Aufstand und Konstruktion

Plakat von Crimethinc

Seit der Schwarze US-Amerikaner George Floyd am 25. Mai in Minneapolis vom Polizisten Derek Chauvin und seinen Kollegen umgebracht wurde, tobt in den USA ein Aufstand von einem Ausmaß, das es seit Jahrzehnten, seit der Ermordung Martin Luther Kings nicht mehr gegeben hat. Es gibt sowohl Demonstrationen als auch militante Auseinandersetzungen mit der Polizei und Plünderungen. Der Rückhalt, den diese Aktionen in der US-Bevölkerung haben, ist erstaunlich. So gaben bei einer repräsentativen Umfrage 54% der Befragten an, dass sie das Anzünden der Polizeiwache in Minneapolis gerechtfertigt finden (Quelle). Während Trump wenig überraschend eine harte Linie fährt, hat der Stadtrat von Minneapolis beschlossen, seine Polizeibehörde aufzulösen – die Bewegung zeigt also schon deutliche Erfolge. Auch in Deutschland gab es am vergangenen Wochenende Massenproteste in Solidarität mit der „Black Lives Matter“-Bewegung, die auch rassistische Polizeigewalt hierzulande thematisierten.

Das alles findet inmitten einer immer noch anhaltenden Pandemie statt, doch die überwiegende Mehrzahl der Protestierenden trägt Mund-Nasen-Schutz-Masken und versucht auch sonst, Hygiene-Maßnahmen einzuhalten. Auch wenn Massenansammlungen aus epidemologischer Sicht noch nach wie vor kritisch zu sehen sind, muss dem Fakt Rechnung getragen werden, dass es neben dem Covid19-Virus eben auch noch andere tödliche Gefahren gibt, die es zu bekämpfen gilt – und Rassismus ist eine davon.

Um diese Bewegung zu verstehen, muss man auch den ökonomischen Kontext verstehen, in dem sie stattfindet. Denn Rassismus ist nicht nur eine Ideologie, die sich durch mehr Antirassismus-Trainings, etwa für Polizist*innen, auflösen könnte, sondern hat eine materielle Basis in der kapitalistischen Produktionsweise. Er ist das Schmiermittel, das die Ausplünderung des globalen Südens, rassistische Arbeitsteilung und die Differenz von Ausbeutung und Überausbeutung legitimiert. Dieser Zusammenhang ist von materialistischen Antirassist*innen herausgearbeitet worden, und wird etwa sehr gut in Bafta Sarbos Vortrag zur Einführung in die materialistische Rassismuskritik dargestellt.

Rassismus reproduziert sich selbst, indem Kolonialismus und Sklaverei ungleiche Ausgangsbedingungen geschaffen haben, die zu Ungleichheitsverhältnissen führen, die mit rassistischer Ideologie gerechtfertigt werden, welche wiederum diese Ungleichheitsverhältnisse zementiert.

Somit sind vor allem Schwarze und People of Color von Armut und Arbeitslosigkeit betroffen und können ihre Existenzgrundlage öfter als Weiße nicht innerhalb des legalen Rahmens sichern, was sie wiederum häufiger Polizeigewalt aussetzt. In dieser Gewalt können Polizist*innen dann wiederum ihre rassistischen Affekte ausleben. Auch George Floyd wurde festgenommen, weil er verdächtigt worden war, mit einem gefälschten 20$-Schein bezahlt zu haben.

Diese Verhältnisse werden verschärft durch die Corona-Pandemie: In den USA sterben verhältnismäßig mehr Schwarze an der Pandemie, u.a. weil sie schlechteren Zugang zum Gesundheitssystem haben, und viele sind in Folgen des Lockdowns und der Wirtschaftskrise arbeitslos geworden.

Während die Bewegung derzeit durchaus Erfolge erzielt, wie etwa die Verhaftung des Täters Derek Chauvin oder die Entscheidung des Stadtrates von Minneapolis, seine Polizeibehörde aufzulösen, wird wohl der Rassismus und die Polizeigewalt, der Schwarze Communities ausgesetzt sind, erst verschwinden können, wenn auch der Kapitalismus überwunden wird. Um Strategien entwickeln zu können, wie diese Überwindung real werden kann, braucht es eine Vermittlung zwischen den bisher eher abstrakten Überlegungen zur Überwindung bzw. Aufhebung des Kapitalismus und den konkreten Kämpfen der Menschen, die derzeit unter diesen Verhältnissen leiden und gegen sie aufstehen.

Zu den eher abstrakten Überlegungen gehört die Keimform-Theorie, die betont, dass eine neue Re/Produktionsweise (je nach bevorzugter Schreibweise Kommunismus oder Commonismus) nicht einfach vom Himmel fällt, sondern sich ihre Vorformen (die Commons) bereits in der alten Gesellschaft entwickeln und dann im Dominanzwechsel gegenüber der alten Form (der Warenform) dominant werden und diese verdrängen. Noch nicht ganz klar ist bisher, wie dieser Dominanzwechsel aussehen kann und damit zusammenhängend, wie viel und was genau bereits vorher aufgebaut/konstruiert werden muss. Aufgrund der – sehr wichtigen – Betonung der Konstruktion, fehlt in deutschsprachigen Commons-Kontexten oftmals ein Blick für soziale Kämpfe, der bisweilen hin zu einem weltfremden Pazifismus führt. Der Dominanzwechsel wird dann entweder gedacht als das Ergebnis einer friedlichen Ausdehnung der Commons oder als Gelegenheit einer tiefgreifenden Krise, in der die alten Formen nicht mehr funktionieren und sich deshalb die Commons-Form verallgemeinern kann. Während der erste Ansatz keine Antwort auf die Frage finden kann, wie sich eine Commons-Bewegung denn friedlich die materiellen Mittel, die es fürs Commoning braucht, aneignen soll, ist dem zweiten Ansatz grundsätzlich zuzustimmen. Jedoch gilt es, ihn mit dem realen Krisengeschehen zu vermitteln.

Die Verwertungskrise des Kapitalismus ist nämlich kein Ereignis, das plötzlich passiert in dem Sinne, dass gestern noch alles glatt lief und heute die Geldautomaten keine Scheine mehr ausspucken. Vielmehr ist sie Resultat eines „prozessierenden Widerspruchs“ (Marx): Einerseits ist der Kapitalismus auf Verwertung von Arbeit angewiesen, andererseits müssen die Produzent*innen, getrieben von der Konkurrenz, ihre Waren so billig wie möglich produzieren, was bedeutet, die menschliche Arbeit zu minimieren. Die mikroelektronische Revolution liefert seit der letzten Hälfte des letzten Jahrhunderts stets neue Möglichkeiten, genau dies zu tun. Somit gerät einerseits die Verwertung in eine Krise (was mit der Aufblähung der Finanzmärkte versucht wird, weiter zu verschieben) und andererseits werden immer mehr Arbeitskräfte aus dem Verwertungsprozess ausgestoßen und können ihre Arbeitskraft nicht, oder nur noch unter sehr prekären Bedingungen, verkaufen. Aufgrund der oben skizzierten Verknüpfung von Kapitalismus und Rassismus, ist es kein Wunder, dass diese fürs Kapital „Überflüssigen“ überwiegend Schwarze und People of Color sind.

Die Verwertungskrise ist deshalb kein einmaliges Ereignis, das mehr oder weniger alle Menschen gleichmäßig betrifft, sondern sie äußert sich in immer wiederkehrenden Krisenschüben, die eine wachsende Anzahl von Menschen hervorbringt, die ihre Bedürfnisse über die von Markt und Staat vorgesehenen Wege noch schlechter befriedigen können als dies schon vorher oftmals ohnehin der Fall war – während es für andere Teile der Gesellschaft noch einigermaßen gut läuft.

Diese prekären Lebenslagen sind Ausgangspunkt von sozialen Kämpfen wie denen der aktuellen Bewegung in den USA. Einerseits wird darin das Ende der Polizeigewalt, der die Schwarzen Communities ausgesetzt sind, gefordert und bisweilen in tätiger Auseinandersetzung durchgesetzt, andererseits wird mit Plünderungen auch praktische Kritik am Eigentum geübt und sich das, was man nicht (mehr) über die legalen von Markt und Staat vorgesehenen Formen bekommen kann, einfach genommen.

Die Frage ist nun, ob solche aufständischen Bewegungen auch zu einem Dominanzwechsel, also zu einer gesamtgesellschaftlichen Überwindung von Kapitalismus und Staat, führen könnten. Dafür wäre einerseits entscheidend, dass innerhalb dieser Bewegungen Alternativen, also Keimformen, aufgebaut werden, und andererseits dass die Bewegung nicht vom Staat zerschlagen werden kann. Ersteres geschieht derzeit an einigen Stellen; zu einem der interessantesten Projekte zählt dabei etwa die in Seattle errichtete autonome Zone Capitol Hill. Letzteres wird wohl nur gehen, wenn wirklich weite Teile der Bevölkerung Polizei und Militär die Legitimität entziehen und sie an der Durchsetzung des Gewaltmonopols hindern. Denn wenn eine aufständische Bewegung zu klein ist, wird sie sich auch militant nicht auf Dauer gegen die staatliche Gewalt zur Wehr setzen können. Ich glaube nicht, dass das Maß, in dem diese Entziehung von Legitimität geschehen muss, sich vorab quantitativ bestimmen lässt. Letztlich wird die Geschichte zeigen, wann eine aufständische Bewegung zu einer revolutionären werden kann. Fest steht nur, dass es seit der Wirtschaftskrise von 2008ff global immer wieder zu Aufständen kommt. Zwischenzeitlich schienen sie von der Bildfläche verschwunden, kehrten jedoch letztes Jahr wieder zurück. Und aufgrund der selbstzerstörerischen Tendenzen des Kapitals ist kein Ende in Sicht. Die Frage ist nur, wie wir uns dazu verhalten.

In Deutschland scheinen solche aufständischen Situationen, wie wir sie derzeit in den USA erleben, noch weit entfernt. Aber das heißt nicht, dass wir uns nicht auf sie vorbereiten könnten.

Für Aktivist*innen, die sich dem Aufbau von Commons widmen, stellt sich dabei meines Erachtens aus der hier skizzierten Perspektive die Herausforderung, ihre Praxis stärker in den Kontext sozialer Kämpfe zu stellen und sich dabei auch zu fragen, wer aufgrund seiner*ihrer gesellschaftlichen Position in Konflikt zu den Formen von Markt und Staat gerät und ein Interesse an einer Alternative haben könnte. Solidarische Landwirtschaften, in denen sich wohlhabende Grünen-Wähler*innen mit frischem Bio-Gemüse versorgen können, sind zwar auch ganz nett, aber mehr transformatorisches Potential könnte Commoning meines Erachtens entfalten, wenn es z.B. mit Menschen in migrantischen, von Armut geprägten Vierteln gemacht wird, und zwar im Kontext ihrer Kämpfe, etwa gegen Gentrifizierung und rassistische Polizeigewalt, die es eben auch hierzulande gibt. Die Frage, was überhaupt konkret vor dem Dominanzwechsel aufgebaut werden muss, kann dahingehend beantwortet werden, dass es u.a. Strukturen braucht, die widerständiges Handeln ermöglichen, und eine Infrastruktur für Aufstände bieten können. In Aufständen könnten sich die darin entwickelten Beziehungsweisen des Commoning dann entfalten und schließlich verallgemeinern.

Vor allem für Aktivist*innen die, wie ich selber, aus eher privilegierten Verhältnissen stammen (ich bin etwa weiß und habe Mittelschichts-Eltern), ist es dabei wichtig, dass solche Projekte nicht FÜR die Menschen in diesen Vierteln gemacht werden (das wäre Charity), sondern MIT ihnen (das wäre Commoning). Dafür ist es schließlich auch notwendig, die eigenen Verstrickungen in die Strukturen von weißer Vorherrschaft zu hinterfragen und zu reflektieren, um Solidarität, Commoning und einen gemeinsamen Kampf aller, die ein Interesse an der Überwindung von Kapitalismus und Herrschaft haben, zu ermöglichen.

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