Es gibt kein 2-Grad-Ziel


Niedrigwasser am Rheinufer infolge der Hitzewelle 2018 (Quelle, Foto von TTC-Pencil, Lizenz: CC BY-SA)

[Voriger Teil: Heißzeit oder System Change]

Neben den bisher diskutierten Rückkopplungseffekten gibt es noch Kipppunkte, die durch die Erhitzung zum Kippen gebracht werden und dann die Erdoberfläche und -atmosphäre in gravierender und unumkehrbarer Weise verändern, ohne selbst notwendiger Weise zur einem weiteren Temperaturanstieg zu führen. Hier sind insbesondere mehrere Kipppunkte zu nennen, die zu einem massiven Anstieg des Meeresspiegels führen würden oder werden.

Ein solcher Punkt ist das komplette Schmelzen des Westantarktischen Eisschilds, das zu einem Anstieg des Meeresspiegels um 3,3 Meter führen würde. Der Kipppunkt, ab wann dies passiert, liegt wahrscheinlich schon bei einer Erhitzung von unter 2 Grad, dürfte also selbst dann auslösen, wenn die 2-Grad-Grenze des Pariser Abkommens eingehalten wird. Eine noch größere Eismasse ist der Grönländische Eisschild, der einen Großteil Grönlands bedeckt. Schmilzt dieser Eisschild, würde der Meeresspiegel um 7,2 Meter steigen. Der Kipppunkt, ab dem dieser Prozess unumkehrbar wird, dürfte bei einem globalen Temperaturanstieg von irgendwo zwischen 0,8 und 3,2 Grad liegen – der beste Schätzwert liegt bei 1,6 Grad (Quelle). Auch hier ist es also wahrscheinlich, dass der Eisschild „kippt“ und abschmilzt, selbst wenn die höhere Grenze des Pariser Abkommens noch eingehalten wird. Vielleicht hat der langsame, aber unaufhaltsame Prozess des Abschmelzens auch jetzt schon begonnen.

Auch ein Teil des sehr viel größeren Ostantarktischen Eisschild – das Wilkes-Subglazialbecken – scheint bereits instabil zu sein. Schmilzt das Eis in diesem Becken komplett, würde das weitere drei bis vier Meter Anstieg bedeuten. Insgesamt bedeutet dies einen Anstieg des Meeresspiegels um 13 bis 14 Meter, der sich wahrscheinlich schon nicht mehr verhindern lässt. Aber je stärker die künftigen Emissionen reduziert werden, desto langsamer wird er stattfinden. Im günstigsten Fall könnte der Schmelzprozess fast 10.000 Jahre dauern, wird jedoch weiterhin „business as usual“ gemacht, vielleicht nur einige hundert (Quelle). Was ein Meeresspiegelanstieg um etwa 13 oder mehr Meter bedeuten wird, kann man sich unter floodmap.net ansehen – die meisten Küstenstädte und -regionen und viele kleinere Inseln werden mittel- bis langfristig dem Untergang geweiht sein.

Daneben beinhaltet aber auch die Eisschmelze einen Verstärkungseffekt, der „Eis-Albedo-Rückkopplung“ genannt wird: Eis und Schnee reflektieren deutlich mehr Sonnenlicht ins All als Wasser. Schneebedecktes Eis reflektiert 90 Prozent der Sonnenenergie, Wasser hingegen nur 6 Prozent. Je mehr das Eis zurückgeht, desto mehr Energie wird verbleibt also auf der Erde und wird vom Wasser absorbiert, was ebenfalls zur Erwärmung der Ozeane und der gesamten Erdtemperatur beiträgt. Mir sind keine Angaben dazu bekannt, wie stark dieser Effekt die Erhitzung verstärken kann, doch ist er keinesfalls zu vernachlässigen – vielmehr spielt er beim regelmäßigen Wechsel zwischen Kaltzeiten (umgangssprachlich „Eiszeiten“) und Warmzeiten im aktuellen Eiszeitalter eine bedeutende Rolle (Quelle).

Eine Eiszeiteinheit mehr

Aber zurück zu den Rückkopplungseffekten, die besser bezifferbar sind: Wie im vorigen Artikel ausgerechnet, könnte die gesamte Verstärkungswirkung von nur vier Kipppunkten – Absterben von Regenwäldern und Taiga, Abschmelzen von Permafrost und Freisetzung von unterseeischem Methan – in den kommenden 300 Jahren ohne Weiteres 2 Grad betragen. (Und danach noch mehr, da insbesondere in den auftauenden Permafrostböden noch sehr viel mehr Kohlenstoff auf seine Freisetzung wartet.) Dieser zusätzliche Temperaturanstieg droht nach und nach – in größeren Teilen nicht mehr in diesem Jahrhundert, aber in den folgenden – zur direkt menschengemachten Erhitzung dazuzukommen. Zusammen mit den 2,4 Grad gemäß der aktuellen Selbstverpflichtungen ergibt dies eine Erhitzung vom um die 4,5 Grad.

Für genau diese globale Temperaturdifferenz hat der Comicautor Randall Munroe den Begriff „Eiszeiteinheit“ vorgeschlagen, weil die Temperatur während der kältesten Zeiträume der letzten Kaltzeit (umgangssprachlich Eiszeit) etwa 4,5 Grad unter den Werten des 20. Jahrhunderts lag. Damals (vor etwa 20.000 Jahren) waren große Teile Nordamerikas, Nordeuropas und Asiens von kilometerdicken Eisschilden bedeckt und der Meeresspiegel lag etwa 120 Meter tiefer als heute (Quelle).

Bei einer Erhitzung um drei, vier oder mehr Grad wären die Folgen ähnlich dramatisch, nur in umgekehrter Richtung. Die eine oder der andere denkt sich jetzt vielleicht: Na und? Die Menschheit hat schließlich auch die Kaltzeit überlebt, warum sollte sie also nicht auch mit der Heißzeit klarkommen? Dazu sind zwei Dinge zu sagen: Zum einen lebten damals nur ein paar Millionen Menschen auf der Erde (Quelle), weniger als ein Promille der heutigen Weltbevölkerung. Die Herausforderung heute und in Zukunft besteht aber darin, die Weltbevölkerung von acht – und zum Ende dieses Jahrhunderts vielleicht zehn – Milliarden Menschen am Leben zu erhalten. Das wäre unter Kaltzeitbedingungen unmöglich gewesen, und es dürfte auch unter Heißzeitbedingungen unmöglich sein.

In einer vier Grad wärmeren Welt wären große Teil der Tropen und Subtropen aufgrund von Hitzewellen mit hoher Luftfeuchtigkeit praktisch unbewohnbar, während sich in heute „gemäßigten“ Klimazonen lebensfeindliche Wüsten ausbreiten würden. Johan Rockström, der Leiter des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung (PIK), stellt fest, dass es schwierig ist, zu sehen, wie in solch einer Welt selbst nur vier Milliarden Menschen – die Hälfte der heutigen Weltbevölkerung – überleben könnten (Quelle). Laut den aktuellen Prognosen der UN ist bis zum Ende des Jahrhunderts aber eher ein weiteres Anwachsen der Bevölkerung auf zehn oder elf Milliarden zu erwarten. Wie sollten alle diese Menschen unter Heißzeitbedingungen überleben können? Darauf gibt es bislang keine Antwort.

Zum anderen sind die Heißzeitbedingungen, anders als frühere Kaltzeiten, ein radikaler Bruch mit klimatischen Bedingungen, die Millionen von Jahren auf der Erde herrschten. Vier Grad heißer war es auf der Erde zuletzt vor etwa fünf bis zehn Millionen Jahren (Quelle – siehe auch diese Grafik für einen Überblick über die Durchschnittstemperaturen der letzten 500 Millionen Jahre). Der Mensch, Homo sapiens, existiert aber erst seit etwa 300.000 Jahren (Quelle), und auch unsere ersten Vorläufer der Gattung Homo entwickelten sich erst vor etwa zweieinhalb Millionen Jahren. Egal wie lang man in der Geschichte der Menschheit zurückgeht: Kein Mensch hat jemals unter Heißzeitbedingungen gelebt. Bislang.

Der Klimaforscher Stefan Rahmstorf stellte schon 2013 fest: „wir sind dabei, uns weit aus dem Holozän“ – den stabilen Klimabedingungen der letzten 12.000 Jahre – „herauszukatapultieren“ und werden, „[w]enn wir diesen Trend nicht sehr rasch stoppen, […] unsere Erde am Ende des Jahrhunderts nicht mehr wiedererkennen“ (Quelle). Damals gab es das Pariser Abkommen noch nicht, aber bislang sieht es nicht danach aus, als ob die Selbstverpflichtungen gemäß dieses Abkommens diesen Trend stoppen könnten, selbst wenn sie eingehalten werden. Dafür wäre ein viel radikaleres Handeln nötig, das nicht innerhalb der nächsten zehn bis dreißig Jahre, sondern praktisch unverzüglich die Maßnahmen einleitet, die ich in einem früheren Artikel zusammengestellt habe.

Selbst damit wäre nach Jahrzehnten der weitgehenden Untätigkeit eine gewisse Portion Glück nötig, um ein Abrutschen des Weltklimas in eine Heißzeit noch zu verhindern, da einige der beschriebenen Verstärkungseffekte, etwa das Auftauen der Permafrostböden und das Schmelzen von Eismassen, schon jetzt in Gange sind und sich selbst bei einer sofortigen drastischen Reduktion der direkt menschengemachten Emissionen vielleicht nicht mehr stoppen lassen. Aber noch besteht eine Chance. In zehn oder zwanzig Jahren wird es diese Chance wohl nicht mehr geben.

Es gibt kein 2-Grad-Ziel

Der Klimawissenschaftler Hans Joachim Schellnhuber stellt fest, dass schon bei einem Überschreiten der 2-Grad-Grenze – ob direkt durch menschengemachte Emissionen oder indirekt durch überschrittene Kipppunkte– „die Welt, wie wir sie kennen, verschwinden [wird]. Nicht von heute auf morgen, aber in einem ungebremsten Klimawandel könnte es Jahrhunderte von Unruhen, Konflikten und verheerenden Katastrophen auf diesem Planeten geben.“ Im schlimmsten Fall, bei einem Anstieg der globalen Temperatur um fünf oder mehr Grad, könnte das „Projekt der menschlichen Zivilisation, das im Wesentlichen vor 12 000 Jahren begonnen hat, zum Ende komm[en]. Aus lauter Trägheit und Dummheit, könnte man sagen. Denn wir hätten alle technischen Möglichkeiten, das zu verhindern.“ (Quelle: Berliner Zeitung)

In einem anderen Interview kommentiert er, dass „[u]nsere Zivilisation […] aufgrund einer außergewöhnlichen Stabilität des Klimasystems in den letzten 11.000 Jahren“ entstanden ist, wir es aber „gerade darauf an[legen], diese Stabilität zu zerstören.“

Der australische Klimaforscher Will Steffen, erster Autor des im vorigen Teils zitierten Artikels, stellt fest, dass ein „Zusammenbruch der Zivilisation“ heute vielleicht schon „das wahrscheinlichste Resultat“ sei, weil der Menschheit womöglich nicht mehr genug Zeit bleibt, noch rechtzeitig umzusteuern und ihn abzuwenden. Er verdeutlicht dies mit dem Bild eines Schiffs auf Kollisionskurs mit einem Eisberg: „Wenn die [Besatzung der] Titanic merkt, dass sie in Schwierigkeiten ist und sie etwa fünf Kilometer braucht, um das Schiff zu verlangsamen und zu steuern, aber nur noch drei Kilometer vom Eisberg entfernt ist, dann ist sie bereits dem Untergang geweiht“ (Quelle – übersetzt).

Die Existenz von Verstärkungseffekten, die zum Teil schon heute greifen (wie der Albedo-Effekt und die Freisetzung von CO2 aus verbrennenden oder absterbenden Wäldern) heißt, dass es faktisch kein „2-Grad-Ziel“ gibt, das die Berechnung einer „sicheren Menge“ an Treibhausgasen ermöglicht, die die Menschheit noch freisetzen kann, ohne sich selbst den Boden unter den Füßen wegzuziehen. Denn das Risiko, dass aus den zwei Grad Erhitzung aus direkt menschengemachte Emissionen innerhalb von Jahrzehnten oder Jahrhunderten katastrophale drei oder vier Grad werden, ist einfach zu hoch. Man würde ja auch nicht in ein Flugzeug steigen, wenn die Chance, lebendig am Ziel anzukommen, nur 30, 50 oder selbst 70 Prozent beträgt. Was aber für das eigene Leben gilt, muss zweifellos auch für den Fortbestand der Zivilisation gelten.

Warum tut sich der Kapitalismus so schwer darin, die Grundlagen der Existenz der Zivilisation – und damit auch seiner eigenen Existenz – zu erhalten? Und was sind die Konsequenzen aus diesem Versagen? Darum wird es im nächsten Teil gehen.

[Fortsetzung: Wie die drohende Heißzeit mit den Kapitalmärkten zusammenhängt]

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