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Kapitalismus – Tausch- oder Klassengesellschaft?

Zum Verhältnis von Exklusion, Klasse und Kapitalismus

Dieser Text ist Teil einer Reihe, welche sich mit Kritik an unserem Buch auseinandersetzt. Vielen Dank an alle Kritiker*innen 🙂

Bei einem Interview für die Jungle World letzte Woche wurde ich gefragt ob unsere Kritik des Kapitalismus nicht Produktionsverhältnisse und Ausbeutung vernachlässigt. In Annettes langer Kritik [1] – vielen Dank dafür! Kritik stößt ja im bestenfalls an und hilft Positionen zu klären – wird uns eine „reduzierte Kapitalismuskritik“ vorgeworfen. Dieser Text will deutliche Positionen entwickeln, damit wir uns gut unterhalten können. Im Zentrum steht in diesem Text einige Thesen zum Verhältnis von Klasse und Kapitalismus. Ich glaube diese Debatte ist zusätzlich wichtig, weil sie auch die Haupt- und Nebenwiderspruchsdebatte berührt – in unseren Worten: das Verhältnis der verschiedenen Exklusionsmechanismen zueinander.

Aber zuerst mal Klarstellungen:

1. Ich will zwei Diskurse zu Klassen unterscheiden: Einerseits einen analytischen Klassendiskurs der bspw. fragt: Benötigt der Kapitalismus eine Unterscheidung zwischen Produktionsmitteleigner*innen und doppelt freien Lohnarbeiter*innen? Sind Klassenverhältnisse ein primäres, konstituierendes Element des Kapitalismus oder ein sekundäres (Folge-)Element? Gibt es einen Kapitalismus ohne Klassen? Andererseits gibt es einen transformatorischen Klassendiskurs der fragt: Hat das Proletariat auf Basis ihrer Klassenposition ein Interesse den Kapitalismus abzuschaffen? Vertritt es die menschlichen Allgemeininteressen? Ist der Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit ein kapitalismusimmanenter Widerspruch oder transzendiert es ihn? Welche Bedeutung hat die Klassenposition der Akteur*inne für eine Überwindung des Kapitalismus?

2. Um Scheingefechte zu vermeiden: Ich bin überzeugt, dass der Kapitalismus eine Vergesellschaftung über Arbeit ist und das Profit durch Aneignung des Mehrwerts vonstatten geht und nur sekundär aus einer „Praxis des Übervorteilens“ (Schlemm, 3.2.2.) entstehen. Wir haben die Arbeitswerttheorie in unserem Buch weggelassen, weil sie das ganze zu kompliziert gemacht hätte, aber bei Autoren vertreten sie.

Und jetzt: los geht’s 🙂

Getrennte Privatproduktion oder Klassenverhältnis – das grundlegende soziale Verhältnis des Kapitalismus

Wenn ich versuche die Dynamik des Kapitalismus zu erklären (so haben wir es im Buch [2] dargestellt), beginne ich mit dem sozialen Verhältnis der Produzent*innen, welches ich (mit Marx) als getrennte Privatproduktion von Eigentum bei gegenseitiger Bezogenheit darstelle, falls es einen befriedenden Staat gibt bekomme ich das Eigentum anderer nur durch Tausch, dies führt zur notwendigen Vermittlung über Geld und zu Konkurrenz, damit zu Kapital und Verwertungszwang und der Verselbständigung der Verhältnisse gegenüber den Menschen. Der Kapitalismus ist für mich dann eine Tauschgesellschaft, weil sein grundlegendes soziales Verhältnis das der getrennten Privatproduktion ist. Der Kapitalismus ist eine Re/Produktionsweise und gehört mit dem Feudalismus und anderen Re/Produktionsweisen zur Gruppe der Exklusionsgesellschaften, in welchen die Exklusionslogik bestimmend ist.

Annette Schlemm schreibt „Der Grund des Kapitalismus sind soziale Verhältnisse, bei der ‚doppelt freie Lohnarbeitende‘ (die persönlich frei und frei vom Eigentum an Produktionsmittel sind) ihre Arbeitskraft an Produktionsmitteleigentümer (egal ob das Menschen oder Institutionen sind oder Finanzfonds, die ihre eigene Rente finanzieren sollen …) verkaufen müssen“. Der Kapitalismus ist eine Klassengesellschaft, weil sein grundlegendes soziales Verhältnis ein Verhältnis der Klassen(herrschaft) ist.

Annettes erste Kritik ist, dass wir die „Besonderheit der Ware Arbeitskraft“ als mehrwertschaffende Ware übersehen, und somit Profit nur als „Praxis des Übervorteilens“ in der Zirkulation erklären können.1 Ich kann diese Kritik auf Basis des Buches verstehen, aber wir würden auch sagen, dass Mehrwert durch Ausbeutung und Aneignung der Mehrarbeit entsteht und nur als Extraprofit in der Zirkulation.

Ich will mich der Debatte nun mit einer Frage nähern: Kann es einen Kapitalismus ohne Klassen geben? Das kommt darauf an wie man Klassen begreift. Ich glaube ja: Kapitalismus ist logisch möglich, wenn es nicht eine Gruppe von Produktionsmitteleigentümer*innen und eine Gruppe ohne Produktionsmittel gibt (siehe dieser Text). Solch ein Kapitalimus wäre bspw. ein Genossenschaftskapitalismus, in welchem alle Menschen Lohnarbeiter*innen sind, aber gleichzeitig auch Eigentümer*innen der Produktionsmittel. Dieser Kapitalismus wäre durch die gleiche Dynamiken von Exklusion, Verwertungszwang, Wert, Fetisch etc. gekennzeichnet – und auch von Ausbeutung. Das Klassenverhältnis wäre nicht mehr personalisiert in bestimmten Gruppen, sondern in die Individuen hineingewandert. Obwohl die Individuen über die Produktionsmittel verfügen, können sie nur innerhalb des sozialen Verhältnis der getrennten Privatproduktion darüber verfügen und müssen sich selbst ausbeuten und die Produktionsmittel zum Zwecke der Kapitalverwertung einsetzen. Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube Annette spielt mit ihrer nicht-personalen Definition von Produktionsmitteleigentümer*innen („Menschen oder Institutionen sind oder Finanzfonds“) eben auf diese Möglichkeit an. Dann würden wir hier näher beisammen liegen. Ich würde es so zusammenfassen: Ja, es kann Kapitalismus ohne personalisierte Klassenverhältnisse geben. Nein, es kann keinen Kapitalismus ohne Ausbeutung und Klassenverhältnis geben. Vielleicht noch eine polemische Spitze: Deshalb glaube ich, dass getrennte Privatproduktion das grundlegende soziale Verhältnis ist, nicht das Klassenverhältnis in welchem es „zweierlei verschiedne Sorten von Warenbesitzer [gibt] […] einerseits Eigner von Geld, Produktions und Lebensmittel […] andererseits freie Arbeiter“ (Marx MEW 23: 742). Die Dynamik der getrennten Privatproduktion und damit Tausch, Konkurrenz, Verwertung erzeugt Verhältnisse in welchen personalisierte Klassenstrukturen leicht entstehen können und Verhältnisse unter denen es immer Menschen gibt, die sich wie Kapitalist*innen verhalten müssen, auch wenn sie dies in ihrer eigenen Genossenschaft tun müssen.

Weiter geht’s mit Teil 2 [3].

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