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Rezension: Hauke Thoroe (2010): »Herrschaftskritik«

thoroe-herrschaftskritikThoroe, Hauke (Hrsg.) 2010: Herrschaftskritik – Analysen, Aktionen, Alternativen. SeitenHieb Verlag – Download (PDF) [1]

Beim Schlagwort ‚Herrschaftskritik‘ werde ich hellwach. Ein ganzes Buch, herausgegeben und auch überwiegend geschrieben von einem jungen Aktivisten, der Theorie und Praxis verbinden möchte – das klingt außerordentlich spannend. Es handelt sich, wie erwartet, um ein Buch aus der linksradikalen Szene für eben dieselbe – und ihren Nachwuchs. Und als solches greift es nicht ganz ungeschickt Fragen und Probleme auf, in welchen eine herrschaftskritische Perspektive hilfreich sein kann.

Die Ideen und Argumente werden oft entlang Haukes Erfahrungen präsentiert. So erläutert der Autor zum Beispiel im Vorwort sein Ringen um stetiges Überprüfen der eigenen Position, um deutlich zu machen, dass Herrschaftskritik keine einfachen Antworten liefert und ein beständiger Willensakt bleibt. Die Message kommt rüber, nur wird sie der in der Überschrift des Vorwortes gestellten Aufgabe nicht gerecht: Die Frage „Warum Herrschaftskritik?“ wird nicht beantwortet, leider nirgendwo im Buch.

Viele weitere anekdotenhafte Artikel folgen, die immer wieder sinnvolle Themen aufgreifen und anschaulich und in einfachen Worten diskutieren. Es geht dabei um die großen Themen wie Repräsentative Demokratie, die Eigentumsfrage, Krieg und Militär, NGOs und globale Beziehungen, Verschwörungstheorien. Aber auch viele auf die Szene begrenzte Diskussionen werden aufgegriffen, darunter Sexismus und informelle Hierarchien in linken Basisgruppen und Bündnissen, sowie einzelne Theorieentwürfe zur Beschreibung des Bestehenden und noch Kommenden. Dazu ist das Buch durchzogen von Aktionsideen und Kästchen mit Definitionen, historischen Zusatzinformationen und ähnlichem. Es schließt mit Argumenten, die belegen sollen, dass eine herrschaftsfreie Welt zumindest denkbar ist.

Um gleich mit dem Schluss zu beginnen: In Haukes Darstellung der befreiten Welt zeigt sich am deutlichsten die für dieses Buch typische Mischung aus guten Ideen und unausgegorenen Behauptungen. So sympathisch mir sein Entwurf erscheint, so wenig kann ich nachvollziehen, woher er all diese Details einer zukünftigen Welt zu kennen glaubt. Die Logik ist nachvollziehbar, wenn es um Prioritätensetzung im Hier und Jetzt geht, z.B. mit der Reduzierung von Abhängigkeit zu Staat und Kapital. Erläuterungen zu Fragen, wie „Wird es noch Konservendosen geben?“ wären uns jedoch besser erspart geblieben.

Wirklich enttäuscht hat mich die ungefilterte Übernahme von Christoph Spehrs Thesen zu freier Kooperation in diesem Teil, vielleicht, weil ich mich mit jenen bereits intensiver befasst [2] und für weitgehend unbrauchbar befunden habe. Positiv hervorzuheben sind die zahlreichen Interventionen in die Debatten und Strukturen linker Basisgruppen, die sehr praxisnah, schlüssig und selbstkritisch vorgebracht werden. Darüber hinaus gefiel mir die vage Andeutung einer Ideengeschichte der Herrschaftskritik – schon allein deswegen, weil genau eine solche noch nicht geschrieben wurde, auch wenn sie in dieser kurzen lieblosen Form einen faden Beigeschmack hinterlässt.

Darstellungen zum großen Weltgeschehen lösten ebenfalls eher zwiespältige Gefühle aus, zwischen Bewunderung für eine gutes Gespür für zentrale Themen und wichtige Argumente und großem Bedauern für unterlassene Hilfeleistung für die Leser_innen beim Verstehen von Herrschaftsbeziehungen. Ein gutes Beispiel hierfür sind die Passagen zur Eigentumsfrage, die einzelne wichtige Punkte aus neomarxistischer Kapitalismuskritik aufgreifen, aber das schwierige und große Thema kurzum mit der Formel „Eigentum gleich Herrschaft“ abhandeln. Als einfachen logischen Schluss mag mensch das so stehen lassen, aber als Ableitung aus einer herrschaftskritischen Analyse kapitalistischer Produktion und moderner Rechtsstaatlichkeit kann das nicht gelten. Es bleibt holzschnittartig, weltfremd und unbrauchbar für diverse linke Herausforderungen jenseits vom schönen Vagabundenleben.

Wegen solchen Abkürzungen ist das Buch insgesamt leider nur jungen Einsteiger_innen in radikale Gruppen zu empfehlen, für die es vermutlich gut verständlich und nützlich im frühzeitigen erkennen wichtiger Debatten und innerlinker Probleme sein kann – allerdings unter dem Vorbehalt, besonders aufmerksam und kritisch zu werden, wenn der Text prophetisch anmutet. Herrschaftskritik ist vielschichtig und voraussetzungsvoll, das sagt auch Hauke Thoroe. Das Buch umschifft aber leider viele grundsätzlichen Fragen, die einer herrschaftskritischen Analyse vorausgehen, wie zum Beispiel was Herrschaft von Macht unterscheidet, oder welche Formen von persönlicher und unpersönlicher Herrschaft die Moderne hervorgebracht hat, bzw. wie diese funktionieren. Immerhin, er lässt uns an vielen im linken Alltag nützlichen Ideen und Erkenntnissen teilhaben. Und: Er hat das richtige Thema gewählt, d.h. das Buch betont insgesamt, wie bedeutend Herrschaftskritik für linke Theorie und Praxis, wie zentral für die Entwicklung emanzipativer Strategien ist. Viel zu wenig wird noch getan, um das Potential von Herrschaftskritik für linke Politik im 21. Jahrhundert zu erschließen.