Fremde Arbeit und freie Entfaltung

neues-deutschland[Erschienen in der Kolumne »Krisenstab« im Neuen Deutschland vom 11.11.2013]

Stefan Meretz über das, was im Leben wirklich wichtig ist und die Mittel und Wege, es zu erreichen

Neuer Kolumnist, neues Thema: Es soll auf diesem Platz künftig auch um die Frage gehen, wie wir uns als handlungsfähige Menschen bewahren und stärken können, wie wir emanzipatorisches Wünschen unter einschränkenden Bedingungen nicht aufgeben müssen. Kapitalismus und Krise sind mitnichten Zustände, die irgendwo da draußen spielen, sondern sie gehen durch mich und uns hindurch – jeden Tag.

Die Sozialarbeiterin Bronnie Ware hat ein Buch über die fünf Dinge geschrieben, die Sterbende am meisten bereuen. Die Antworten werfen auch ein Licht auf die Lebenden. Das Sterben ist ein individueller Prozess, wir gehen den letzten Weg alleine. Es ist eine Rückkehr aus der Gesellschaft, in der wir lebten, in unser innerstes Sein. Viele lesen die Rückblicke von Sterbenden ausschließlich individuell. Das ist auch nachvollziehbar, geht es doch um das eigene gelebte Leben. Es stellt sich jedoch die Frage, was die individuellen Bewertungen mit den gesellschaftlichen Bedingungen zu tun haben, unter denen sie entstanden. Kurz: Was erzählt uns die Reue der Sterbenden über die Gesellschaft?

Bronnie Ware benennt den ersten der fünf Punkte: »Ich wünschte, ich hätte den Mut gehabt, mein eigenes Leben zu leben und nicht das, was andere von mir erwarteten.« Es geht also um Fremdbestimmung. Hier wird sie in Form der Erwartungen anderer ausgedrückt. Wer sind diese anderen, und woher kommen die Erwartungen? Warum fehlte, subjektiv erlebt, der Mut, den eigenen Bedürfnissen zu folgen? Bin nicht auch ich der Andere für die Anderen?

Die nächste Tatsache, die die Sterbenden bereuen, identifiziert den dahinter stehenden Strukturzusammenhang sehr genau: »Ich wünschte, ich hätte nicht so hart gearbeitet.« Die Arbeit erscheint im Rückblick oft als das, was sie mitten im Leben nicht sein darf: eine knechtende, zwanghafte Tätigkeit. Einer der schärfsten Kritiker der Arbeit, Karl Marx, analysiert schneidend: »Der Arbeiter fühlt sich erst außer der Arbeit bei sich und in der Arbeit außer sich. Zu Hause ist er, wenn er nicht arbeitet, und wenn er arbeitet, ist er nicht zu Haus. Seine Arbeit ist daher nicht freiwillig, sondern gezwungen, Zwangsarbeit. Sie ist daher nicht die Befriedigung eines Bedürfnisses, sondern sie ist nur ein Mittel, um Bedürfnisse außer ihr zu befriedigen.« Starker Tobak: Die Arbeit ist Zwang, ist nur Mittel für ein Drittes, die Befriedigung von Bedürfnissen. Doch ist ihre ureigene Bedeutung nicht die kooperative Schöpfung all der Bedingungen, die wir für ein gutes Leben brauchen?

Nimmt die Arbeit, genauer: nimmt die Arbeitskraft die Form der Ware an, so formt sie sich nach jenem fremden Ziel, für das sie als Ware gekauft wird: durch ihre Anwendung aus Geld mehr Geld zu machen. Verdichtung, Druck, Hetze und immer ein bedauerndes »Hätte ich doch nicht so viel gearbeitet«. Den Bedingungen, die dazu führen, dass das eigene Leben nur in einem fremden Korsett gelebt wird, müssen sich alle Dinge, die das Leben eigentlich ausmachen, unterordnen: Gefühle, Freunde, das eigene Glück. So lauten die anderen drei der am meisten bereuten fünf Dinge: »Ich wünschte, ich hätte den Mut gehabt, meine Gefühle auszudrücken«, »… wäre mit meinen Freunden in Verbindung geblieben« und »… hätte mir erlaubt, glücklicher zu sein«. Aber können wir uns erlauben, glücklicher zu sein? Sollten wir nicht froh sein, »Arbeit zu haben« – so wir sie haben? Können wir nicht »außer der Arbeit« bei uns sein, glücklich sein?

Ich versuche, mir immer mehr zu erlauben, einfach glücklich zu sein. Ich versuche, mit meinen Freunden in Verbindung zu bleiben und den Mut zu haben, meine Gefühle auszudrücken. Um das zu erreichen, versuche ich mein eigenes Leben zu leben und so wenig wie möglich zu arbeiten. Aber ich versuche auch zu erkennen, dass das nicht als Vereinzelter geht, sondern nur in Gemeinschaften, die die Zwangsarbeit überwinden wollen, in Assoziationen, in denen »die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist«. Noch so ein visionärer Satz von Karl Marx und Friedrich Engels. Heute verweist er nicht bloß auf die Zukunft einer freien Gesellschaft. Vielmehr kommen neue Entwicklungen der menschlichen Möglichkeit entgegen, die Entfaltung der eigenen Potenzen als Selbstzweck zu leben und nicht länger als Zweck einem fremden Dritten unterzuordnen.

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