Crowdsourced Verfassung für Island geknickt
Was haben sich alle gefreut, als per Telefonbuch zufällig ausgewählte Isländische Bürger*innen ihre Ideen aufschrieben und ein gewählter Bürger*innen-Verfassungskonvent daraus eine Verfassung baute, die dann auch noch in einer Volksabstimmung mit Zweidrittel-Mehrheit angenommen wurde. Island, das Land, das mit Bankenkontrolle, Ressourcen-Commons, Direkter Demokratie u.a.m. ernsthaft Konsequenzen aus dem Bankencrash 2008 zog? Pustekuchen. Ein »demokratisches« Lehrstück — und kein Aprilscherz.
Die alte Verfassung sah vor, dass Verfassungsänderungen von einer doppelten Parlamentsmehrheit mit zwischenzeitlichen Neuwahlen angenommen werden müssen. Also Annahme im alten Parlament, Neuwahl, Annahme im neuen Parlament. Anstatt jetzt über die vom Verfassungskonvent vorgelegte Verfassung abzustimmen — eine rot-grüne Mehrheit war da –, hat das Parlament jetzt eine andere Verfassungsänderung beschlossen: Verfassungsänderungen werden zukünftig nicht mehr mit einer doppelten Parlamentsmehrheit, sondern mit Zweidrittel-Mehrheit im Parlament plus Volksabstimmung mit einem 40%-Quorum (40% der Wahlberechtigten müssen zustimmen) angenommen. Unabhängig von der Bewertung der jeweiligen Abstimmungsverfahren: In der jetzigen historischen Situation Islands bedeutet das faktisch das Ende der crowgesourcten neuen Isländischen Verfassung.
Als lachhafte Randnotiz des totalen Versagens (oder Erfolgs?) des Isländischen politischen Establishments wird das Abstimmungsergebnis der »Verfassungsreform« in die Geschichte eingehen: 25 Ja-Stimmen, 2 Nein-Stimmen und 36 Enthaltungen oder Abwesenheiten. Dass die Konservativen, die bis zum Bankencrash 2008 fast immer am Ruder waren, den Crowdsourcing-Prozess blockieren würden, war eh klar. Aber die sozialdemokratisch-linksgrüne Regierung? Thorvaldur Gylfason, Ex-Mitglied des Verfassungsrats, spricht unverhohlen von einem Putsch, andere von Betrug. Ach ja: Die EU-Kommission hat auch ihre Hände im Spiel. So geht Politik.
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