Bedürfnisse

Die Frage danach, was eigentlich Bedürfnisse sind, hat sich als seltsamer Attraktor recht vieler Diskussionen erwiesen. Deswegen möchte ich der Sache hier mal etwas auf den Grund gehen. Es gibt dabei recht viele Definitionen, die alle ihre Vor- und Nachteile haben. Diejenige, die ich hier vorstelle, ist daran orientiert, ob sie hilfreich ist für die Fragen, die uns hier im Blog interessieren, letzten Endes also um die Frage zu beantworten, was das eigentlich ist, was alle kriegen sollen, wenn alle kriegen, was sie brauchen. Es geht also nicht darum ein für alle Mal festzuhalten, welcher Bedürfnisbegriff nun der einzig wahre und richtige ist, sondern darum einen Begriff zu finden, der für unsere Diskussionen auf der Suche nach Keimformen einer neuen Gesellschaft, in der gilt: jede*r nach ihren Bedürfnissen, jede*r nach ihren Fähigkeiten, funktional ist.

Wie so oft, ist es hilfreich für Definitionen mit Abgrenzungen zu beginnen. Was genau sind Bedürfnisse also nicht?

Bedürfnisse sind keine bloßen Wünsche. Sicherlich ist eine Gesellschaft denkbar, in der die Menschen nicht mehr so verbogen sind, wie sie es halt heute nun mal sind. In einem fernen Utopia mögen also Wunsch und Bedürfnis vielleicht sogar zusammen fallen, auch wenn wir heute glaube ich keine Möglichkeit haben, das zu wissen. Hier und heute ist es definitiv nicht so. Wünsche sind die Reaktion auf einen zunächst mal rein subjektiv empfundenen Mangel. Wünsche sind Wege zu Bedürfnissen, aber sie sind nicht zwingend der einzige mögliche Weg. Man kann sich täuschen und ein Wunsch ist in Wirklichkeit gar nicht der Weg zur Befriedigung eines Bedürfnisses für den man ihn gehalten hat. Oder es gibt vielleicht andere Möglichkeiten mit weniger schädlichen Nebenwirkungen, oder, oder, … Ein Wunsch kann auch mehrere Bedürfnisse auf einmal befriedigen, und darüber welche Bedürfnisse ein Wunsch befriedigen soll, muss der Wünschenden auch nicht immer Klarheit herrschen.

Ein Beispiel: Ein Auto kann ein Wunsch sein, weil man es für nötig hält, um von A nach B zu kommen. Dahinter kann also ein Bedürfnis nach Mobilität stecken. Und zusätzlich ist eventuell der Wunsch von A nach B zu kommen selbst wiederum nur Ausdruck eines anderen Wunsches oder Bedürfnisses (z.B dem Wunsch einer Arbeit nachzugehen). Das Auto kann aber auch ganz andere Bedürfnisse befriedigen, solche nach Anerkennung z.B. Und letzten Endes kann es sein, dass der Wunsch nach einem Auto gar kein Bedürfnis befriedigt. Es kann sein, dass man das Auto dann hat und plötzlich feststellt man steht eigentlich nur die ganze Zeit im Stau und außerdem gucken einen die Nachbarn plötzlich so komisch an, weil sie einen für ne üble Umweltsau halten.

Das bedeutet aber nicht, dass Wünsche und Bedürfnisse gar nichts miteinander zu tun haben. Umgekehrt sind Wünsche die wichtigste Spur, die wir zu Bedürfnissen haben. Es lohnt sich Wünsche anzugucken, weil sie Hinweise auf die dahinter liegenden Bedürfnisse geben können. Wenn nichts dagegen spricht sollte man Wünschen nachgeben. Wenn etwas dagegen spricht, sollte man versuchen zu erkunden, was das hinter dem Wunsch liegende Bedürfnis ist und nach Alternativen zu dessen Befriedigung suchen

Bedürfnisse sind außerdem keine Interessen. Stefan hat dazu schon mal einen Artikel verfasst. Ich zitiere einfach daraus:

„Im Kapitalismus kann man die eigenen Bedürfnisse in der Regel nur realisieren, wenn man sie als (meistens) kollektive Interessen artikuliert. Diese Interessen haben prinzipiell partiellen Charakter. Es sind Partialinteressen, die gegen die Partialinteressen von anderen stehen. Aber auch innerhalb einer Artikulation von Partialinteressen gibt es keine Identität. Die Formulierung von Bedürfnissen in Form kollektiver Interessen hat immer Kompromisscharakter. Kein einzelner Mensch geht in den jeweiligen (Partial-)Interessen völlig auf, denn alle Menschen sind verschieden, einschließlich ihrer Bedürfnisse. Daher befinden wir uns in der Regel auch in unterschiedlichen“ Interessenzusammenhängen, oft sogar solchen, die gegeneinander stehen.“

Wichtige Lehre für uns hier daraus vielleicht: Bedürfnisse mögen sich unter unterschiedlichen gesellschaftlichen Verhältnissen unterschiedlich äußern (Im Kapitalismus eben oft als Interessen), die eigentlichen Bedürfnisse sind allerdings in jeder gesellschaftlichen Konstellation notwendige Bedingungen des Menschseins und erst in einer Gesellschaftsordnung in der alle kriegen was sie brauchen, werden sie direkt erkennbar. Bis dahin müssen wir uns ihnen immer erst sehr umständlich annähern.

Bedürfnisse sind zudem nicht bloß Grundbedürfnisse. Viele Diskussionen um Bedürfnisse hängen fest an der Frage, wer denn dann bestimmt, was ein Bedürfnis ist, dass befriedigt werden muss und was nicht. Oft wird dann die Diskussion abgekürzt in dem man sich darauf zurückzieht, dass es eben Grundbedürfnisse sind, die befriedigt werden müssen. Also alles, was direkt zum Leben gebraucht wird. Nahrung, Obdach, Kontakt zu anderen Menschen, solche Dinge. Das ist aber eine trugschlüssige Abkürzung. Denn letzten Endes verschiebt es ja nur die Frage darauf, was denn Grundbedürfnisse seien. Man könnte sich vielleicht noch auf ein wie auch immer geartetes (wissenschaftliches? demokratisches?) Verfahren einigen, dass Grundbedürfnisse definiert. Aber selbst dann wird es immer Menschen geben, die darunter leiden, weil ihre Bedürfnisse nicht befriedigt werden und es wird umgekehrt immer Menschen geben, die bestimmte Dinge, die als Grundbedürfnisse definiert wurden eigentlich gar nicht brauchen. Weil eben Bedürfnisse letzten Endes individuell sehr abweichen. Wie viel Nahrung braucht ein Einsiedler in der Wüste? Wie viel ein Leistungssportler? Das sind Fragen, die sich nicht allgemein klären lassen sondern in letzter Instanz nur im Einzelfall.

Bedürfnisse sind nicht objektiv bestimmbar. Letzten Endes kann man Bedürfnisse nicht von außen bestimmen. Sie basieren auf psychischen Zuständen und auf die psychischen Zustände von anderen haben wir keinen direkten Zugriff. Jetzt könnte man an dieser Stelle aufgeben, aber das wäre dann doch etwas solipsistisch. Statt dessen kann man festhalten, dass man ja über Bedürfnisse sprechen kann. Man kann Bedürfnisse formulieren, man kann sie anerkennen oder in Frage stellen. Man kann Argumente anbringen, man kann Vorschläge machen, was vielleicht die eigentlichen Bedürfnisse sind. Das alles kann auf eine Weise geschehen, dass es intersubjektiv nachvollziehbar ist. Menschen können sich verständigen. Das mag oft nicht einfach sein aber es ist definitiv möglich. Das wichtigste ist, damit anzufangen überhaupt darüber zu sprechen, was wir brauchen. Denn das passiert heute viel zu selten.

Bedürfnisse sind außerdem nicht bloß komsumptiv. Ein weit verbreitetes Missverständnis ist auch, dass Bedürfnisse immer nur mit Konsum zu tun haben. Etwas, dass durch die bekannte Forderung „jeder nach seinen Bedürfnissen, jeder nach seinen Fähigkeiten“ leider auch gefördert wird. Denn es klingt ein wenig so, als seien das zwei getrennte Dinge. Dabei hängen beide ja sehr eng zusammen. Es kann mir ein Bedürfnis sein, bestimmte Fähigkeiten zu erlernen und umgekehrt kann ich Fähigkeiten haben, die es mir überhaupt erst ermöglichen eigene Bedürfnisse zu spüren. Denn: Es gibt auch produktive Bedürfnisse. Es ist Menschen ein Bedürfnis ihre Lebensverhältnisse vorausschauend so einzurichten, dass Bedürfnisse auch in Zukunft befriedigt werden können. Die Wünsche „aussähen um ernten zu können“ und „ernten um essen zu können“ entspringen produktiven Bedürfnissen.

Soweit meine Ausführungen dazu, was die beliebtesten Fallstricke sind beim Versuch, Bedürfnisse zu definieren. Jetzt springe ich einfach mal ins kalte Wasser und wage eine positive Definition:

Bedürfnisse sind intersubjektiv nachvollziehbar bestimmbare Notwendigkeiten für den Menschen, die sowohl produktive als auch konsumptive Formen annehmen können.

Daraus ergibt sich dann auch, dass es keine falschen Bedürfnisse geben kann. Wünsche oder Interessen können falsch sein (in einem faktischen oder auch bloß ethischen Sinn), Bedürfnisse nicht. Daraus ergibt sich auch, was zu tun ist, nämlich Bedürfnisse ernst nehmen, sie kennen zu lernen, von Wünschen und Interessen zu unterscheiden. Sie nicht nur auf Grundbedürfnisse reduzieren. Keine Liste von Bedürfnissen aufstellen, die man haben kann. In ein Gespräch über Bedürfnisse eintreten. Und letzten Endes: Bedürfnisse befriedigen. Es gibt schlicht keinen Grund, es nicht zu tun. Das ist „das einfache, dass schwer zu machen ist“. Das ist Kommunismus.

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