Wikispeed — verteiltes Autobauen

Wikispeed ist ein Autobau-Projekt. Nicht ein lang erwartetes erfolgreiches Open-Source-Car (oder TREV oder C,mm,n), sondern das potenzielle Killerprojekt für die Autoindustrie wie wir sie heute kennen. Wikispeed baut Autos in verteilten Teams (über 100 Mitglieder in 10 Ländern) nach Methoden, für die vor allem die Stichworte lean, agil und scrum stehen. Wikispeed-Gründer Joe Justice bei TEDx (englisch):

Das hört sich rasant an:

  • Entwicklung des SGT01 in 3 Monaten (default ist 10 Jahre)
  • Erreichung des 5-Sterne-Sicherheitsstandards
  • Fahrleistung über 100 Meilen pro Gallone Sprit (entspricht 1,5 Liter/100km)
  • Modularer Aufbau, Design-Schwerpunkt auf die Verbindungen der Komponenten
  • Leichte DIY-Wartbarkeit (Wechsel des Motors in 10 Minuten, z.B. Umstellung auf Elektro)
  • Kurze Innovationszyklen (Feature-Änderung: 7 Tage, default: mehrere Jahre)
  • Verteiltes Team (120 Mitglieder in 10 Ländern, alles Freiwillige)
  • Paar-Entwicklung (wie in Extreme-Programming)
  • Nutzung freier, kollaborativer Webtools („noch vor fünf Jahren wäre Wikispeed nicht möglich gewesen“)
  • Beteiligung an anderen Projekten „for the social good“

Hier schiebt sich etwas zusammen, dass es zwar alles schon vorher einzeln gab, aber noch nicht in der Kombination für die verteilte Entwicklung und Fertigung eingesetzt wurde. Alles ist noch ganz am Anfang, aber davor muss sich die alte Monster-Autoindustrie fürchten.

Wikispeed verkauft die Prototypen. Eine warenkritische Haltung gibt es nicht. Das ist ähnlich wie bei Open Source Ecology [Update: Seit dem 20.2.2012 kooperieren Wikispeed und OSE direkt]. Es gibt aber eine radikale Haltung zur Entfaltung der produktiven Bedürfnisse: »Keep the morality high«. Übersetzt: Guck darauf, dass alle ihre Fähigkeiten einbringen können und keiner (genauer: kein Paar) durchhängt. In der Freien Software heißt dies: »Have a lot of fun«. Hier bezieht es sich von vorherein auf Teams. Alles ist Kollaboration.

Ist es überraschend, wenn Joe Justice sagt, dass man mit den Wikispeed-Methoden viele ernste Weltprobleme lösen kann? Ist das eine technokratisch Allmachtsvorstellung? Nein, keineswegs. Denn im Unterschied zu tatsächlich technokratischen Lösungen, ist Wikispeed im Kern ein soziales Projekt zur Entfaltung produktiver Bedürfnisse. Es geht um soziale Lösungen, es geht um Selbstentfaltung, die nicht auf Kosten der Entfaltung von anderen läuft. Die kapitalistische Produktion ist ein soziales Problem, das auch nur sozial gelöst werden kann. Das hat Wikispeed intuitiv verstanden. [via]

[Update 29.2.2012]

Joe Justice hat mir auf meine Frage zu den Bedingungen der Teilens im Projekt geantwortet. Meine Zusammenfassung: Wikispeed ist „pragmatisch halb-frei“.

Team-Mitglieder sollen eine Erklärung unterzeichnen, in der neben Haftungsfragen („wenn ein Auto auf den Fuß fällt…“), Absichtserklärungen stehen: nicht mit Wikispeed zu konkurrieren, Geheimnisse (müssen explizit deklariert werden) nicht zu verraten, in Streitfällen nicht vor Gericht zu ziehen, sondern Streits direkt zu schlichten. Beiträge zum Projekt (von Geld, Tun bis Keksen) werden als Spenden angesehen, aber wenn es Gewinne gibt, sollen die nach Entscheidung von Wikispeed an die Mitglieder verteilt werden. Eigene Erfindungen können selbst patentiert werden und, so der Vorschlag, an Wikispeed oder die Public Domain gespendet werden. Ziel aller Aktivitäten sei,  die meisten Erfindungen so schnell wie möglich in die Public Domain zu geben „to make the world a better place“.

Letztlich kommt es also auf das Vertrauen in das Projekt an. Die Erklärung der Team-Mitglieder sollen wohl v.a. die Absichten dokumentieren. Rechtlich einklagbar sind sie kaum. Aus meiner Sicht spiegeln sie das Schwanken zwischen Offenheit/Allgemeinheit und Knappheit/Privatheit ganz gut wieder, mit dem das Projekt pragmatisch umgehen will.

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