidarität sich an Ausgeschlossene richtet, ohne ihren Ausschlussstatus aufzuheben, dann haben wir es mit einer „Stellvertreter-Solidarität“ (Mathwig 2018, S. 3) zu tun.

Außerdem bezieht sich die New Yorker Erklärung für Flüchtlinge und Migranten lediglich auf jene, die „aus Gründen, die sich ihrer Kontrolle entziehen, mit ihren Familien ihre Heimat verlassen müssen“ (2016, Punkt 4 der Einleitung) und schließt wiederum die Anderen aus.

Friederike Habermann zielt deshalb auf eine „identitätsübergreifene Solidarität“ (Habermann 2011, S. 35) und fragt: „Wenn es Solidarität nicht ist, was auch die ‚Anderen‘ einbezieht, dann gibt es hierfür kein Wort. Aber kann das wahr sein? Können wir Solidarität jenseits einer Interessengemeinschaft noch nicht einmal ausdrücken?“ (Ebd., S. 7)

Es mag möglich sein, den Begriff der „Solidarität“ als menschheitsübergreifende Solidarität neu zu bestimmen. Solidarität würde dann etwa das Konkrete ausdrücken, was dem abstrakten Begriff der Gerechtigkeit noch abgeht. Denn Gerechtigkeit bezieht ihre Bestimmung aus dem „unüberbietbare(n) inklusiven Charakter mit universeller Geltung“ (Mathwig 2018, S. 3).

Was dem Begriff Solidarität aber weiterhin anhaftet, ist ihre prekäre Verwirklichung (Menschen können oder können sich nicht solidarisch verhalten) und die auch für universell gemeinte Solidaritätspraxen jederzeit mögliche Rückfallebene in ausschließende „Wir“-Gemeinschaften.

Commoning als strukturelle Solidaritätspraxis

Friederike Habermann verweist auf die Erweiterungsperspektive: „Solidarität könnte für die Zukunft zu einem Begriff werden, der die Form eines neuen gesellschaftlichen Zusammenlebens umschreibt, die weder auf individuellen Egoismen beruht noch auf Kuschelrunden oder Gemeinsamkeiten, die aber von struktureller Gemeinschaftlichkeit (Stefan Meretz) geprägt ist.“ (Habermann 2011, S. 4) Wo finden wir nun eine solche „Strukturelle Gemeinschaftlichkeit“, die von vornherein universell und nicht prekär wäre?

Bisher hatten wir die Akteure als voneinander trennbar unterstellt. Wenn der potenzielle Empfänger meiner Hilfe oder Solidarität diese nicht erhält, berührt das höchstens mein moralisches Schuldgefühl, aber ansonsten macht es mir nichts aus. Tatsächlich jedoch ist jeder Mensch mit allen anderen verbunden. Ganz schwach merke ich das daran, dass sich mein Gewissen durchaus meldet, wenn ich es nicht unterdrücke oder mir diverse Entschuldigungen ausdenke, warum ich nicht verpflichtet sei, mich auch dafür verantwortlich zu fühlen. Aber auch ganz praktisch sind meine Existenz und auch meine Existenzerhaltung mit jeder Faser von dem Leben und der Aktivität anderer abhängig. Diese Praxis gilt es transparent zu machen. Wenn wir unser Tun, vor allem auch das, was jetzt „wirtschaftlich“ genannt wird, wirklich unserem menschlichen Wesen nach bewusst durchführen würden, könnten wir die Verbindungen zu allen anderen nicht mehr übersehen. Ich würde beim Erhalt meines Computers, mit dem ich diesen Text schreibe, nicht ein Preisetikett gesehen haben, sondern einen Link auf alle ökologischen Ressourcen, die dafür verbraucht wurden und zu allen Menschen, die mit der Erarbeitung zu tun hatten und wie es ihnen geht. Erst dann könnte mein Gewissen wirksam werden, weil ich erst dann entscheiden könnte, ein Produkt, an dem von mir nicht verantwortbare ökologische oder soziale Opfer hängen, nicht haben zu wollen. Im Produkt der Tätigkeit vieler, dem Ding, könnte ich dann ihr Tun und ihr Erleben sehen.

Im Bergkäse von bestimmten Schweizer Sommerweiden steckt z. B. die Praxis, dass die Weiden nicht im Privatbesitz genutzt werden, sondern Gemeineigentum darstellen und die Einwohner*innen der entsprechenden Dörfer sich selbstverwaltet um deren Nutzung kümmern. In den Früchten von Ländereien um Valencia steckt Wasser, dessen Bewirtschaftung ebenfalls eine Praxis der gemeinschaftlichen Selbstorganisierung realisiert. Solche Beispiele sammelte Elinor Ostrom (1999), als sie untersuchte, wie kooperative Praxen auch bei knappen Ressourcen langfristig zum Wohlergehen von Gemeinschaften führen, ohne dass sie marktwirtschaftlich damit umgehen oder einer übergeordneten Verwaltungsebene (Staat mit oder ohne Planung – „Öffentliches“ bzw. Planwirtschaften) unterworfen sind. Unter dem Begriff der „Commons“ und des „Commoning“ werden seither „lebendige soziale Strukturen, in denen Menschen ihre gemeinsamen Probleme in selbstorganisierter Art und Weise angehen“ (Helfrich/Bollier 2019, S. 20) verstanden. Selbst-Organisierung schließt die „unsichtbare Hand“ eines Marktes aus und auch eine obrigkeitsstaatliche Planung. Während die Commonsforscher Simon Sutterlütti und Stefan Meretz ganz grundsätzlich als notwendige Bedingungen für ein Commoning „Freiwilligkeit und kollektive Verfügung“ (Sutterlütti/Meretz 2018, S. 160 ff.) betonen, gingen Silke Helfrich und David Bollier von real existierenden Commons aus und entnahmen diesen Praxen Wissen über typische „Muster“ des Commoning, also den dabei „bewährten Verfahren zur Lösung typischer Probleme, die bei gestalterischen Tätigkeiten in einem bestimmten Anwendungsgebiet auftreten“ (Wikipedia: Mustersprache ). Bereits Elinor Ostrom beschrieb z. B. Allmende-Praxen, bei denen Wasser auf der Basis einer Absprache und Kontrolle durch die Gemeinschaft auf einzelne Felder verteilt wird (wie bei Valencia). Das hier verwirklichte Muster vereint das „Poolen“, also das Zusammenlegen der Ressource für alle (des Wasserzuflusses) mit dem „Deckeln“ (der Begrenzung der Entnahmemenge) und schließlich dem „Aufteilen“ unter alle Beteiligten. Die Regelungen werden in ihrer letzten Konkretheit letztlich von den Beteiligten, den Commoners, selbst erstellt (z. B. über die Kontrolle und die Sanktionierung von Übertretungen). Aber die Erfahrung zeigt, dass mit diesem Muster („Poolen, Deckeln und Aufteilen“) knappe Wasserressourcen langfristig und für alle Beteiligten zufriedenstellend selbstverwaltet werden können und steht nun als systematisch erfasste Erfahrung anderen zur Verfügung, ohne dass es ein verpflichtendes abstraktes Prinzip wird.

Ein anderes Beispiel ist die Solidarische Landwirtschaft. Dabei wird eine bäuerliche Gemeinschaft in ihrer Existenz durch die Nutzenden abgesichert (es wird Geld zusammengelegt, bis die jährlichen Kosten der Erzeugungsgemeinschaft vorgestreckt sind), die dann Zugang zu den Produkten erhalten. Es gilt das Grundmuster: „Entkoppeln von Geben und Nehmen“, denn das Erhaltene hängt nicht direkt (etwa noch „adäquat“) mit dem Gegebenen zusammen. Außerdem gilt das Muster „Das Produktionsrisiko gemeinsam teilen“ (Helfrich/Bollier 2018, S. 26). In ihrer Masterarbeit erläutert Silke Helfrich (2018), wie es weitergeht, wenn die Kartoffeln nicht für alle Nutzer*innen ausreichen. Eine benachbarte Demeter-Bäuerin will dann z. B. auch ihre nicht verkauften Kartoffeln nicht einfach wegschenken. Der Dialog mit ihr zeigte, dass es ihr um die Anerkennung ihrer Arbeit geht und die Möglichkeit, selbst über ihre Produkte entscheiden zu können. Obwohl die Solidarische Landwirtschaft dann die Kartoffeln zukaufen musste (unter Beachtung des Musters „Commons & Kommerz trennen“), wurde in der Kooperation mit der Bäuerin das Muster „Gegenseitigkeit behutsam ausüben“ erfolgreich praktiziert, weil das gegenseitige Verständnis sich vertieft hat.

Dieses Beispiel zeigt, dass die Commons-Muster natürlich erst einmal primär innerhalb der Commoning-Gemeinschaften gelten. Sie sind aber keine Verpflichtung, sondern ständig gelebte und variierte Beziehung zwischen den Menschen. Sie ermöglichen tendenziell auch eine Ausweitung über viele Gruppen hinweg bis zu einer gesamtgesellschaftlichen Verallgemeinerung. Insofern das Commoning „eine bestimmte Art (zu) handeln, vor(zu)gehen“ (was griechisch mit -izein gebildet wird) meint und kein Dogma, ist sicher auch die Substantivierung „Commonismus“ für diese gesellschaftliche Verallgemeinerung angemessen.

In verallgemeinerter Weise beruht dann die Existenzsicherung jeder einzelnen Person strukturell und praktisch auf der bewusst geregelten Kooperationstätigkeit aller. Für diese Regelung können auch beliebig komplexe technische Mittel genutzt werden (so das Internet bei der Erstellung z. B. von Freier Software und Creative-Commons-Kulturgütern oder der Organisierung von Kooperation); aber die Entscheidungen obliegen den beteiligten Menschen. In historischen Commons gibt es für die Commoners viele Pflichten, der Tendenz nach soll das Prinzip des Commoning aber auf Freiwilligkeit beruhen. Dies ist dann möglich, wenn jedem Menschen allein durch seine Existenz (jeweils konkret mit anderen verabredete) Verfügung über die gesellschaftlichen (Lebens- und Produktions-)Mittel zusteht und keine privaten Eigentumsverhältnisse dies verhindern. Niemand kann dann zu etwas gezwungen oder erpresst werden – aber alle wissen, dass auch sie niemanden zwingen können, etwas für sie zu tun. Gleichzeitig gilt das UBUNTU-Prinzip, also „Ich bin, weil du bist“ bzw. „Du bist weil wir sind“. Unter diesen Bedingungen (vgl. Sutterlütti/Meretz 2018) können sich die Muster des Commoning voll entfalten (und jene, die mit dem derzeitig noch vorherrschenden „Kommerz“ zurechtkommen müssen, entfallen). Dies klingt wie eine gute Weise zu leben, an einem „gutem Ort“ (Eu-Topie).

Reales Commoning als Keimform verallgemeinerter Solidarität

Aus dieser „eutopischen“ Sichtweise heraus ist bereits in real existierenden Gemeinschaften und Projekten des Commoning so etwas wie eine Keimform dieses guten Lebens zu entdecken. Noch sind die meisten für das Leben aller notwendigen Ressourcen nicht in allgemeiner kollektiver Verfügung. Freiwilligkeit jedoch kennzeichnet auch die schon vorhandenen Commoning-Praxen. Viele davon beschreiben etwa Silke Helfrich und David Bollier (2018). Es beginnt manchmal bei einfacher konkreter Hilfe und Unterstützung, etwa im Pflegebereich. Im günstigsten Fall wird z. B. gute Pflege so verstetigt, das sich wie in den Niederlanden ein Kollektiv zusammen findet, bei dem selbstverwaltete hochqualifizierte Teams sich um Pflegebedürftige einer Nachbarschaft kümmern und ihre Aufgabe darin sehen, sich durch die Stärkung der von ihnen betreuten Menschen eher wieder überflüssig zu machen (vgl. ebd., S. 23).

Menschen in der Kooperative Cecosesola in Venezuela taten sich einst zusammen, um ein für sie vom Markt nicht befriedigtes Bedürfnis zu befriedigen: die Beerdigung. Inzwischen gibt es einen Verbund von Genossenschaften, in denen 20.000 Menschen viele ihrer Grundbedürfnisse (Lebensmittel, Gesundheitsversorgung …) befriedigen, wobei sie den offiziellen (für sie nicht gut funktionierenden) Markt „ignorieren“ (ebd., S. 176). Einerseits zeigt dieses Beispiel, wie commonsartige Praxen im Fall des Versagens der herrschenden Ökonomie einspringen können, andererseits kann man an ihm auch die besonderen Probleme solcher Projekte erkennen, deren Lösungen nicht auf vorgefertigte Schemata zurückgreifen können, sondern die nur „fragend im Vorangehen“ entwickelt werden können.

Bei der schon erwähnten Solidarischen Landwirtschaft tragen alle Beteiligten etwas bei, sie unterliegen dabei keinen Zwängen. Bei solchen Projekten ist es auch hilfreich, wenn sich die Menschen nicht als „isolierte Monaden“ begegnen, sondern mitmenschliche Beziehungen entwickeln, die über die direkten Beiträge hinausgehen. „Rituale des Miteinanders“ wie gemeinsame Feste sind dann hilfreich (vgl. ebd., S. 101). Hier kommt eine Besonderheit der modernen Commons gegenüber den traditionellen zum Tragen: Die traditionellen Commons können auf den Effekt des langen Vertrauens und Sich-Kennens zurückgreifen. Bei den modernen neuen Commons dagegen muss dieses Vertrauen in die direkt miteinander verbundenen Anderen ebenso wie diejenigen, die man nicht kennt und kennen kann (z. B. bei globalen Commonsprojekten wie Freien Software Projekten) auf andere Weise hergestellt werden. Transparenz ist hier wesentlich und die Möglichkeit der Sanktionierung (s. u.) ist hier ggf. eher notwendig.

Um zu Entscheidungen zu kommen, werden üblicherweise keine nur quantitativen Stimmenauszählungen vorgenommen, sondern in den Aushandlungen der Optionen kommen alle mit ihren Bedürfnissen und Bedenken zu Wort und diese werden qualitativ gewürdigt. Als bessere Methode gilt z. B. das Konsent-Verfahren. Dabei „wird gezielt nach Einwänden gesucht, um all jene Ideen und Vorschläge sichtbar zu machen, die eine Vereinbarung verbessern könnten. Es wird also nicht der Vorschlag ausgewählt, dem die meisten zustimmen, sondern jener, gegen den es die wenigsten oder am wenigsten schwerwiegenden Einwendungen gibt“ (Helfrich/Bollier 2018, S. 133). Aber auch andere Methoden wie „systemisches Konsensieren“ (ebd., S. 134 f.) sind sinnvoll, solange sie dazu führen, dass „gemeinstimmig entschieden“ wird. In der Kooperative Cecosesola (in Venezuela) mit ca. 1.400 Beteiligten wird z. B. nie abgestimmt, aber es wird viel über die Kriterien gesprochen, an denen die Einzelnen dann jeweils ihr Handeln orientieren (vgl. ebd., S. 135).

In vielen Praxen kommt es gar nicht so sehr darauf an, dass alle Absichten und Wertvorstellungen der Beteiligten gleich sind. Dann kommt es darauf an, „sich in Vielfalt gemeinsam auszurichten“.

Bei der Aufteilung des Wassers nimmt sich kaum jemand zu viel, wenn dies nach selbstgesetzten Regeln kontrolliert und sanktioniert wird. Erfahrungsgemäß zeigt es sich, dass in den Gemeinschaften z. B. in Simbabwe weniger über Sanktionen nachgedacht wird, als vielmehr bessere Methoden des Umgangs zu finden, die weniger Probleme mit sich bringen. Mit der Demeter-Bäuerin hätte die Solidarische Landwirtschaft auch in eine größere Entfremdung rutschen können, wenn sie ihre Konflikte nicht „beziehungswahrend bearbeitet“ hätten.

Da derzeit die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse (insbesondere im Bereich der Produktionsmittel) die bedeutsamste Grenze für die Ausweitung von Commoning-Verhältnissen sind, muss gefragt werden, wie es sich damit bei den Commons selbst verhält. Menschen stehen immer in Beziehungen zueinander über ihre Beziehung zu Sachen. Über Privateigentum kann der Eigentümer allein verfügen, d. h. andere sind davon ausgeschlossen. Mit dem Gegenbegriff „Besitz“ ist eher verbunden, dass das Gut auch tatsächlich vom Besitzenden (wie eine Wohnung) benutzt wird (vgl. Habermann 2011, S. 43). Nutzergemeinschaften und Umsonstläden sind z. B. Projekte, die heutzutage dieses Prinzip des Nutzen-Besitzens praktizieren (insoweit die Dinge aus dem Umsonstladen nicht wieder als Privateigentum ausschließend verwendet werden, was zwar konzeptionell unerwünscht ist, aber praktisch natürlich nicht verhindert werden kann). Dass es im Mittelalter noch viel mehr Beziehungsformen zwischen Menschen in Bezug auf Sachen (also Eigentumsformen) gab, wie das dem Privateigentum nahe stehende „Allod“ in der Hufenverfassung der Dorfmark oder das dem Kriegerstand zugesprochene „Benefizium“ oder das „Folkland“ in England (das der König trotz der Vererbung nach Volksrecht zum frei veräußerlichen „bokland“ machen konnte), zeigt, dass eine bloße Zweiteilung in (Privat-)Eigentum und Besitz unzureichend ist. Was sich für das Verhältnis zwischen Menschen in Bezug auf Sachen im Commoning sagen lässt, ist aber, dass ihre Beziehungshaftigkeit dabei nicht aufgehoben werden darf. Beim Commoning geht es um die „Beziehungshaftigkeit des Habens“ (Helfrich/Bollier 2018, S. 140 f.)

Um einer häufigen Verwechslung vorzubeugen: „Gemein-Eigentum“ bezieht sich auf ein Rechtssystem, während „Commons“ darüber hinausgehend – wie oben erwähnt – „lebendige soziale Strukturen“ sind (ebd., S. 20 f.). An Stelle des Kaufens und Verkaufens treten vielfältige Praxen der Zuteilungen in Commons (vgl. ebd., S. 168 ff.): Was durch Nutzung nicht aufgebraucht wird, kann weitergegeben werden (z. B. in Umsonst„läden“), anderes (das Aufbrauchbare) muss geteilt werden (wie die Ernte in der Solidarischen Landwirtschaft). Geben und Nehmen bei diesen beiden „Sharing-“Formen kann entkoppelt oder auch gekoppelt sein. Im letzten Fall wird die Sache, um die es geht, entweder „umgelegt“ (alle tragen etwas bei und bekommen etwas zurück, weReales Commoning als Keimform verallgemeinerter Solidaritätnn auch nicht in adäquater Quantität), oder etwas wird zusammen getragen, also „gepoolt“, wie wir es im Wasserbeispiel schon hatten. Im Interesse der Beständigkeit einer Ressource kann ihre Nutzung auch „gedeckelt“ werden, was im Wasserbeispiel auch vorkam. Diese Strategien können, wie dort auch gezeigt, in verschiedenster Weise kombiniert werden.

In einer derart veränderten Eigentumsordnung kann die Herstellung der zum Leben und zur Produktion der Lebensmittel notwendigen Güter ebenso wie die Reproduktion im Sinne von Care-Tätigkeiten und reproduzierenden Tätigkeiten im Naturbereich neu organisiert werden. So kann z. B. „offenes globales Design“ in Form von Dateien im Internet mit „lokaler Produktion“ kombiniert werden wie im Open Source Ecology (OSE) Projekt (ebd., S. 186 f.). Hier werden Maschinen für Landwirtschaft und Bauwesen entwickelt und gebaut, die allerorts nachgebaut und genutzt werden können. Extrem wichtig werden solche Relokalisierungsprinzipien angesichts der umwelt- und klimabedingten Notwendigkeit, Materialverbrauch und Energieumsatz entscheidend zu senken.

In den folgenden Punkten werden einige der Problemfelder zusammen mit möglichen Lösungsmustern (nach Helfrich 2018, S. 81 f.) noch einmal zusammengestellt:

Menschen müssen also nicht erst durch rechtliche oder normative „Schuld“-Verhältnisse oder ausgrenzende „Wir“-Gemeinschaften (oder gar Geld oder Zentralplan) zusammen gebracht werden, um wechselseitig miteinander zu wirken. Solidarität im Sinne ihrer am weitesten reichenden Form, nämlich als die Menschheit umschließende (und sogar auf andere Zivilisationen ausweitbare) Praxis, kann sehr gut auf der Grundlage von Commoning durch die beteiligten Menschen selbst organisiert werden. Diese Art Solidarität „provoziert einen Bruch mit den bestehenden normativen Ordnungen. Sie stellt die geltenden Konstitutionsbedingungen des „wir“ in Frage, indem sie „wir“ auch auf solche Menschen und Gruppen ausdehnen will, die bisher nicht dazugehörten“ (Mathwig 2018, S. 2). Sie ist damit gleichzeitig eine Kampf-Solidarität gegen jene Verhältnisse, die diese Praxen derzeit noch an vielen Stellen verunmöglichen (privater Land und Wohnungsbesitz, Privateigentum an Produktionsmitteln) und erschweren.

Literatur

Bayertz, Kurt (1998): Begriff und Problem der Solidarität. Frankfurt am Main: Suhrkamp

Habermann, Friederike (2011): Solidarität wär ́ eine prima Alternative. Oder: Brot, Schoki und Freiheit für alle [3] (Zugriff: 10.01.2020)

Helfrich, Silke (2018): Lebensform Commons. Eine musterbasierte und ontologisch begründete Bestimmung (unveröffentlichte Masterarbeit)

Helfrich, Silke / Bollier, David (2019): Frei, fair und lebendig. Die Macht der Commons. [4] Transcript (Zugriff: 10.01.2020)

Mathwig, Frank (2018): Solidarität. Politisch-ethische Anmerkungen zu einer umkämpften Ressource [5] (Zugriff: 10.01.2020)

Ostrom, Elinor (1999): Die Verfassung der Allmende. Tübingen: Mohr Siebeck

New Yorker Erklärung für Flüchtlinge und Migranten [6] (2016) (Zugriff: 10.01.2020)

Solnit, Rebecca (2009): A Paradise built in Hell. The Extraordinary Communities That Arise in Disaster. London: Penguin Books

Sutterlütti, Simon / Meretz, Stefan (2018): Kapitalismus aufheben. Hamburg: VSA-Verlag [7] (Zugriff: 10.01.2020)