Die Arbeit und der fiktive Tropf

Titelbild der Krisis-Ausgabe (zum Vergrößern klicken)Norbert Trenkle hat für die (nur noch digital erscheinende) Krisis einen Antwortartikel auf meine Untersuchung Geht dem Kapitalismus die Arbeit aus? (1, 2) geschrieben: Die Arbeit hängt am Tropf des fiktiven Kapitals.

In meinen Artikel hatte ich vorsichtig geschlossen, dass „Lohoff und Trenkle […] im Vergleich zur von Heinrich (2007) postulierten tendenziell unendlichen Ausdehnungsfähigkeit des Kapitalismus […] der Wahrheit näher zu kommen“ scheinen. Dieses abwägende Fazit befriedigt Trenkle nicht – er argumentiert, dass die Zahlen eine deutlichere Sprache sprechen. Dafür führt er im Wesentlichen zwei Argumente an, von denen mir das eine mehr, das andere weniger einleuchtet.

Induzierte Wertproduktion?

Weniger einleuchtend finde ich das Konzept der „induzierten Wertproduktion“, dem zufolge ein immer größerer Teil der Warenproduktion ohne die Akkumulation von fiktivem Kapital nicht möglich wäre. Dazu rechnet Trenkle kreditfinanzierten privaten und staatlichen Konsum, Investitionen und Infrastrukturmaßnahmen, die durch den „Verkauf von Eigentumstiteln (wie Anleihen und Aktien)“ ermöglicht werden, sowie Investitionen im Bausektor, sofern diese durch „Immobilienspekulation“, d.h. durch Hoffnung auf künftige Preissteigerungen, ermöglicht werden.

Trenkle betrachtet dies als „induzierte Wertproduktion“ (13), die vom fiktiven Kapital abhängig ist. Hätte die private Konsumentin nicht einen Kredit aufnehmen oder ihre Kreditkarte belasten können, dann hätte sie sich den neuen Fernseher nicht leisten können und die Realwirtschaft wäre etwas weniger stark gewachsen bzw. etwas stärker geschrumpft. Die Konsumentin ist damit allerdings auch eine Verpflichtung eingegangen, da sie den Kredit später (mit Zinsen) zurückzahlen muss. Gelingt ihr das nicht (sie könnte Privatbankrott anmelden oder unverschämter Weise einfach sterben), ist der Kredit geplatzt und die Verwertung des fiktiven Kapitals an einer kleinen Stelle ins Stocken geraten. Den Hersteller des Fernsehers schert das allerdings nicht, er hat sein Geschäft gemacht. Schon deshalb ist nicht einzusehen, warum die „induzierte Wertproduktion“ nicht „zählen“ sollte, wenn es darum geht, ob bzw. wie stark die Realwirtschaft wächst oder schrumpft – was Trenkle unterstellt, aber nicht wirklich begründet.

Ein Problem für die Realwirtschaft würde nur dann entstehen, wenn das fiktive Kapital eines Tages komplett verschwinden würde und wenn darüber hinaus auch die Zentralbanken (die Kredit aus dem Nichts erschaffen können), die Kreditvergabe verweigern würden statt als „lender of last resort“ zu fungieren. Dann könnte sich niemand mehr verschulden und kreditfinanzierte Käufe wären nicht mehr möglich, was tatsächlich zu einer massiven Absatzkrise und einem Einbruch der Realwirtschaft führen würde.

Aber ist das ein realistisches Szenario? Ich habe meine Zweifel, zumal Trenkle selbst mit eindrucksvollen Zahlen über das gigantische Wachstum des fiktiven Kapitals aufwartet – Kapitalmarktwaren inklusive Derivaten betragen inzwischen das Zwölffache des Bruttoweltprodukts, während sie noch 1980 nur geringfügig über dem Bruttoweltprodukt lagen (15). Dass sich die Besitzer aller dieser virtuellen Reichtümer entschließen könnten, sie den Finanzmärkten zu entziehen und stattdessen in „reale“ Güter (etwa Gold) umzutauschen, scheint schon deshalb ausgeschlossen, weil schlichtweg nicht genug „reale“ Güter zu finden wären.

Warum die Ausgabe von Anleihen und Aktien durch Firmen auf eine krisenhafte Entwicklung hindeuten sollte, ist noch weniger einzusehen. Vielmehr handelt es sich um einen ganz normalen und schon ziemlich alten Aspekt des Kapitalismus – Firmen greifen auf Fremdkapital zurück, um stärker wachsen zu können und ihre Eigenkapitalrendite zu verbessern. Nehmen wir an, eine Firma macht einen Profit von sechs Prozent auf das eingesetzte Kapital und leiht sich (ob durch Kreditaufnahme oder Ausgabe von Anleihen) ebenso viel Kapital/Geld, wie sie an Eigenkapital schon hat, zu einem Zinssatz von drei Prozent. Dann verbleiben die restlichen drei Prozent als zusätzlicher Gewinn bei den Eigentümern der Firma, die ihre Eigenkapitalrendite so von sechs auf neun Prozent gesteigert hat. Aber auch die Kreditgeber/Anleihenkäuferinnen profitieren, denn sie haben ja den vereinbarten Zins erhalten und so ihr Geld vermehrt.

Die Ausgabe von Aktien ist etwas anders zu analysieren, deutet aber ebenfalls nicht auf ein „Problem“ für den Kapitalismus hin. Aktien sind kein Fremdkapital, sondern die Aktionäre werden selbst zu Miteigentümern der Firma – sie dürfen abstimmen, wenn es um wesentliche strategische Entscheidungen geht, und werden in Form von Dividenden an Gewinnen beteiligt. Da Aktien im Regelfall an der Börse gehandelt werden, steigt und fällt ihr Preis in Abhängigkeit von der wirtschaftlichen Entwicklung der Firma. Dabei spielt nicht nur die aktuelle Situation, sondern auch die Erwartung der Marktteilnehmerinnen in Bezug auf künftige Entwicklungen eine Rolle. Aktienmärkte bringen also ein zusätzliches spekulatives Element in den Kapitalismus, aber letzten Endes ist alle kapitalistische Produktion spekulativ. Warum es für die Analyse der Realwirtschaft von Bedeutung sein sollte, ob eine Firma an der Börse gehandelt wird oder nicht, ist nicht einzusehen.

Ebenso wenig leuchtet mir ein, inwiefern die „Immobilienspekulation“ auf die gesamtwirtschaftlich produzierte Wertmasse einen nennenswerten Einfluss haben sollte. Sie hat sicherlich einen Einfluss auf die Preise, da Immobilienkäuferinnen in Erwartungen künftiger Preissteigerungen bereit sind, mehr zu zahlen als das sonst der Fall wäre. Spekulativer Leerstand von Neubauten dürfte jedoch die absolute Ausnahme sein – Gebäude werden nicht nur in der Hoffnung auf künftige Preissteigerungen gebaut, sondern sie werden auch unmittelbar vermietet oder von den Käufern selbst genutzt. Das würde auch ohne die Hoffnung auf künftige Preissteigerungen passieren, wenn auch vielleicht zu niedrigeren Verkaufspreisen. Für die Wertanalyse kommt es auf solche Preisschwankungen aber nicht an.

Lebt der Kapitalismus über seine Verhältnisse?

Unterschwellig scheint mir dem Konzept der „induzierten Wertproduktion“ die Idee der „schwäbischen Hausfrau“ zugrunde zu liegen, die nur ausgibt, was sie zuvor redlich verdient hat. Der Kapitalismus würde gemäß dieser von Trenkle allerdings nicht offen geäußerten Argumentationslinie zunehmend „über seine Verhältnisse leben“, weil sich die Käuferinnen mehr und mehr verschulden müssen und sich die gekauften Waren „eigentlich“ gar nicht leisten könnten.

Dazu nennt Trenkle eindrucksvolle Zahlen, so hat sich die private Verschuldung in den USA seit 1980 mehr als verdoppelt, von 150 auf 350 Prozent des Bruttonationaleinkommens (19). Und auch die weltweite Staatsverschuldung ist bekanntlich gerade seit der Krise von 2008 stark gestiegen. Die durch solchen schuldenfinanzierten Konsum ermöglichte Produktion sieht er als „Vorgriff auf zukünftigen Wert“ (9), der aber aufgrund der mutmaßlich schrumpfenden Wertmasse gar nicht mehr produziert werden könne. Aber ist dem so?

Tatsächlich ist ein Kredit eine Verpflichtung der Schuldnerin, diesen zu gegebener Zeit (mit Zinsen) zurückzuzahlen. Private Schuldner, die praktisch nur durch den Verkauf ihrer Arbeitskraft Geld verdienen können, müssen also entweder ihren künftigen Lebensstandard einschränken oder in Zukunft noch härter arbeiten, um die Schulden zurückzahlen zu können. Wertproduktion ist dafür aber nicht unbedingt vonnöten – wer etwa als Staatsangestellte oder private Reinigungskraft arbeitet, produziert keinen Wert, verdient aber trotzdem Geld, das zur Schuldentilgung verwendet werden kann.

Private Verschuldung ist also ein Mittel, den Ausbeutungsgrad im Kapitalismus zu erhöhen, sie bewirkt eine zusätzliche Umverteilung von unten (den Arbeitenden) nach oben (den Kapitaleignern). Sie verschärft auch den Konkurrenzkampf um Arbeitsplätze und drückt so tendenziell das Lohnniveau. Tatsächlich dürfte es kein Zufall sein, dass die stark gestiegene private Verschuldung in den letzten 30 Jahren mit stagnierenden oder sinkenden Reallöhnen einherging.

Steigende Staatsverschuldung hat einen ähnlichen Effekt. Anders als private Schuldner zahlen Staaten ihre Schulden allerdings typischerweise niemals zurück, sondern lösen alte Kredite durch neue ab. Gleichzeitig müssen sie bei steigender Verschuldung (und gleichbleibenden Zinssätzen) jedoch einen immer größeren Teil der Steuereinnahmen für Zinszahlungen ausgeben. Würden nur Kapitalgewinne besteuert, wäre für das Gesamtkapital nichts gewonnen – was der einen Kapitalistin in Form von Zinsen gezahlt wird, würde der anderen in Form von Steuern genommen.

Tatsächlich werden Kapitalerträge und Vermögen in den modernen, um Kapital konkurrierenden Staaten aber nur gering bis gar nicht besteuert. Der Großteil der Steuereinnahmen stammt aus Steuern auf Löhne und Konsum, wird also nicht von den Kapitalisten, sondern von der arbeitenden oder nichtarbeitenden Bevölkerung gezahlt. Gleichzeitig reagieren die Staaten auf steigende Verschuldung mit einer Kürzung ihrer Ausgaben etwa für Gesundheitswesen, Bildung, Arbeitslosen- und Sozialhilfe sowie öffentliche Infrastruktur wie Schwimmbäder, wodurch wiederum der Lebensstandard der Bevölkerung und insbesondere der prekär Lebenden sinkt. Auch steigende Staatsverschuldung verschärft also die Umverteilung von der Masse der Bevölkerung zu den wohlhabenden Gläubigern.

Dass der Kapitalismus über seine Verhältnisse lebt, lässt sich also nicht sagen. Stattdessen hat er sich neue Wege zur verschärften Ausbeutung und Umverteilung von unten nach oben erschlossen.

Weltweit unterschiedliche Produktivitätsniveaus

Einleuchtender finde ich den Einwand, dass die weltweiten Unterschiede im Produktivitätsniveau womöglich größer sein könnten als von mir geschätzt. Ich hatte die chinesische Produktivität auf 80 Prozent westlicher Länder geschätzt; Trenkle führt hingegen Argumente dafür an, dass sie in der Industrie nur 10 bis 30 Prozent der deutschen Produktivität entspricht und in der Landwirtschaft sogar unter 10 Prozent (30f.).

Meine Schätzungen basierten auf der Position eines Landes im Human Development Index, der das Bruttonationaleinkommen pro Kopf, die durchschnittliche Ausbildungsdauer und die Lebenserwartung berücksichtigt. Unplausibel finde ich diese Indikatoren nicht – das Bruttonationaleinkommen pro Kopf zeigt ungefähr, wie gut ein Land in der kapitalistischen Staatenkonkurrenz mithalten kann und besser ausgebildete Arbeitskräfte ermöglichen eine höhere Produktivität.

Zugegebenermaßen willkürlich (was ich im Text auch vermerkt hatte) war hingegen meine Entscheidung, die Produktivität eines Lands auf 100, 80, 60 bzw. 40 Prozent zu schätzen, je nachdem in welchem Quartil (Viertel) des HDI es zu finden ist. Und die gewählten Faktoren wirken sich in der Tat spürbar auf die Ergebnisse aus. Nehmen wir etwa an, dass die Produktivität pro Quartil nicht nur um 20 Prozent fällt, sondern sich halbiert – also 100, 50, 25, 12 Prozent statt der oben genannten Faktoren. Dann ist die gewichtete Zahl der produktiven Arbeitskräfte nur noch um 9,0 Prozent gestiegen (statt 15,3 Prozent), die der Arbeitsstunden um 5,0 Prozent (statt 11,6 Prozent). Für einen Zeitraum von 30 Jahren ist das schon eine äußerst bescheidene Entwicklung, die nah am Nullwachstum entlang schrammt (die jährliche Steigerung der Arbeitskräfte beträgt knapp 3 Promille, der Arbeitsstunden 1,6 Promille).

Allerdings sind auch diese Faktoren willkürlich und ergeben für das wirtschaftlich sehr bedeutende China (im 2. Quartil des HDI) eine Produktivität von 50 Prozent, was deutlich über den von Trenkle angeführten Schätzungen liegt. Kann man Faktoren bestimmen, die nicht rein willkürlich sind?

Zuverlässige Produktivitätsschätzungen für alle untersuchten Ländern dürften kaum aufzutreiben sein, zumal sie auch noch über die unterschiedlichen Wirtschaftssektoren gemittelt werden müssten. Zumindest als Indikator könnte aber die durchschnittliche Lohnhöhe dienen, da sie andeutet, unter welchen Umständen eine Standortverlagerung in ein anderes Land für Unternehmen Sinn macht. Beträgt die durchschnittliche Lohnhöhe im Zielland ein Drittel, dann kann eine Firma fast dreimal so viel Personal beschäftigen und die Verlagerung rentiert sich immer noch (sofern man davon ausgeht, dass die erhöhten Transportkosten relativ zu den Herstellungskosten nur wenig ins Gewicht fallen). Die relative Produktivität im Zielland muss also mindestens so hoch sein wie das relative Lohnniveau.

Allerdings kenne ich auch keine umfassenden Statistiken zum Lohnniveau in verschiedenen Ländern – die Internationale Arbeitsorganisation (ILO), deren Zahlenmaterial ich verwendet habe, führt zwar eine entsprechende Statistik, die jedoch für zu wenige Länder vorliegt, um verwendbar zu sein. Genaue Statistiken gibt es jedoch für das in jedem Land erwirtschaftetete Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf. Zwischen dem Pro-Kopf-BIP und der Lohnhöhe dürfte es zumindest eine lose Korrelation geben, da ein Großteil der umgesetzten Waren von der arbeitenden oder nicht (mehr) arbeitenden Bevölkerung erworben wird, die dafür ihre Löhne (oder aus Lohnnebenkosten finanzierte Leistungen wie Renten und Arbeitslosengeld) eingesetzt.

Eine mutmaßliche Korrelation zwischen Arbeitsproduktivität und Pro-Kopf-BIP geht also um zwei Ecken und dürfte entsprechend unscharf ausfallen. Als grobe Annäherung in Abwesenheit besserer Statistiken habe ich dennoch eine entsprechende Berechnung durchgeführt.

Dafür habe ich die Pro-Kopf-BIPs der 40 von mir untersuchten Länder (Liste der Weltbank für 2014) zugrunde gelegt. Die Arbeitsproduktivität der zehn Länder mit dem größten BIP (Norwegen, Schweiz, Australien, Dänemark, Schweden, Singapur, USA, Niederlande, Österreich, Kanada) habe ich dabei jeweils auf 100 Prozent geschätzt. Von diesen zehn Länder hat Kanada das niedrigste Pro-Kopf-BIP (50.271 USD). Relativ zu diesem habe ich die Arbeitsproduktivität der anderen Länder geschätzt. Für das an elfter Stelle folgende Deutschland (47.627 USD) beträgt sie damit 94,7 Prozent, für das an letzter Stelle stehende Indien (1.582 USD) 3,1 Prozent. Für China ergibt sich eine Produktivität von 15,1 Prozent, was in den von Trenkle ermittelten Schätzbereich fällt.

Legt man diese stärkere Spreizung der weltweiten Produktivitätsniveaus zugrunde, dann ist die Zahl der entsprechend gewichteten produktiven Arbeitskräfte im untersuchten Zeitraum nicht gewachsen, sondern um 2,0 Prozent geschrumpft. Bezogen auf produktive Arbeitsstunden ergibt sich ein noch stärkerer Rückgang um 6,3 Prozent.

Die Frage der unterschiedlichen Produktivität in verschiedenen Weltregionen hat also in der Tat einen starken Einfluss auf das Ergebnis und kann den Unterschied zwischen einem geringen Wachstum oder einer leichten Schrumpfung machen. Eine sorgfältige Untersuchung dieser Frage könnte sich daher lohnen. Aber in jedem Fall ergibt sich aus dem Zahlenmaterial, dass von einem weltweit „brummenden“ und unbekümmert wachsenden Kapitalismus nicht die Rede sein kann.

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