Was sind und warum gibt es Elementarformen?

In der Diskussion über meine 42 Thesen ist mir klar geworden, dass die Bestimmung der Elementarform einer Gesellschaft für mich noch nicht klar genug war. Es wurde auch gefragt, wofür man so etwas überhaupt braucht. Ich versuche mich nun diesen Fragen zu nähern. Dabei muss ich ausholen um den philosophischen Hintergrund deutlich zu machen vor dem eine solche Elementarformtheorie überhaupt Sinn ergibt. Wenn man den nicht teilt, kann man vermutlich dann auch mit der daraus entstandenen Theorie nicht viel anfangen.

  1. Als erstes halte ich fest, dass der Ausgangspunkt von dem ich hier schreibe der einer materialistischen Weltsicht ist. Im gesellschaftstheoretischen Kontext bedeutet dass, dass ich es für möglich erachte, die wesentlichen Eigenschaften einer Gesellschaft aus ihren materiellen Existenzbedingungen abzuleiten.
  2. Das sind zuerst mal die stofflichen und energetischen Bedingungen (im Folgenden zusammenfassend stofflich genannt). Also solche Sachen wie unser Lebensraum Erde und sein Klima, stoffliche Eigenschaften der Dinge und des Menschen, die Naturgesetze oder die Position von Körpern im Raum.
  3. Nun ist es aber nicht so, dass sich die materiellen Bedingungen immer direkt aus den stofflichen ergeben. Es gibt eine Ebene von direkt abgeleiteten Phänomenen, dass sind solche, die nicht selbst stofflich sind, sich aber direkt auf Stoffliches beziehen. Zu nennen wären hier zum Beispiel Eigentumsverhältnisse, die zwar gesellschaftlichen Konventionen (z.B. in der Form des Rechts) entspringen, aber nicht selbst stofflich sind. Es gibt keine Eigenschaft eines Dinges, dass es zu Eigentum macht (anders als z.B. bei Besitz, wo die Eigenschaft, sich in meiner Verfügungsreichweite zu befinden, eine stoffliche ist), sondern Eigentum ist ein gesellschaftliches Verhältnis. Seine materielle Basis befindet sich nur in den Gehirnen von Menschen (und abgeleitet davon natürlich auch in Grundbüchern, Polizeikasernen und ähnlichem).
  4. Und schließlich gibt es noch eine indirekt abgeleitete Ebene in der gar keiner oder nur noch ein sehr schwacher Bezug zur Stofflichkeit vorhanden ist. Da reden wir dann über solche Phänomene wie „Liebe“, „Freiheit“, „Geschlecht“, „Ideologie“, „Ethik“ oder „Gott“.
  5. Fetischismus ist nun die Umkehrung dieses Verhältnisses. Wenn z.B. aus „Freiheit“ oder „Gott“ Eigentumsverhältnisse abgeleitet werden oder wenn abstrakte Eigentumsverhältnisse konkrete Besitzverhältnisse bestimmen sollen. Als gesellschaftstheoretischer Materialist bin ich hingegen der Ansicht, dass Besitz wichtiger ist als Eigentum und Eigentumsverhältnisse wichtiger als Religion oder Ethik. Damit ist natürlich nicht gemeint, dass immer _nur_ die materielle Grundlage zählt. Abgeleitete Phänomene gewinnen sehr schnell eine Eigendynamik und nur in speziellen Situationen ist es möglich die darunter liegende Struktur freizulegen. Wenn der König von der Revolution abgesetzt wird, wird schnell klar, dass seine Macht nicht wirklich von Gott kommt und wenn die Fabrik besetzt wird, wird auch klar, dass Besitz vor Eigentum geht, aber im Normalbetrieb bleibt der König von Gott eingesetzt und die Fabrik Eigentum.
  6. In diesem Sinn hat jede materialistische Gesellschaftstheorie einen Aufforderungscharakter: Legt die Basis frei! Sie ist also immer auch normativ und nicht nur deskriptiv und in diesem Sinne eine kritische Theorie. Affirmative materialistische Theorien lassen sich immer zurückführen auf einen nicht materialistischen Kern. Man denke zum Beispiel an so Sachen wie Soziobiologie, die sich materialistisch geben, ihrem Kern nach aber eben bestimmte materielle Faktoren wie die gesellschaftliche Natur des Menschen ignorieren. Eine affirmative materialistische Theorie könnte es erst in einer Gesellschaft geben, die sich ihrer materiellen Basis bewusst ist und die danach strukturiert ist, in der es also weder Eigentum noch Gott gäbe und in der Liebe, Geschlecht und Freiheit ihre Bedeutung komplett gewandelt hätten.
  7. Um sich der Frage der Elementarform zu nähern, muss man sich zunächst mal die Frage der gesellschaftlichen Natur des Menschen genauer angucken. Menschen und alles, was sie tun, ist immer gesellschaftlich. Wenn man es existentialistisch formulieren wollte: Wir sind verdammt zur Gesellschaftlichkeit. Diese Gesellschaftlichkeit stellt sich her durch jede einzelne interpersonale Handlung. Jedes Gespräch, jeder Tastendruck während ich diesen Text schreibe, jeder Gang in den Supermarkt und jede Kaufentscheidung dort ist ebenso von Gesellschaft mit determiniert, wie er diese auch mit gestaltet.
  8. Die Gesellschaft selbst ist aber eben genau nicht interpersonal, sie ist transpersonal, sie überschreitet also die direkten interpersonalen Handlungen aus denen sie erzeugt wird. Sprache ist mehr als der einzelne Sprechakt, Religion mehr als eine Predigt, Feudalismus mehr als der Ritterschlag und Kapitalismus mehr als ein Tauschakt (oder auch die Summe aller Tauschakte).
  9. Aus dieser Differenz ergibt sich die Notwendigkeit, dass bestimmte Handlungen in bestimmten Gesellschaften nahe gelegt sind und andere nicht. Jägerinnen und Sammler werden ihre Beute selten verkaufen, Bauern werden sich selten gegen den König erheben und Arbeiterinnen werden selten streiken. Wäre es anders, wäre die Gesellschaft in ihrer Existenz gefährdet und damit ihre Kohärenz, es käme also zu Hunger, Bürgerkrieg oder Revolution (ohne dass Hunger oder Krieg automatisch die Kohärenz gefährdet, oft wird sie dadurch auch erhalten). Die Gesellschaft als Ganzes wäre gefährdet, aber nicht notwendig alle Individuen darin. Im Gegenteil kann es sich sogar für Individuen so darstellen, dass ihr persönliches Wohlergehen nur durch Bruch mit der Kohärenz erreichbar ist.
  10. Es gab in der Geschichte lange mehrere parallele Gesellschaften, einfach weil die materielle Integration räumlich begrenzt war. Dabei ist die Existenz eines Weltmarktes alleine nicht ausreichend um von einer Weltgesellschaft zu sprechen. Erst wenn ein Abbruch der Beziehungen zu einem Zusammenbruch (also einer Dekohärenz) der einzelnen Gesellschaften führen würde, sind diese für unsere Fragestellung nicht mehr getrennt voneinander zu behandeln. Das schließt nicht aus, dass es dann auch weiterhin Konflikte geben kann, nur sind diese dann ihrem Wesen nach interne Konflikte und nicht mehr solche zwischen Gesellschaften. Der kalte Krieg im 20. Jahrhundert war in diesem Sinn vermutlich der letzte Konflikt zwischen Gesellschaften (und auch dieser hatte durch die atomare Auslöschungsdrohung bereits die Möglichkeit der beiderseitigen Dekohärenz), seit 1990 gibt es nur noch Weltbürgerkriege.
  11. Aus dem Materialismus ergibt sich, dass diese Kohärenz auf materieller Ebene hergestellt werden muss. Diejenigen interpersonalen Handlungen, die also auf materieller Ebene dazu beitragen, die transpersonale Kohärenz der Gesellschaft zu erhalten, nenne ich elementare Handlungen. Das wäre dann z.B. die Jagd, der Ackerbau (und die gewaltsame Aneignung seiner Produkte) oder der Tausch. Das was ich in These 15 der 42 Thesen noch „Elementarform“ genannt hatte, würde ich jetzt präziser als „elementare Handlungen“ bezeichnen.
  12. Um wirkliche transpersonale Kohärenz herzustellen zu können, müssen diese Handlungen aber im Rahmen einer Elementarform geschehen. Die Elementarform wiederum ist mehr als die Summe der elementaren Handlungen. Es sind die elementaren Handlungen im Rahmen einer gesellschaftlichen Bedeutungsstruktur. Nur so kann der Schritt auf die transpersonale Ebene gelingen. Der einzelne Tausch ist noch keine Elementarform, erst die Warenproduktion ist es, weil erst diese z.B. die Sphärentrennung ermöglicht oder das Eigentum legitimiert. Das Teilen ist noch keine Elementarform, die Commons sind es, weil sie durch Regeln und eine Gemeinschaft erst einen Verbund von Gleichen schaffen, der das Teilen nahelegt. Der einzelne Tribut ist noch keine Elementarform, erst das System von durch Gewalt abgesicherten persönlichen Loyalitäten ist es.
  13. In dem Sinn, dass sie die Transpersonalisierung der interpersonalen elementaren Handlungen ermöglichen, sind also alle Elementarformen immer transpersonal (anders als ich in These 19 von den 42 Thesen schrieb). In einem anderen Sinne bleibt These 19 aber weiterhin gültig. Transpersonalität ist ja im Kern die Verbindung von getrennten Menschen. Auch wenn man sich nie kannte, kann man über Sprache Verbindungen herstellen. Je größer eine Gesellschaft ist umso größer ist ihr Bedarf nach Transpersonalität. Dies führte bereits zur Zeit der Imperien zur Erfindung und stetigen Verfeinerung von Geld, Schrift, Verwaltung und Religion. Das Neue an der Elementarform der Ware ist also nicht ihre Transpersonalität, es ist die Materialisierung von Transpersonalität. Erst Warenproduktion ermöglicht es für Menschen zu produzieren, die von mir getrennt sind. In der Zeit der Imperien gab es das selbstverständlich auch, aber es war immer immateriell vermittelt. Die Bauern in Nordafrika produzierten für ihre römischen Abnehmer weil sie in ein hierarchisches gesellschaftliches Verhältnis eingebunden waren an dessen Spitze der göttliche Kaiser stand. Heute produziert die Industrie für den Markt und braucht dafür keinerlei imperiale Rechtfertigung mehr.
  14. Der Fetischismus der Ware besteht darin, die Beziehungen zwischen den Waren quasi-religiös an die Stelle der eigentlichen materiellen Beziehungen zwischen den Menschen zu setzen. Während in den Imperien noch der Imperator fetischisiert und von Gott eingesetzt oder selbst vergöttlicht wurde, obwohl er nur ein Mensch war, wird im Kapitalismus an seine Stelle die Ware (und davon abgeleitet das Geld und das Kapital) gesetzt. Dies gelingt aber nur durch eine Materialisierung der Transpersonalität. Die Abschöpfung des Mehrwerts wird nicht mehr durch eine göttliche Ordnung gerechtfertigt, sondern ergibt sich zusammen mit dem Warenfetisch aus den materiellen Beziehungen am Markt.
  15. In These 21 der 42 Thesen folgerte ich, dass die Elementarform des Kommunismus transpersonal und kollektiv sein muss. Mit der genaueren Bestimmung wissen wir jetzt also, dass die Elementarform des Kommunismus die Materialisierung der Transpersonalität von der kapitalistischen Elementarform übernehmen muss, aber die kollektive Aneignung von den Commons.

Ich hoffe dass mit dieser genaueren Bestimmung mein ursprünglicher Text verständlicher und kritisierbarer wird, weil klarer ist an welcher Stelle genau die Widersprüche auftreten. Danke an alle Diskutantinn_en, insbesondere an Franziska, Christian, Antje und Eva. Durch Diskussion mit euch konnte ich mir ein bisschen klarer werden, was ich meine.

 

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