Sind Sie Anarchist?
[Repost aus Oya 22, Lizenz: CC-by-sa]
von David Graeber
Vermutlich haben Sie schon mal irgendwo gehört, was Anarchisten angeblich sind und glauben. Vermutlich ist alles, was Sie gehört haben, Blödsinn. Denn viele denken, Anarchisten seien für Gewalt, Chaos und Zerstörung und gegen jede Form von Ordnung und Organisation, oder sie seien durchgeknallte Nihilisten, die alles in die Luft jagen wollen. Weit gefehlt. Anarchisten glauben schlicht, dass Menschen zu einem guten Umgang miteinander finden können, ohne dass man sie dazu zwingen müsste. Eigentlich eine ganz einfache Idee. Doch die Reichen und Mächtigen halten sie seit jeher für extrem gefährlich.
Vereinfacht ausgedrückt, beruht der Anarchismus auf zwei Grundannahmen. Erstens: Unter gewöhnlichen Umständen sind Menschen so vernünftig und anständig, wie man sie sein lässt, und sie organisieren sich selbst und ihre Gemeinschaften, ohne dass man ihn sagen müsste, wie. Zweitens: Macht korrumpiert. Im Anarchismus geht es vor allem darum, den Mut aufzubringen, mit dem, was uns der Anstand gebietet, wirklich ernst zu machen und es konsequent zu Ende zu denken. Es mag seltsam klingen, aber in vielen entscheidenden Punkten sind Sie wahrscheinlich bereits Anarchist, auch wenn Sie es noch nicht wissen. Beginnen wir mit ein paar Alltagsbeispielen:
Sie stehen in der Schlange vor einem überfüllten Bus. Warten Sie, bis Sie an der Reihe sind, und drängeln sich nicht vor, auch wenn weit und breit kein Polizist zu sehen ist?
Wenn Sie mit »Ja« geantwortet haben, verhalten Sie sich wie ein Anarchist! Das grundlegendste anarchistische Prinzip ist Selbstorganisation: Menschen muss nicht mit Strafverfolgung gedroht werden, damit sie vernünftige Vereinbarungen miteinander treffen und sich mit Würde und Respekt begegnen.
Alle Menschen denken, sie seien imstande, sich vernünftig zu verhalten. Wenn Sie denken, wir bräuchten Gesetze und Gesetzeshüter, so nur deshalb, weil Sie nicht glauben, dass auch andere Menschen dazu imstande seien. Aber: Denken all diese Menschen nicht genau dasselbe von Ihnen? Anarchisten argumentieren, der Großteil des antisozialen Verhaltens, das uns überhaupt erst denken lässt, wir bräuchten Armeen, Polizisten, Gefängnisse und Regierungen, um unser Leben zu kontrollieren, werde gerade durch die systematischen Ungerechtigkeiten verursacht, die durch ebenjene Armeen, Polizisten, Gefängnisse und Regierungen erst ermöglicht werden – ein Teufelskreis! Sind Menschen gewohnt, dass man sie behandelt, als gälte ihre Meinung nichts, werden sie wütend und zynisch oder gar gewalttätig – was es den Machthabenden zugegebenermaßen leicht macht, zu behaupten, die Meinung dieser Menschen gälte nichts. Verstehen diese Menschen jedoch, dass ihre Meinung ebensoviel gilt wie die jedes anderen Menschen, werden sie erstaunlich einsichtig. Kurz: Anarchisten glauben, dass es vor allem die Macht und die Auswirkungen der Macht sind, die Menschen dumm und verantwortungslos handeln lassen.
Sind Sie Mitglied in einem Club, Sportverein oder einer anderen freiwilligen Organisation, in der Entscheidungen nicht von oben, sondern basisdemokratisch gefällt werden?
Ja? Dann gehören Sie einer Organisation an, die nach anarchistischen Prinzipien funktioniert! Ein weiteres anarchistisches Grundprinzip ist die Freiwilligkeit der Verbindung. Im Grund geht es im Anarchismus schlichtweg darum, wahrhaft demokratische Prinzipien im Alltag zu verwirklichen – jedoch mit dem bezeichnenden Unterschied, dass Anarchisten an eine Gesellschaft glauben, in der sich alles nach diesen Grundsätzen organisieren lässt und in der alle Gruppen auf dem freiwilligen Einverständnis ihrer Mitglieder gründen. Somit sind hierarchische und militärische, durch Befehlsketten von oben nach unten strukturierte Organisationsformen wie Armeen, Verwaltungsapparate oder Großunternehmen nicht mehr notwendig. Vielleicht glauben Sie nicht, dass so eine Welt möglich sei. Aber: Jedesmal, wenn Sie durch Konsens anstatt durch Drohung zu einer Vereinbarung gelangen, jedesmal, wenn Sie eine freiwillige Abmachung mit jemandem treffen, sich einigen oder einen Kompromiss finden, indem Sie sich die Umstände oder Bedürfnisse der anderen Person bewusstmachen, sind Sie ein Anarchist – auch, wenn Sie es noch nicht wissen.
Anarchismus ist das, was Menschen tun, wenn man sie tun lässt, was sie tun möchten, und wenn sie mit gleichermaßen freien Menschen interagieren, die sich der gegenseitigen Verantwortung, die solche Freiheit mit sich bringt, bewusst sind. Dies führt uns zu einem weiteren entscheidenden Punkt: Während Menschen vernünftig und rücksichtsvoll sein können, wenn sie anderen auf Augenhöhe begegnen, liegt es in der Natur des Menschen, dass dies nicht mehr gilt, sobald einer Macht über den anderen hat. Sind Menschen mit solcher Macht ausgestattet, werden sie diese fast ausnahmslos auf die eine oder andere Art missbrauchen.
Glauben Sie, dass die meisten Politiker egoistische, selbstgefällige Karrieristen sind, die sich nicht ums Gemeinwohl scheren? Glauben Sie, dass unser Wirtschaftssystem idiotisch und ungerecht ist?
Ja? Dann unterstützen Sie die anarchistische Kritik an der heutigen Gesellschaft, zumindest in den Gründzügen. Anarchisten glauben, dass Macht korrumpiert und dass jene, die ihr Leben lang nach Macht streben, die letzten sind, denen diese Macht anvertraut werden sollte. Anarchisten glauben, dass das gegenwärtige Wirtschaftssystem Menschen eher für selbstsüchtiges und skrupelloses Verhalten belohnt als für aufrechtes und mitfühlendes. Dies glauben die meisten Menschen. Der Unterschied ist, dass viele glauben, man könne nichts dagegen tun, oder – wie die Erfüllungsgehilfen der Mächtigen gebetsmühlenartig wiederholen – alles, was man dagegen tun könnte, würde die Lage nur verschlimmern.
Aber was, wenn dies gar nicht stimmt?
Gibt es einen guten Grund, warum wir dies glauben sollten? Die meisten Prognosen über eine Welt ohne Nationalstaaten oder ohne Kapitalismus erweisen sich bei genauerer Untersuchung als grundfalsch. Unzählige Gesellschaften haben ohne Regierungen gelebt. In vielen Teilen der Welt leben Menschen auch heute außerhalb von Regierungskontrolle, ohne sich deshalb gegenseitig umzubringen. Sie leben einfach ihr Leben, so wie andere Menschen auch. Überlegt man, wie dies in einer komplexen, urbanisierten, technisierten Gesellschaft umzusetzen wäre, stoßen wir auf eine Reihe von Fragen, auf die wir keine Antwort haben, weil kaum jemand danach fragt. Anarchisten meinen, genau diese Fragen sollten wir stellen.
Glauben Sie wirklich, was Sie ihren Kindern erzählen (oder was Ihre Eltern Ihnen erzählt haben)?
»Es geht nicht darum, wer angefangen hat«, »Ein Unrecht hebt das andere nicht auf«, »Räum’ deine Sachen selber weg«, »Was du nicht willst, das man dir tu’, das füg’ auch keinem andern zu«, »Sei nicht gemein zu Menschen, nur weil sie anders sind«. Vielleicht sollten wir uns mal entscheiden, ob wir unsere Kinder anlügen wollen, wenn wir ihnen erzählen, was richtig und falsch ist, oder ob wir bereit sind, unsere Aufforderungen selber ernstzunehmen. Denn macht man wirklich ernst mit diesen moralischen Prinzipien, landet man ganz schnell beim Anarchismus.
Etwa das Prinzip »Ein Unrecht hebt das andere nicht auf«: Wirklich ernstgenommen, würde es fast allen Kriegen und Strafverfolgungssystemen jegliche Grundlage entziehen. Dasselbe gilt fürs Teilen: Immerzu erzählen wir Kindern, sie müssten lernen, zu teilen, auf die Bedürfnisse anderer Rücksicht zu nehmen und sich gegenseitig zu unterstützen; und dann gehen wir raus in die Welt mit der Erwartung, alle Menschen seien von Natur aus egoistisch und stünden miteinander im Wettkampf. Ein Anarchist würde hier bemerken: Was wir unseren Kindern erzählen, stimmt. Praktisch jede große Errungenschaft in der Menschheitsgeschichte, jede Entdeckung, alles, was unser Leben zu einem guten Leben macht, basiert auf Kooperation und gegenseitiger Hilfe. Die meisten Menschen geben bereits heute mehr Geld für Freunde und Verwandte aus als für sich selbst. Höchstwahrscheinlich wird es immer Individuen geben, die denken, sie befänden sich mit ihren Mitmenschen im Konkurrenzkampf. Es gibt jedoch keinen Grund, warum eine Gesellschaft zu solchem Verhalten ermutigen oder gar Menschen dazu anstacheln sollte, miteinander um Grundbedürfnisse zu kämpfen.
Glauben Sie, dass Menschen im Grund ihres Wesens korrupt und böse sind oder dass bestimmte Gruppen (Frauen, »People of Color«, Durchschnittsmenschen, die weder reich noch gebildet sind) minderwertig sind und von Höherstehenden regiert werden sollten?
Wenn Ihre Antwort »Ja« lautet, sind Sie wohl doch kein Anarchist. Wenn sie aber »Nein« lautet, dann stimmen Sie mit neunzig Prozent der anarchistischen Prinzipien überein und leben vermutlich auch danach. Jedesmal, wenn Sie andere Menschen rücksichtsvoll und respektvoll behandeln, sind Sie ein Anarchist. Jedesmal, wenn Sie Differenzen mit anderen auflösen, indem Sie einen guten Kompromiss finden oder indem Sie alle anhören, anstatt eine einzelne Person entscheiden zu lassen, sind Sie ein Anarchist. Jedesmal, wenn Sie Gelegenheit hätten, jemanden zu etwas zu zwingen, und sich stattdessen entscheiden, mit Vernunft und Gerechtigkeit an die Person zu appellieren, sind Sie ein Anarchist. Ebenso jedesmal, wenn Sie mit Freunden teilen, wenn Sie gemeinsam entscheiden, wer den Abwasch macht, oder sich fair verhalten.
Sie mögen nun einwenden, all dies sei schön und gut, um in kleinen Gruppen miteinander auszukommen; die Verwaltung einer Stadt oder eines Landes sei jedoch eine ganz andere Geschichte. Da haben Sie nicht ganz unrecht. Selbst wenn man die Gesellschaft dezentralisierte und so viel Macht wie möglich in die Hände kleiner Gemeinschaften legte, gebe es Dinge, die auf übergeordneter Ebene koordiniert werden müssten: von Fahrplänen bis hin zu richtungsweisenden Entscheidungen über die Forschungsziele der Medizin. Aber nur, weil etwas kompliziert ist, heißt es nicht, dass es nicht auf der Grundlage gemeinsamer Entscheidung getan werden könnte.
Anarchisten haben verschiedenste Ideen und Visionen zur Selbstverwaltung einer komplexen Gesellschaft entwickelt, die jedoch den Umfang dieses Texts sprengen würden. Begnügen wir uns mit zwei Hinweisen: Erstens haben viele Menschen viel Zeit darauf verwendet, Modelle für eine wirklich demokratische, gesunde Gesellschaft zu entwickeln, und zweitens behauptet kein Anarchist, im Besitz einer perfekten Blaupause zu sein. Das letzte, was wir wollen, ist, der Gesellschaft vorgefertigte Schablonen aufzuzwängen. In Wahrheit sind wir uns wohl nicht mal eines Bruchteils der Probleme bewusst, die uns auf dem Weg in eine Gesellschaft, in der Entscheidungen von den Bürgerinnen und Bürgern gemeinsam getroffen werden, begegnen werden. Trotzdem sind wir zuversichtlich, dass die menschliche Findigkeit alle diese Probleme lösen können wird, solange wir nur unseren Grundprinzipien treu bleiben, die bei abschließender Analyse nichts anderes als die Prinzipien von Anstand und Menschlichkeit sind.
Leicht bearbeitete und gekürzte Übersetzung aus dem Englischen.
David Graeber (52), US-amerikanischer Ethnologe und Aktivist, bezeichnet sich seit vier Jahrzehnten als Anarchist. Ausgiebige Feldforschung in Madagaskar schlug sich in einer Promotion an der University of Chicago über Magie, Sklaverei und Gewalt nieder. Graeber war entscheidend an der Gründung der aus der Protestaktion »Occupy Wall Street« hervorgegangenen Occupy-Bewegung beteiligt – die Wochenzeitung »Die Zeit« bezeichnete ihn als deren »intellektuellen Superstar«. Er lehrt Ethnologie am Goldsmiths College der University of London und ist Professor an der renommierten London School of Economics. Seine Bücher verbinden scharfe Analyse mit süffisantem Stil und leidenschaftlicher Argumentation; darin erinnern sie an Horst Stowassers Standardwerk »Anarchie!«. 2008 erschien im Peter Hammer Verlag »Frei von Herrschaft«, im vergangenen Jahr bei Campus »Schulden« sowie »Inside Occupy« und soeben in der Edition Nautilus »Direkte Aktion« sowie bei Random House »The Democracy Project«. Graeber ist Mitglied der weltweiten Gewerkschaftsorganisation »Industrial Workers of the World« und wurde neben Vandana Shiva, Noam Chomsky und anderen in den Interimsausschuss der 2012 begründeten Nichtregierungsorganisation »International Organization for a Participatory Society« berufen.
„Würde“, „Respekt“, „Anstand“. Der Text trieft vor moralischem Vokabular, womit dann auch das Kernproblem des Anarchismus benannt wäre.
Anarchismus = „Gewalt, Chaos und Zerstörung“?
Mit ein wenig Reflexionsvermögen lassen sich auch Aspekte wie einfache Warenproduktion, Tauschgerechtigkeit, Zinskritik und verkürzte Kapitalismuskritik mit dem Begriff assoziieren. Zu den antisemitischen Wucherungen der „Occupy-Bewegung“, als deren „intellektueller Superstar“ David Graeber gilt, hier ein interessanter 2011er Artikel aus dem österreichischen „Standard“:
http://derstandard.at/1319181371952/Occupy-Wall-Street-Die-antisemitische-Schattenseite-der-Occupy-Bewegung
Wieso kommen die Kommentare als Text-Gulasch an?.
@ Benni … „Der Text trieft vor moralischem Vokabular, womit dann auch das Kernproblem des Anarchismus benannt wäre.“
Das stimmt schon. Allerdings ist die Moral oder Ethik des Anarchismus als Ideal definiert, nicht etwa verOrdnet und aufGesetzt, wie in autoritären Staatssystemen. Wir leben in Systemen, in denen Moral knallhart konventionell implementiert ist. Was kommt dabei heraus?
Parasitäres, respektloses und amoralisches Verhalten sind eigentlich die Regel. Wo immer eine Lücke im System gefunden wird, wird diese Lücke ausgenutzt. Wir leben in einer Gesellschaft, in der man um Rechte und Vorteile konkurriert. Wir rivalisieren. Wenn sich nun die Gelegenheit bietet, am restriktiven System vorbei antisozial zu handeln… Man wäre ja dumm, wenn man die Gelegenheit nicht ergreifen würde, auch mal die anderen zu übervorteilen, auszubeuten und zu unterdrücken. Die Gesellschaft wird (im Status Quo) rein durch wirtschaftliche und (zivil-, oder straf-)rechtliche Zwänge und Machtstrukturen in moralische und ethische Muster gepresst. Sozial verantwortliches/ moralisches Verhalten wird im systemischen Druck erzwungen. Eigentlich sind wir in diesen autoritären Systemen grundlegend rivalisierend sozialisiert. Für mich ist das kein Idealzustand. Die Frage verbleibt: Was tun, wenn sich jemand in einem antiautoritären/ anarchistischen Gesellschaftsmodell nicht entsprechend den (moralisch-ethischen) Idealvorstellungen verhält?
Wenn man im Konfliktfall wieder zurückfällt in reaktionär-autoritäre Handlungsmuster, dann hätte man ja das oberste Ideal der Anarchie verraten. Ich denke, dass vor allem „Solidarität“ (oder traditionell christlich „Nächstenliebe“) als Kontingenzformel einer anarchistischen Gesellschaft funktionieren könnte. Wenn nun in einer beobachteten sozialen Interaktion ein Bruch mit der Kontingenzformel „Solidarität“ festzustellen ist/ wenn sich also jemand nachvollziehbar amoralisch oder antisozial verhält, dann wäre es umso wichtiger, gegebene gesellschaftliche Synergien zu nutzen, um entsprechend der gegebenen Möglichkeiten, Schaden voneinander abzuwenden, der aus Fehlverhalten entstanden sein könnte oder zu erwarten wäre.
Jeder, der sich weigert zu helfen würde sich schließlich ebenso „unsolidarisch“ verhalten. Den Gedanken kann man eigentlich auf jede denkbare Situation anwenden, in der es um „Gesellschaft“ oder soziale Interaktion geht.
@Manu: Mir ging es nicht um das Problem, dass Moral aufgedrückt werden kann, sondern dass Moral alleine kaum reichen wird um eine bessere Welt zu schaffen. Wenn erst alle Menschen moralisch einwandfrei werden müssen, damit wir es schön haben, dann wird das nicht passieren. Deswegen brauchen wir Systeme, in denen es im wohlverstandenen Eigeninteresse ist, sich nicht gegen andere zu wenden. Sonst bleibt die bessere Welt ein Appell.
Ich glaube Graeber hat schon recht, Vertrauen ist der soziale Kitt der Gesellschaft. Aber ich glaube man sollte nicht den Fehler machen all unsere Handlungsmotive auf Vertrauen zu reduzieren. Diese Art von Idealismus scheitert an der menschlichen Natur, dem Hang zum Vergleich mit unseren Mitmenschen, der Höllenmaschine der Menschheit. Aus dem Vergleich entsteht Konkurrenz.
Das Konzept Vertrauen (Graeber spricht in seinem Buch „Schulden“ vom Kommunismus) ist komplementär zur Konkurrenz untereinander. So sind auch beide Begriffe völlig inhaltsleer ohne den anderen. Altruistisches Handeln braucht eigennützliches Handeln und umgekehrt.
Es geht also nicht um die Einebnung aller Eigeninteressen sondern um ihre weitestgehende Harmonisierung. Die ist aber in komplexen Gesellschaften völlig unrealistisch, das zeigt sich schon bei der Analyse alltäglicher Beispiele. Ein Dachdecker hat zum Beispiel Interesse daran, dass ein Sturm seinen Nachbarn die Ziegel vom Dach fegt. Man denke an dieser Stelle nur an einen Arzt oder einen Soldaten! Woran haben die wohl Interesse?
(Ich möchte betonen, das ich hier nur die Ambivalenz des Interessenkonflikts Altruismus vs Konkurrenz hervorheben möchte)
Ein weiteres Beispiel wäre der faire, wirtschaftliche Wettbewerb, der positive Wirkung hat.(auch das mag wahrscheinlich idealistisch sein, kurioserweise sind Oligopolisten allerdings nichts anderes als große Konzerne die sich gegenseitig vertrauen, Graeber selbst redet in seinem Buch von Reichenkommunismus)
Es kommt auf den Rahmen an, indem Vertrauen sich entwickeln kann. So unterscheidet sich beispielsweise die Kommunikation in einer Gruppe von 5 Mitgliedern fundamental(!) von der Kommunikation in einer Gruppe mit 25 und es besteht schon fast absolute Anonymität ab dreistelligen Zahlen. Die Kommunikation ist in dem Fall nichtlinear zur Gruppengröße und das ist Vertrauen eben auch.
Ich glaube in uns wohnt sowohl eine kommunistische Seele als auch eine kapitalistische und wir bewegen uns in einer kommunistischen Sphäre wie auch in einer kapitalistischen. Als Familienmitglied und Freund haben wir keine Ahnung wie viel wir unseren Eltern und Freunden schulden und es ist uns auch ziemlich egal. Wohl aber haben unsere Beziehungen zu anderen Menschen außerhalb dieses Kreises einen anderen Charakter. Graeber nennt nur Beispiel aus der ersten Sphäre.
@ Benni
(1) Was spricht gegen Moral? Was gegen Würde, Respekt oder Anstand?
(2) „Deswegen brauchen wir Systeme, in denen es im wohlverstandenen Eigeninteresse ist, sich nicht gegen andere zu wenden“
Benni: Genau dies ist ein Grundprinzip des Anarchismus: Freie Vereinbarungen unter freien Menschen. Also kommt es darauf an, die Vereinbarungen so gut zu treffen, dass beide Seiten keine Nachteile haben bzw. sich nicht gegeneinander wenden.
Danke für die Übersetzung. Ich habe den Artikel auf meinem Blog auch nochmals veröffentlicht:http://faszinationmensch.com/2013/09/20/mit-hoher-wahrscheinlichkeit-bist-auch-du-ein-anarchist/
@Herrmann:
ad 1) dagegen spricht, dass man mit moralischen Begriffen Gesellschaft weder analysieren noch verändern kann.
ad 2) ich hab ja nichts gegen Anarchismus, nur gegen seine rein moralische Begründung, wie sie hier vorgetragen wurde.
@Benni: Warum schreibst Du dann „… das Kernproblem des Anarchismus benannt wäre.“?
Und die Gesellschaft kann mit Begriffen – weder moralischen noch sonstigen – niemals verändert werden!