Diskursfigur 9: Jenseits der Politik
Das ist Teil 9 einer Serie wöchentlich erscheinender Artikel, deren englische Fassung im Journal of Peer Production erscheinen soll. In den Artikeln versuche ich zehn Diskursfiguren zu beschreiben, wie sie im Oekonux-Projekt in über zehn Jahren der Analyse Freier Software und commons-basierter Peer-Produktion entwickelt wurden. Mehr zum Hintergrund im einleitenden Teil. Bisher erschienene Teile: 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8.
Diskursfigur 9: Jenseits der Politik
[English]
Da es bei der commons-basierten Peer-Produktion vor allem um die Entfaltung einer neuen Produktionsweise geht, ist sie grundsätzlich eine nicht-politische Bewegung. Hierbei wird Politik als eine Aktivität verstanden, die sich an den Staat und seine Institutionen richtet und Forderungen nach Veränderungen in eine gewünschte Richtung stellt. Eine solche Politik basiert auf Interessen, die im Kapitalismus stets gegeneinander gerichtet sind. Wenn eine Gesellschaft entlang der Inklusions-Exklusions-Muster strukturiert ist (vgl. Diskursfigur 7), dann ist es auch notwendig, gemeinsame Partialinteressen zu organisieren, um sie auf Kosten von anderen gemeinsamen Partialinteressen durchzusetzen. In diesem Sinne sind Commons jenseits von Politik, da sie grundsätzlich nicht im Modus von Interessen, sondern im Modus von Bedürfnissen agieren.
Es ist wichtig, zwischen Bedürfnissen und Interessen zu unterscheiden. Bedürfnisse müssen in Form von Interessen organisiert werden, wenn der übliche Realisationsmodus der des Ausschlusses der Interessen von anderen ist. Commons basieren auf einer Vielfalt von Bedürfnissen der Beteiligten, die als Quelle der Kreativität genutzt wird. Die Vermittlung dieser verschiedenen Bedürfnisse ist Teil des Prozesses der Peer-Produktion. Es ist nicht notwendig, die Bedürfnisse zusätzlich in Form von Interessen zu organisieren, um sie anschließend politisch zu realisieren. Stattdessen wird die Bedürfnisvermittlung und -befriedigung direkt erreicht.
Ein Aspekt, der dies verdeutlicht, ist die Frage der Hierarchien. Normalerweise sind Hierarchien Teil der kapitalistischen Warenproduktion. Daher ist ein üblicher linker Topos jegliche Hierarchien abzulehnen, um Herrschaft zu vermeiden. Das jedoch ignoriert die Tatsache, dass Hierarchien als solche keine Herrschaft erzeugen, sondern die Funktion, die Hierarchien in einem bestimmten Kontext haben. In einem Unternehmen repräsentieren Hierarchien unterschiedliche Interessen, zum Beispiel die Interessen der Arbeiter_innen und die des Managements (vgl. Diskursfigur 5). In der Peer-Produktion könnte eine Hierarchie jedoch unterschiedliche Niveaus von Kompetenz, Erfahrung oder Verantwortlichkeit abbilden, was von denen geteilt wird, die jemanden in einer herausgehobenen Position akzeptieren. Ein Maintainer zu sein bedeutet nicht, unterschiedliche Interessen auf Kosten der Projektmitglieder zu verfolgen. Ein solches Projekt würde nicht gedeihen. Im Gegenteil, ein Maintainer ist in der Regel erpicht darauf, so viele aktive und kompetente Projektmitglieder zu integrieren wie möglich. Das verhindert nicht Konflikte, aber Konflikte können so auf der Grundlage der gemeinsam geteilten Projektziele gelöst werden.
Commons-basierte Peer-Produktion erfordert nicht, die Bedürfnisse der Menschen in Form gegensätzlicher Interessen zu artikulieren, sie ist daher jenseits von Politik.
Politik finde ich hier zu restriktiv betrachtet. Politik ist mehr als das Durchsetzen von Interessen – sollte es zumindest sein.Wikipedia:Als Polis (altgriechisch πόλις pólis ‚Stadt, Staat‘; Plural Poleis von πόλεις póleis) wird gewöhnlich der antike griechische Stadtstaat als städtischer Siedlungskern Stadt (ἂστυ asty) mit einem dazugehörigen Umland (χώρα chōra), dessen Bewohner rechtlich nicht von den Einwohnern des urbanen Zentrums unterschieden waren, bezeichnet. Die typische Polis war eine Bürgergemeinde bzw. ein Personenverband und definierte sich nicht primär über ihr Territorium, sondern über ihre Mitglieder.
oder mit Hannah Arendt:
Politik ist Kommunikation unter den Bürgern und Bürgerinnen über öffentliche Angelegenheiten.
Menschen, die wollen, dass sich Commons ausbreiten, haben daran doch ein (politisches) Interesse, das sich gegen andere Interessen (wie dem der Einhegung der Commons) durchsetzen muss, oder nicht? Also wäre zu unterscheiden: die von dir dargelegte Nicht-Notwendigkeit von Interessenspolitik in der commons-basierten Peer Produktion und die notwendige Politik zu deren Durchsetzung gegenüber ihr widerstrebenden Interessen. Oder nicht?
@Hermann: Da muss ich doch mal die Politik verteidigen: Nur über öffentliche Angelegenheiten zu schwätzen, ähm, zu kommunizieren, ist etwas dürftig. Es geht doch um Durchsetzung bestimmter Interessen. Es soll sich schließlich was verändern. Das heißt also: handeln.
@Guido: Ich stimme dir zu: Solange wir Politik und Interessen haben, müssen wir unsere Interessen auch politisch zur Geltung bringen. Aber das richtet sich gewissermaßen auf die Rahmenbedingungen, nicht auf die commonsbasierte Peer-Produktion selbst. Die cbPP kann nicht »politisch eingeführt« werden oder sowas, sondern sie wird gemacht. Punkt.
Da andere Gruppen in der interessenzerspaltenen Gesellschaft das vielleicht (nein: ganz sicher) uncool finden und eine Ausbreitung zu verhindern trachten, müssen wir uns auch politisch verteidigen. Aber das isses dann auch: Verteidigung. Wie bei ACTA: Gegen ACTA vorzugehen ist ein Akt der Verteidigung. Das schöpft nichts neues.