»Was will die Keimform-Theorie?«

Das fragt sich Wolfram Pfreundschuh, Autor von kulturkritik.net. Er hat im Kulturkritischen Lexikon einen Eintrag zum Stichwort Keimformtheorie verfasst. Damit setze ich mich im folgenden auseinander.

Die Theorie von der Keimform will diese als eine gesellschaftliche Alternative innerhalb der bestehenden Gesellschaft setzen, die sie von innen her dadurch überwindet, dass neue Gemeinschaften, Güter, Werkzeuge und Ressourcen entwickelt werden und „heranwachsen“, die durch freiwillige Beiträge quasi urwüchsig aus dem Betreiben einer „authentischen“ Tätigkeit, die für sich schon sinnvoll sein will, entstehen und deren Produkte dann als frei verfügbare Gemeingüter gehalten werden.

Wie dieser erste Satz schon Missverständnisse hinsichtlich der sogenannten Keimform-Theorie formuliert, so geht es in Wolframs Text weiter. Es erscheint mir unmöglich, durch Antwort auf einzelne Argumente die Vorstellung zu befördern, worum es in unserer Suche nach Wegen aus dem Kapitalismus und eben der Diskussion über Keimformen einer neuen Vergesellschaftung überhaupt geht.

1. Die Theorie von der Keimform will gar nichts. Eine Theorie kann nichts wollen. Mit ihr kann allerdings ein Gegenstand begriffen, eine reale Entwicklung erfasst, ihre mögliche geschichtliche Bedeutung erkannt werden.

2. Der Gegenstand einer Keimform-Theorie ist die kapitalistische Gesellschaft und zwar unter dem Gesichtspunkt seiner möglichen Aufhebung. Die zu beantwortende Frage ist, ob in dieser Gesellschaft Elemente im Entstehen sind, die in sich die Potenz tragen, den Kapitalismus aufzuheben. Wäre dies nicht der Fall – dies wusste schon Marx – so müssten alle Versuchte, die bürgerliche Gesellschaft aufzuheben, Don Quichotterie sein.

3. Um überhaupt sinnvoll nach derartigen Elementen fragen zu können, ist eine Hypothese erforderlich: eine Vorstellung, was ein aufgehobender Kapitalismus wäre. Wie der aufgehobene Kapitalismus genannt wird – Kommunismus oder auch Commonismus – ist unerheblich, es geht um eine Gesellschaft der allgemein-menschlichen Emanzipation oder auch Reich der Freiheit. In dieser Gesellschaft werden die sozialen Beziehungen der Menschen nicht über etwas ihnen fremdes Drittes hergestellt, über Strukturen, die zwar von den Menschen geschaffen, sich ihnen gegenüber aber verselbständigen.

Die Vergesellschaftung im aufgehobenen Kapitalismus kann also nicht in der Art wie in aller bisheriger Geschichte erfolgen, also auch nicht über Wert/Geld, nicht über Staat, Ideologien, Religionen. In dieser Gesellschaft – auch dies Marx – ist die freie Entwicklung eines jeden die Voraussetzung für die freie Entwicklung aller. Diese Bedingungen können nur dann erfüllt werden, wenn auch die materiellen Voraussetzungen menschlicher Existenz durch eine solche Form von Tätigkeit hergestellt werden, die für die Akteure selbst ein Lebensbedürfnis ist, wenn kein Zwang erforderlich ist, sie zu dieser Tätigkeit zu bringen. Wenn man eine solche Gesellschaft für unmöglich hält, dann ist es auch sinnlos über eine Aufhebung des Kapitalismus zu diskutieren. Können wir uns also auf die genannten Charakteristika einer freien Gesellschaft einigen oder beginnt hier schon die grundsätzliche Differenz zwischen uns und Wolfram? Ich bin mir da nicht sicher.

4. Das Entstehen dieser Gesellschaft setzt benennbare geschichtliche Bedingungen voraus. Diese sind Produkte bisheriger Epochen, in den Gesellschaften knechtender Arbeitsteilung herrschte. Diese Elemente seiner Aufhebung entstehen insbesondere auf einer hohen Entwicklungsstufe des Kapitalismus, sie sind heute leichter zu erkennen als von allen früheren antikapitalistischen Bewegungen. Den Arbeiterbewegungsmarxismus und die realen Versuche, mittels einer proletarischen oder sonstigen Macht, die neue freie Gesellschaft zu begründen, sehe ich heute als Ausdruck des Mangels eben jener Elemente an, deren Existenz für die Aufhebung des Kapitalismus und jeglicher Knechtung unerlässlich ist.

Der Versuch, den Weg in eine freie Gesellschaft zu gehen mittels Gewalt, den stummen Zwang der Ökonomie, also Warenproduktion eingeschlossen, durch Avantgardismus, durch eine Diktatur einer Klasse oder/und einer Partei, durch staatliche oder sonstige bürokratische Regulierungen, zeigte, dass die sich als kommunistisch verstehenden großen sozialen Bewegungen notwendig infiziert waren durch eben jede knechtenden Formen gesellschaftlicher Beziehungen (die Selbstopferungen eingeschlossen), die sie glaubten aufheben zu können. Diese Bewegungen gehörten noch vollständig der alten Gesellschaft an und mussten notwendig immer wieder in diese hineinführen. Ich stehe also nicht (mehr) auf dem Standpunkt des alten Materialismus, der die Gesellschaft in zwei Teile teilt, von der der eine sich über den anderen erhebt, die Menschen also einer Führung durch eine besondere Kraft bedürfen, um die allgemeinmenschliche Emanzipation zu erreichen.

5. Das bedeutet, dass reale Bewegungen, die den jetzigen Zustand der bürgerlichen Gesellschaft und aller Formen von Knechtschaft und Unterdrückung aufheben, nur solche sein können, die von vornherein die neuen Formen der Vergesellschaftung als Bedingung ihrer Existenz hervorbringen: freie Assoziationen, an denen die Individuen als Menschen teilhaben, nicht als Lohnarbeiter, nicht als Klassenkämpfer, Staatsangestellte, Berufsrevolutionäre. Diese Teilhabe ist ihnen selbst Bedürfnis, ist nicht auf einem, ihnen fremden bzw. erst zukünftig erreichbaren Zweck gerichtet, nicht auf die Erfüllung einer ihnen äußerlichen Notwendigkeit, nicht auf den Ausschluss anderer Menschen (wie in jeglicher Warenproduktion unvermeidbar).

Es sind solche Bewegungen, solche Formen von Assoziationen, die, eine neue Gesellschaft konstituierend, unbegrenzt verallgemeinerbar wären. Die Individuen haben an ihnen von vornherein als universelle teil. Es bedarf keiner äußerlichen Kraft, die diese Gesellschaftlichkeit erst herstellen müsste. Insofern Marx die Notwendigkeit einer Diktatur des Proletariats begründete, eines Staates, der die alte Gesellschaft aufheben und die neue konstituieren würde, um sich in diesem Prozess dann selbst aufzulösen, folge ich ihm nicht (mehr). Jeglicher Avantgardismus ist mir fremd geworden. Die historischen Erfahrungen der fehlgeschlagenen Sozialismusversuche und den heutigen Spätkapitalismus vor Augen bedarf man heute solcher Annahmen nicht mehr, um einen Übergang in eine freie Gesellschaft zu denken.

6. Gibt es also in der jetzigen Gesellschaft die so charakterisierten sozialen Räume, solche Assoziationen, die Elemente einer möglichen neuen Vergesellschaftung sein können? Auch wenn sie gegenüber den herrschenden Gesellschaftsstrukturen noch marginal sind, selbst wenn sie im Alten und für dies noch funktional sind, auch dann, wenn sie von eindeutig kapitalistischen Unternehmen genutzt werden, die sich in der Verwertung von Wert einen Konkurrenzvorteil verschaffen, es kann und muss gefragt werden: Haben sie die Chance sich zur dominierenden Produktions- und Lebensweise zu erheben, eine neue Gesellschaft zu schaffen? Genau darum geht es auf keimform.de und anderswo.

7. Zum Argument der „Naturwüchsigkeit“. Wolfram bezeichnet damit vermutlich ein Handeln mit mangelnder Einsicht in gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge, ein chaotisches Tun mit unabsehbaren Folgen. Ob aber die freien Assoziationen existieren und sich in die von uns angenommene Richtung entwickeln oder nicht, das hängt nicht davon ab, ob es eine Keimform-Theorie gibt oder nicht (von einer Führung, die die noch unwissenden Menschen entsprechend organisiert, ganz zu schweigen). Die Keimform-Theorie ergibt sich als Selbstverständnis, als Selbstkritik derjenigen Individuen, die an solchen Assoziationen teilhaben und/oder die an der herrschenden Lebens- und Produktionsform leidend nach Alternativen suchend sich wenigstens geistig auf sie beziehen.

Auch wenn sie mehrheitlich nicht darüber nachdenken, was dies gesellschaftlich und geschichtlich bedeutet, die Menschen, die an solchen Assoziationen teilhaben, die deren Produkte nutzen oder sich als nachdenkliche Menschen auf diese beziehen – sie tun es nicht nur nicht blind. Sie tun es auf eine Weise, die in einer freien Gesellschaft die allgemeine Form des Produzierens und Verbrauches sein müsste. Vereinigungen, die nicht diese Möglichkeit in sich tragen, sind eben keine solche Keimformen. Die beteiligten Menschen bringen kein Opfer zugunsten eines höheren Zwecks. Sie befriedigen vielmehr bewusst – eben nicht blind – je ganz bestimmte eigene Bedürfnisse. Es sind Bedürfnisse, die zwar die ganze Geschichte durchziehen (oft nur auf einen kleinen Teil der Menschen beschränkt bzw. auf einen kleinen Teil der je individuellen Tätigkeiten), die aber erst mit der bürgerlichen Zivilisation enorm zunehmen. Es sind Bedürfnisse, die von der Verwertung von Wert zunehmend gebraucht, aber eben gerade innerhalb der kapitalistischen Warenproduktion immer wieder zurückgewiesen und beleidigt werden.

Es sind die Bedürfnisse, schöpferisch tätig zu sein, etwas für sich selbst und andere Nützliches zu produzieren und dies nutzen, verbrauchen zu können, ohne ein Äquivalent bieten zu müssen.

Es ist das Bedürfnis gesellschaftlich anerkannt zu sein und zwar als Individualität und nicht kraft Geldes, der Verfügung über fremde Arbeitskraft.

Damit verbunden ist es das Bedürfnis an entsprechender bewusster Gestaltung der je eigenen gesellschaftlichen Wirklichkeit, das Bedürfnis, selbst solche sozialen Strukturen (mit)zugestalten, die eine nachhaltige Existenz und Lebensweise ermöglichen. All diese Bedürfnisse werden in jenen Assoziationen, die wir meinen, befriedigt und gefördert. Ist das nicht der Fall, dann existieren sie nicht.

Wie eng oder wie weit der Horizont jeweils gefasst ist: von unbewusster, sinnloser, naturwüchsiger Tätigkeit, von der Produktion von Strukturen, die über die Produzenten selbst und über andere Menschen herrschen, kann keine Rede sein.

8. Keimformen einer solchen Vergesellschaftung zeigen sich also in jenen Assoziationen und nur in denen, an denen die Menschen eben nicht als bürgerliche Individuen teilhaben. Wolfram argumentiert so, als kenne er freie Individuen bloß als solche, die im Sinne einer freien Gesellschaft eben eines nicht sind: frei. Bei ihm muss es offenkundig eine dritte Kraft geben, die den Tätigkeiten der Individuen einen allgemeinen Sinn gibt, eine entsprechende Regulierung. Freie Assoziationen hingegen sind solche, die keine Waren produzieren, sondern eben nützliche Dinge, virtuelle oder sachliche Gegenstände, an denen die Individuen nicht als Arbeiter oder Unternehmen teilhaben, mit denen sie nicht irgendetwas Drittes erreichen wollen (etwa Verwertung von Wert, Erlangung von Lohn, Verfügung über andere Menschen). Sie agieren nicht in irgendeiner, andere Menschen nach entsprechenden Kategorien ausgrenzenden Weise, nicht als Angehörige einer Nation, einer Ethnie, eines bestimmten Geschlechts oder irgendeiner anderen grenzziehenden Bestimmung.

Es geht um die Befriedigung der je eigenen Bedürfnisse durch den Gebrauch oder Verbrauch der Produkte, die ich und meinesgleichen herstellen, um den Genuss an der Entfaltung der eigenen Schöpferkraft und der Kraft der eigenen Assoziation und aller anderen. Derart individuelle Bedürfnisse sind zugleich auf die Allgemeinheit gerichtet und von dieser getragen. Der Zusammenhang zwischen den so agierenden Individuen muss nicht erst durch einen ihnen gegenüberstehenden Mechanismus, den Markt, den Zugang zu Geld, die staatliche Regulierung usw. hergestellt werden.

Dem bürgerlichen Individuen, erscheint genau dies absurd: Es kann nur in Äquivalenzen und Machtkategorien denken, an Freiheit nur im Rahmen des bürgerlichen Rechts und des von ihm gesicherten Eigentums, etwa an Produktionsmitteln und eigener Arbeitskraft. Die Einwände, die Wolfram hier geltend macht, zeigen, dass es ihm schwer fällt, solche Assoziationen und menschliche Bedürfnisse zu denken, in denen es unmittelbar für die je eigene Bedürfnisbefriedigung funktional ist, sich daran zu beteiligen und anderen Menschen das gleiche zu ermöglichen, auch deren Individualität entsprechend zu befördern.

9. Mit einem hat Wolfram recht: Mit dem bürgerlichen Individuum und auf der Grundlage bürgerlichen Rechts lässt sich weder ein aufgehobener Kapitalismus denken noch der Übergang dahin. Aber nur mit diesem Individuum rechnet er. Wenn Wolfram unter „Sinn“ versteht, dass die Tätigkeit von Menschen zivilsationsverträglich oder -förderlich ist, dann stimmt dies: Die Individuen als Lohnarbeiter, als Selbständige, als Genossenschaftler einer warenproduzierenden Vereinigung, als Unternehmer usw. produzieren immer sinnloser.

Bloß genau das Unbehagen an dieser Tatsache, zunehmend auch das klare Wissen davon, treibt Menschen, die noch zu Erwerbstätigkeit gezwungen sind, zugleich dazu, sich Räume zu schaffen, in denen ihre menschlichen Bedürfnisse und schöpferischen Fähigkeiten nicht mehr beleidigt werden. Sie befriedigen sich einen Teil der Bedürfnisse nach nützlichen Dingen außerhalb der Warenproduktion, von Erwerbsarbeit, von Kauf und Verkauf in freien Assoziationen und mittels deren Produkte. Dieser Riss, dieser Gegensatz geht durch viele Individuen unserer Zeit hindurch: Hier haben sie gezwungenermaßen Teil an der immer menschheitsbedrohlicheren kapitalistischen Warenproduktion samt der sie beleidigenden Herrschaftsformen (das gibt es auch und gerade da, wo die Individuen und deren Teams die Herrschaft zunehmend an sich selbst exekutieren müssen). Zugleich streben sie nach dem Eigentlichen – der freien menschlichen Betätigung. Dieses Streben ist nicht irgendwie „authentisch“ wie Wolfram kritisch anmerkt. Es ist nicht einfach ein dem menschlichen Wesen natürlich innewohnendes Abstraktum, das sich hier zur Geltung bringt. Die Annahme, dass „die Menschen per se schon gerne füreinander beitragen“, wie Wolfram unterstellt, ist keineswegs erforderlich.

Als Ausdruck der allgemeinen menschlichen Potenz, die allgemeinen Lebensbedingungen selbst herzustellen, gehen diese Bedürfnisse in unserer Zeit massenhaft aus der kapitalistischen Warenproduktion auf heutigem Niveau selbst hervor. Es ist ein Zustand erreicht, da der menschliche Reichtum immer weniger durch die Masse der verausgabten Arbeitskraft konstituiert wird und an dieser (am Wert) gemessen werden kann. Es sind vielmehr die wissenschaftlichen, künstlerischen, kooperativen Fähigkeiten von Produzenten selbst, die freie Entfaltung ihrer Individualitäten, die über den Reichtum entscheiden. Der Spätkapitalismus bringt diese Fähigkeiten und entsprechende Bedürfnisse hervor, nutzt sie und – beleidigt, vernichtet sie immer wieder. Er presst sie in die Form der Produktion ein, der Warenproduktion, zwingt sie, dem Zweck des Ganzen zu dienen, der Verwertung von Wert. Das Streben nach Freiheit, das partiell in den freien Assoziationen befriedigt und gefördert wird, ist in dieser realen Widersprüchlichkeit begründet. Es ist nicht etwas abstrakt „authentisches“.

Das alles ist glänzend mit Marx zu begreifen, insbesondere mit den Grundrissen, mit seiner Darstellung desjenigen historischen Punktes der Entwicklung kapitalistischer Produktivität und Technik bis zu jenem Umschlag, da die Wertproduktion zur miserablen Grundlage der Reichtumsproduktion wird, da die Produzenten aus dem unmittelbaren Fertigungsprozess heraustreten und immer mehr zu Organisatoren, Direktoren, Designern der Produktion werden. Hierfür gibt es heute massenweise fassliche Bilder. Wolfram will anstelle der kapitalistischen Politischen Ökonomie eine ökonomische Politik setzen, die Herrschaft der Kommunen über die Wirtschaft, dies unter anderem mittels Preispolitik, also bei Beibehaltung der Warenproduktion, des Geldes. Siehe Ergänzen statt Ausbeuten! Auf dem Weg in eine internationale Kommunalwirtschaft. Er argumentiert wie Proudhon, der den Kapitalismus bei Beibehaltung der Warenproduktion in vor- oder frühkapitalistischen Formen aufheben bzw. bändigen will. Die tatsächliche Aufhebung von Lohnarbeit und Warenproduktion ist Wolfram bisher offenkundig undenkbar. Vielleicht ermutigt ihn aber die Beschäftigung mit den heutigen tatsächlichen Möglichkeiten beides aufzuheben, diesen Schritt zu gehen und damit auch die Frage nach den Keimformen zuzulassen.

10. Die neue Gesellschaft kann nicht entlang das Kampfes zwischen den Klassen dadurch entstehen, dass die unterdrückte über die bisher herrschende Klasse siegt. Nicht der Kampf um einen guten, vernünftigen Staat, der die Menschen weise führt, führt dahin. Auch nicht eine noch so kluge Kommunalverwaltung bei Beibehaltung der Warenproduktion, der Lohnarbeit durch Preis- und andere politische (also herrschaftsförmige) Regulierungen den Zusammenhalt, die Harmonie des Ganzen sichert. (Ergänzen statt Ausbeuten!)

Der Widerspruch zwischen den Formen der alten Vergesellschaftung, dem entsprechenden knechtischen/herrischen Denken und Fühlen, und den Keimformen entfaltet sich zunehmend in den Individuen selbst. Der Tendenz einer über die festgelegte Arbeitszeit hinausgehende vollständige Vereinnahmung des Menschen durch den Verwertungsprozess, seiner totalen „Verwurstung“ (R. Kurz), der permanenten und allseitigen Selbstzurichtung der Individuen als Ware – in den prekär lebenden Selbstständigen, den Ich-AGs ist das auf die Spitze getrieben – steht das zugleich zunehmende Streben nach Begrenzung eben jenes Unterwerfens unter den stummen Terror der Ökonomie entgegen, das Streben nach einer Schaffung einer Gegenwelt in solchen Tätigkeiten und Assoziationen, in denen der Mensch als Mensch teil hat. Insofern es eine solche Praxis konstituiert, in der die Schaffung freier sozialer Räume mit der freien Entfaltung der eigenen Individualität und eben einer partiellen Befriedigung auch materieller Bedürfnisse außerhalb der Warenproduktion zusammenfällt, stärkt das Individuum die Keime des Neuen in sich selbst und in seinen Assoziationen.

11. Der Zwang zur Erwerbstätigkeit bzw. zum Zugang von Alimenten ist damit noch lange nicht aufgehoben. Doch in dem Maße, in denen dies Bedürfnis nach Freiheit zunimmt und indem die freien Assoziationen immer weitere Bereiche der Warenwelt auch dadurch bedrängen und als historisch überlebt nachweisen, dass sie „wertlose“ nützliche Dinge zum allgemeinen Gebrauch herstellen, wächst die materielle Basis dieses neuen Denkens und Fühlens.

In dem Maße, in dem diese neue Produktions- und Lebensweise den Bereich virtueller, wissenschaftlicher, künstlerischer Produkte überschreitet, in dem sich weltweit die Commons-Bewegungen ausweiten und parallel dazu die kapitalistische Warenproduktion die menschliche Zivilisation immer offenkundiger gefährdet, wird es leichter und drängender, die Elemente einer neuen Vergesellschaftung zu erkennen und praktisch zu nutzen.

In dem Maße, in dem die kapitalistischen Unternehmen auch noch gezwungen sind, die ihr fremden Formen freier Tätigkeiten in ihre eigene Reproduktion zu implantieren, reißen sie den Widerspruch noch auf, bestätigen sie die Überlebtheit der Warenproduktion, der Erwerbsarbeit, agieren sie als Totengräber ihrer selbst.

12. Welche konkreten Bewegungsformen diese Widersprüchlichkeit annimmt, kann nicht gesagt werden. Die Tendenz geht dahin, dass sich die freien Assoziationen auch die materiell-sachlichen Voraussetzungen ihrer Produktion und Existenz schaffen. Wenn auch diejenigen Produkte, die sich im Gegensatz etwa zur freien Software, zu Wikipedia usw. in der Nutzung auch verbrauchen, in freier Weise hergestellt werden, also auch die bisher kapitalistisch produzierten Produktionsmittel durch solche ersetzt werden, die in freier Tätigkeit hergestellt werden, ist die Hegemonie der neuen Vergesellschaftung hergestellt. Erst dann kann man von einer neuen Gesellschaft sprechen. Dann erst beginnt eine neue Form der menschlichen Geschichte.

Vorerst kann es „nur“ um die Keimformen dieser Entwicklung gehen und um die Entwicklung einer entsprechenden Theorie, die das begreift. Immerhin.

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