Konkrete und abstrakte Utopien

Utopien im Allgemeinen und dem Commonismus im Besonderen wird immer wieder Abstraktheit, Unerreichbarkeit, Wunschträumerei vorgeworfen. Friedrich Engels als auch Ernst Bloch haben diese Kritik paradigmatisch schon formuliert und Annette hatte die Kritik an unserem Entwurf von Commonismus (es gibt ja sicherlich auch andere) erprobt. Dieser Beitrag versucht diese Kritik nachzuvollziehen und utopietheoretisch fruchtbar zu machen. 

Kritik an (abstrakten) Utopien 

Schon Friedrich Engels hat in seinem Aufsatz „Der Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft“ mit Utopien abgerechnet. Die Utopistinnen waren für ihn keine Kleinigkeit: „Die Anschauungsweise der Utopisten hat die sozialistischen Vorstellungen des 19. Jahrhunderts lange beherrscht und beherrscht sie zum Teil noch“ – schreibt Engels 1880 (Engels 1880/1973: 200). Er kritisiert die „Utopisten“ nicht als Träumer eines Unmöglichen, Engels lobt und sympathisiert mit den „genialen Gedankenkeime und Gedanken“ (ebd. 195), aber er kritisiert den Glauben mit gedanklichen Einfällen die Welt zu revolutionieren. Er nennt sie ‚Idealistinnen‘. Für Engels „erschien jetzt [mit dem wissenschaftlichen Sozialismus] der Sozialismus nicht mehr als zufällige Entdeckung dieses oder jenes genialen Kopfs, sondern als das notwendige Erzeugnis des Kampfes zweier geschichtlich entstandener Klassen“ (ebd. 208, Hervorh. S.S.). „Seine Aufgabe war nicht mehr, ein möglichst vollkommenes System der Gesellschaft zu verfertigen, sondern den geschichtlichen ökonomischen Verlauf zu untersuchen“ (ebd.). In der Analyse stellte er fest, dass die freie Konkurrenz ersetzt wird durch das Monopol und „die planlose Produktion der kapitalistischen Gesellschaft [kapituliert] vor der planmäßigen Produktion der hereinbrechenden sozialistischen Gesellschaft“ (ebd. 201). Unausweichlich entwickelt sich der Sozialismus und unausweichlich verwirklichen ihn die Arbeiter*innen. „Diese weltbefreiende Tat durchzuführen ist der geschichtliche Beruf des modernen Proletariats“ (ebd. 227). 

Die Katastrophen des beginnenden 20. Jahrhunderts zerstört der Fortschrittsglaube und ein neuer Blick auf Geschichte bricht sich Bahn. Für den Marxisten Walter Benjamin ist Geschichte „eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft“ (Benjamin 1940/1980a: 697f). Es gibt „nichts, was die deutsche Arbeiterschaft in dem Grade korrumpiert hat, wie die Meinung, sie schwimme mit dem Strom. Die technische Entwicklung galt ihr als das Gefälle des Stromes, mit dem sie zu schwimmen meinte“ (ebd. 698, Hervorh. i. O.). 

Und auch Ernst Bloch kritisiert den Mainstream-Sozialisten als „völlig utopieloser Typ[,] ein Sklave der objektiven Tendenz“ (Bloch PH, Bd. 2: 677). Doch er bleibt einem Teil der engelschen/marxschen Kritik treu: „Die Traumlaterne scheint bei abstrakten Utopisten in einen leeren Raum, das Gegebene hat sich der Idee zu fügen. Ungeschichtlich und undialektisch, abstrakt und statisch wurden derart die konstruktiven Wunschbilder an eine Wirklichkeit herangebracht, die wenig oder nichts von ihnen wußte“ (Bloch PH: 675, zit. nach Schlemm 2018). Bloch möchte keine abstrakte Utopie, welche die „Bedingungen ihrer Zeit nicht [erfaßt]“ (Bloch 1974: 72 zit. nach Schlemm 2018). Er setzt dagegen die „konkrete Utopie“, diese „löst sich vom realen Boden nicht los, desto weniger löst sie sich los, weil dieser Boden in Wahrheit ein Strom ist, nämlich der Strom des dialektisch-materiellen Prozesses“ (PA: 316, zit. nach Schlemm 2018). 

Dreierlei Utopien

Ich glaube, diese Kritik ist utopietheoretisch fruchtbar zu machen und es können damit drei verschiedenen Utopien unterschieden werden. (Wobei wie üblich die Begriffe nur Vorschläge sind)

  • Unmögliche Utopien
  • Allgemeine Utopien/Möglichkeiten
  • Historische Utopien/Möglichkeiten

Unmögliche Utopien sind (wer hätte es gedacht  ) menschlich unmöglich, sowohl konkret-historisch als auch menschlich-allgemein. Es sind Wunschträumereien wie Menschen es gerne hätten bspw. alle Menschen sind immer nett zueinander und setzen die Bedürfnisse anderer vor ihre eigenen. Sie sind selten theoretisch reflektiert und gehören eher zu den Tagträumen. Nichtsdestotrotz mobilisieren sie utopische Energie. 

Allgemeine Utopien oder in Blochs Begriff „abstrakte Utopien“ sind Utopien, die zwar innerhalb des menschlichen Möglichkeitsraum liegen, aber nicht innerhalb des historischen. Dies wirft Annette (glaub ich) dem Commonisus vor: 

„Die abstrakte Möglichkeit (I) besagt einfach nur, dass das als abstrakt-möglich gekennzeichnete Wirkliche nicht unmöglich ist und sich selbst nicht widerspricht (vgl. HW 6: 204). Dabei wird von Bedingungen und Umständen abstrahiert. Dass gesellschaftliche Verhältnisse inklusionslogisch gestaltet sind, ist sicher nicht unmöglich und widerspricht sich nicht selbst. Ihre abstrakte Möglichkeit ist also gegeben.“1

Das weitere Argument könnten wie folgt gehen: Menschen könnten zwar commonistisch leben, aber der Commonismus ist nicht von der jetzigen historischen Situation erreichbar, weil bspw. die Klimakrise ihn verunmöglicht. Wobei Annette meint: „Es wird von Euch gar nicht gefragt was ihn unter derzeitigen und in den nächsten Jahrzehnten zu erwartenden Bedingungen möglich machen könnte und was ihm Hindernisse in den Weg stellt. Ich sage, dass der Crashtest fehlt, ich behaupte nicht schon, dass die Utopie diesen nicht bestehen könnte“ (Schlemm 2020, privater Mailverkehr). 

Historische Utopien oder Blochs „konkrete Utopien“ sind Utopien die sowohl menschlich-möglich als auch historisch möglich sind. Es sind die Utopien die von der jetzigen historischen Situation aus erreichbar sind, da sie an die existierenden Verhältnisse und Möglichkeiten anschließen. 

(Als viertes findet man noch die abstrakten oder leeren Utopien unterscheiden, ich meine so etwas wie „gerechte, befreite, solidarische Gesellschaft“ oder „eine nachhaltige Gesellschaft ohne Hunger und Unrecht“ – das sind nur Wünsche oder Visionen einer besseren Welt, solange nicht gezeigt wird, wie sie organisiert werden könnten. Sie sind nicht nur historisch abstrakt (also nicht mit den geschichtlichen Möglichkeiten verbunden wie Bloch den Begriff hier verwendet), oder menschlich abstrakt (nicht mit den menschlichen Möglichkeiten verbunden), sondern einfach noch unbestimmte Wünsche. Viel zu viele Utopien tummeln sich dort und der Rätekommunist Henk Canne Mejier formuliert hier passend: „Die Zeit ist vorbei, wo es genügte, nur die Aufhebung des kapitalistischen Privateigentums an Produktionsmitteln zu fordern. Es ist ebenfalls unzureichend, nur die Abschaffung der Lohnarbeit zu verlangen. Diese Forderung hat für sich allein nicht mehr Konsistenz als eine Seifenblase, wenn man nicht weiß, wie man die ökonomischen Grundlagen schaffen muß, auf der es keine Lohnarbeit mehr gibt. Eine Gruppe, die beansprucht revolutionär zu sein und die sich weigert, diese wichtige Frage anzugehen, hat keine Bedeutung für die Wirklichkeit, weil sie unfähig ist, das Bild einer neuen Welt vorzuschlagen“ (Meijer 1938/1971).) 

Der Clou zum Schluss: „Ob dieses möglich oder unmöglich ist, das kommt auf den Inhalt an…“ (HW 8: 283, zit. nach Schlemm 2018). Welchen der drei Typen eine Utopie zugerechnet wird hängt von der inhaltlichen Auseinandersetzung ab.2 Real streiten deshalb Menschen immer darüber welchen Typ eine oder ihre Utopie Utopie hat. Und so sind im utopischen Streit die drei Utopietypen eher Pole in ein Kontinuum. 

Historische und allgemeine Möglichkeit unterscheiden … 

Es ist sehr wichtig zu klären welchen Möglicheits-/Utopietyp man für eine Utopie claimt oder vor welchem Hintergrund man sie diskutiert. Ich kann mit Menschen darüber streiten ob die Menschen an sich fähig zum Commonismus sind, oder ob der Commonismus historisch möglich ist – das sind ganz andere Diskussionen, die aber natürlich was miteinander zu tun haben. Christian (und vielleicht Benni, ich Blick im Moment da nicht mehr so richtig durch) argumentieren in die Richtung: Der Commonismus ist historisch unmöglich. Annette kritisiert zumindest, dass dem Commonismus die Realitätsverbindung fehlt. Der Commonismus wird etabliert als allgemeine Möglichkeit, nicht aber als historische Möglichkeit. 

Der Einwurf hat zuerst mal ein Recht, denn in unserem Buch fassen wir den Commonismus tatsächlich zuerst einmal als allgemeine Utopie. Wir diskutieren ob Menschen überhaupt zum Commonismus fähig sind. Wir argumentieren also konkret im Bezug auf den Menschen und abstrakt im Bezug auf die Geschichte. Das kann man uns vorwerfen, aber ist nun mal notwendig der erste logische Schritt einer Utopie: Sie muss menschlich-möglich sein. Erst dann kann vernünftig diskutiert werden, ob sie denn auch historisch-möglich ist. Bei vielen Menschen (u.a. auch Annette die die Kritik dankenswert explizit formuliert hat) habe ich das Gefühl sie werfen uns ständig die fehlende historische Möglichkeit vor, während ich mir persönlich noch nicht mal ob der allgemeinen Möglichkeit sicher bin. So höre ich oft: Ja aber da kommen wir gar nicht hin. Während ich mich noch frage: Können Menschen überhaupt so leben? Ich möchte die Frage nach der historischen Möglichkeit nicht zurückweisen, sie ist enorm wichtig. Und tatsächlich ist es natürlich auch hilfreich beide Diskussionen zu führen, denn vor dem Hintergrund der konkreten historischen Bedingungen in Fallbeispielen und Szenarien klären sich auch allgemeine Fragen. Aber trotzdem finde ich es sehr wichtig beide Diskussionen auch zu unterscheiden. 

Schreibt Bloch, „das bereits Wirkliche ist von einem Meer von Möglichkeiten umgeben, und immer wieder, immer noch steigt aus diesem Meer ein neues Stück Wirklichkeit auf…“ (TE: 234, zit. nach Schlemm 2018), diskutiere ich eher zuerst einmal welche Inseln es in dem Meer überhaupt gibt und dann überlege ich mir welche Inseln jetzt konkret erreichbar sind.

Annette merkt an: „Dass diese Utopie [der Commonismus] abstrakt ist, zeigt sich auch daran, dass als Voraussetzungen nur jene erarbeitet werden, die sich aus dem Begriff ergeben: Freiwilligkeit und kollektive Verfügung. […] Wenn sie richtig abgeleitet wurden, sind sie durchaus notwendig, aber ob sie hinreichend sind für den Wunsch, dadurch verwirkliche sich das maximal Mögliche des im „Begriff vom Menschen“ Angelegten, wird nicht gefragt“ (Schlemm 2018). Annette behält mit Sicherheit Recht damit, dass in unserem Buch der Fokus auf die Frage nach der (konkret-)allgemeinen Möglichkeit liegt. Die Frage nach der (konkret-)historischen Möglichkeiten ist hintergründig und dies ist eine theoretische Leerstelle. In einem Bereich nun wird aber die Frage nach der historischen Möglichkeit eklatant: bei der Frage der Transformation. Wenn man weit geht, könnte man behaupten, die Utopie ist (die Frage nach/)die Theorie der allgemeinen Möglichkeit und die Transformation ist (die Frage nach/)die Theorie der historischen Möglichkeit. Wobei Annettes Hinweis auf die Leerstelle hier nicht gerecht wird, da die Transformation eher auf die Umsetzung der historischen Möglichkeit fragt, während Annette die Frage nach der historischen Möglichkeit im Allgemeinen stellt. 

Ist der Commonismus nun eine allgemeine oder historische Utopie? 

Diese Frage kann ich hier keineswegs wirklich behandeln. Die Diskussionen um die Keimformen des Commonismus im Kapitalismus, um die politischen Verhältnisse, die Produktivkräfte, etc. werden ja heiß geführt. Ich möchte hier nur versuchen ein Argument bei Annette zu rekonstruieren, dass mir häufig in den Diskussionen um eine Post-Arbeit-Gesellschaft begegnen:

In ihrem älteren Text „Historische Möglichkeiten – Konkretisierung der Utopie“ breitet Annette ein beliebtes Argument aus. Sie stellt zuerst fest, dass Arbeitsproduktivität eine zentrale Frage für Gesellschaften ist. „Für Lenin war die Arbeitsproduktivität das „in letzter Instanz allerwichtigste, das ausschlaggebende für den Sieg der neuen Gesellschaftsordnung“ (Lenin 1919: 261)“ (Schlemm 2006).3 Dann stellt sie ganz inline mit der marxschen Theorie fest, dass die Produktivkräfte heute ja wirklich weit genug sind und darum eine Selbstentfaltungsgesellschaft möglich ist. Diese Möglichkeit vergleicht sie mit der DDR: „An spielerische, freiwillige Arbeit war da nicht zu denken, ohne die Versorgung noch mehr in Frage zu stellen. […] Auf der Grundlage einer hohen gesamtgesellschaftlichen Effektivität entstehen erst die Freiräume, die Selbstbestimmung in diesem Bereich ermöglichen“ (Schlemm 2006).

Dies ist die beliebteste Assoziation schlechthin: Produktivkraftentwicklung – Rückgang des Reichs der Notwendigkeit – Möglichkeit des Reichs der Freiheit. Und ich bin überzeugt, dass an dieser Argumentation auch was dran ist, aber ich frage mich wirklich warum freiwillige Tätigkeit nicht ebenfalls eine gute Versorgung erlauben soll, warum sie nicht ebenso Notwendigkeit erfüllen kann. Die nicht genannte Annahme ist hier immer, dass Freiheit erst fern von Notwendigkeiten möglich ist. Und in Folge wird dann diskutiert, dass mit der Klimakatastrophe die Notwendigkeiten zu nehmen und darum die Freiheit wieder nach hinten verschoben werden soll. Ich weiß nicht was Hegel dazu sagen würde, aber sicher einiges. Nach der Kritischen Psychologie spricht gerade die Befriedigung der Notwendigkeiten die produktiven Bedürfnisse der Menschen an, gerade ihre Befriedung schafft Handlungsfähigkeit, gerade ihre Erfüllung motiviert. Schon bei Marx findet sich ja die Stelle, dass erst „wenn die Springquellen des genossenschaftlichen Reichtums freier fließen“ und das Reich der Notwendigkeit zurückgeht man komponieren kann und frei ist. Aber ich finde diese Zuordnung von Motivation und Freiwilligkeit zu Konsequenzlosigkeit, ‚Luxus‘ und Nicht-Notwendigkeit fragwürdig bis falsch. Und zusätzliche reproduziert es die bürgerliche Freizeitvorstellung, nach der Freiheit privat und jenseits der Arbeit ist – die auch nebenbei noch ganz patriarchal ist, indem sie die immer notwendige Reproduktionsarbeit gendert und sich unsichtbar aneignet, Feminist*innen verweisen ja deutlich auf immer bestehende Notwendigkeiten und Careaufgaben. Mit der Kritischen Psychologie ist sie auf jeden Fall schwer vereinbar und mit vielen anderen Versatzstücken Kritischer Theorie auch nicht. 

Engels (1880/1973): Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft, in: MEW 19

Meijier, Henk Canne (1938/1971): Die Arbeiterrätebewegung in Deutschland (1918 – 1933), https://www.anarchismus.at/ueber-den-tellerrand-blicken/raetekommunismus/621-meijer-die-arbeiterraetebewegung-in-deutschland-1918-1933

Schlemm (2006): Historische Möglichkeiten – Konkretisierung der Utopie, https://www.thur.de/philo/ku55.htm

Schlemm (2018): Abstrakte und konkrete Möglichkeiten, https://philosophenstuebchen.wordpress.com/2018/10/14/4-3-2-abstrakte-und-konkrete-moeglichkeiten/


1. Wobei ich mir nicht ganz sicher bin ob diese „abstrakte Möglichkeit“ nicht tatsächlich bei Hegel oder Engels eine bloß fiktive, gedankliche, nicht aber reale Möglichkeit ist.

2. Und bei Annette fehlt mir gerade die konkrete Bezug der schwierigen ökologischen Bedingungen auf die Utopie, also wo konkret die ökologischen Bedingungen Freiwilligkeit oder kollektive Verfügung erschweren oder gar verunmöglichen.

3. Weiter schreibt sie: „Am Ende der DDR, als es zu spät war, erinnerte man sich sogar wieder daran. Jetzt wurde festgestellt: „Und durchgesetzt hat sich in der Geschichte stets die Gesellschaftsordnung, die dem Subjekt die besten Entfaltungsmöglichkeiten gab“ (Söder 1989)“ – hier möchte ich nur anmerken: 1. Arbeitsproduktivität und Entfaltungsmöglichkeiten ist wirklich nicht das gleiche. 2. Ist doch arg zu bezweifeln ob sich die Gesellschaftsformen durchsetzen die mehr Entfaltungsmöglichkeiten bieten, und nicht eher wie Benni meint jene, die mehr Kooperation herstellt und damit auch mehr Produktion, größere Armeen, etc.

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