Die soziale Steuerung von Open Source (Teil 8)

[Letzter Teil des Interviews mit George Dafermos: Teil 1, Teil 2, Teil 3, Teil 4, Teil 5, Teil 6, Teil 7]

Neal Gorenflo: Manche Leute behaupten, dass die FOSS-Community wenige originelle Produkte hervorbringt, sondern vor allem gut darin ist, freie Versionen von privatwirtschaftlich produzierten innovativen Produktion zu entwickeln. Wie siehst du das?

Das ist tatsächlich ein weit verbreiteter Irrtum. Manche glauben, dass FOSS-Techniken nur Reimplementierungen von in proprietären Programmen schon umgesetzten Funktionen sind. Dabei betrachten sie aber nur einige Projekte und übersehen, wie reichhaltig und vielseitig das FOSS-Ökosystem insgesamt ist. Dieses Vorurteil habe ich zum Beispiel von mehreren Akademiker_innen aus den Sozialwissenschaften gehört. Warum denken sie das? Weil sie ihre Computer im Wesentlichen zum Schreiben wissenschaftlicher Texte und zur Vorbereitung von Vorträgen und Vorlesungen verwenden. Bei „Software“ denken sie daher an Microsoft Office und ähnliche Produkte. Aus ihrem Wissen, dass Microsoft Office älter als OpenOffice ist, leiten sie dann ab, dass FOSS generell nur schon vorhandene Funktionalität reimplementiert. Aber das ist eine unzulässige Verallgemeinerung aufgrund einer viel zu kleinen Anzahl betrachteter Fälle.

Das World Wide Web ist die allererste voll funktionsfähige Implementierung eines Hypertextsystems (zuvor gab es nur Vorstellungen davon, wie solche Systeme eventuell funktionieren könnten). Es ist vielleicht die wichtigste FOSS-Innovation, wenn man seinen Einfluss auf unser Leben betrachtet. Seine Kernbestandteile waren von Anfang an Open Source und seine Entwicklung lebte von den Beiträgen einer lose verbundenen Community von Enthusiast_innen aus aller Welt. Weitere Beispiele – auch wohlbekannte – sind leicht zu finden: Es war und ist bis heute Microsoft, das die Funktionen des Mozilla-Browsers nachahmt. (Mozilla verwendete beispielsweise Browser-Tabs schon Jahre vor Microsofts Internet Explorer.)

Ein anderes Beispiel sind Gnutella und Freenet, die ersten komplett dezentralisierten Peer-to-Peer-Systeme. Oder BitTorrent, dass das Filesharing revolutioniert hat und von mehr Menschen genutzt wird als Facebook und YouTube zusammen. BIND, die am häufigsten eingesetzte DNS-Software, und Sendmail, über das die Mehrheit aller Mails verschickt wird, haben ihre jeweiligen Anwendungsgebiete nicht nur neu geschaffen, sondern dominieren sie bis heute. Auch wenn man sich Software mit begrenzteren Zielgruppen betrachtet, kann man erkennen, wie reichhaltig und vielfältig FOSS ist. Viele von IT-Expert_innen in ihrer täglichen Arbeit eingesetzte FOSS-Tools haben kein proprietäres Gegenstück. Ganz zu schweigen von der meiner Ansicht nach größten Innovation von FOSS: der Prozess, in dem sie entwickelt wird – eine Produktionsweise, die sich von der in der proprietären Softwareindustrie zuvor verwendeten radikal unterscheidet.

Neal Gorenflo: Die wechselseitigen Beziehungen zwischen FOSS und der Marktwirtschaft sind komplex und nuancenreich. Was sind diesbezüglich die verbreitetsten Missverständnisse?

Häufig wird FOSS für unvereinbar mit der Marktwirtschaft gehalten. Dieses Missverständnis resultiert aus der Annahme, dass FOSS durch die freie Zirkulation im Internet entwertet wird, da sie nicht mehr auf dem Softwaremarkt ge- und verkauft werden kann. Manche Leuten denken, dass man mit frei geteilten Produkten kein Geld verdienen kann. Sie übersehen dabei, dass ein wichtiger Teil der Marktwirtschaft in der Bereitstellung von Dienstleistungen liegt und dass sich der Dienstleistungssektor sehr wohl um ein frei verfügbares Produkt herum entwickeln kann. Firmen wie IBM, das seine ehemaligen Produktionsstätten ausgelagert und sich zum Beratungsunternehmen gewandelt hat, stellt FOSS vor keine Probleme. Im Gegenteil ist die Anpassung von FOSS an die Bedürfnisse von Firmenkunden das Herz ihres Wirtschaftsmodells geworden.

In einer Dienstleistungsgesellschaft ist es sinnvoll, ein Produkt zu verschenken, um auf dieser Grundlage allerlei profitable Dienstleistungen anbieten zu können. So unterstützt FOSS die SaaS-Industrie (SaaS: Software als Dienstleistung). Für Firmen, die FOSS zur Entwicklung eigener Softwareprodukte verwenden, gilt im Grunde dasselbe. Diese Firmen nehmen die mittels Peer-Produktion entwickelte Funktionalität als mächtigen Ausgangspunkt für die Erstellung ihrer eigenen Produkte. Viele Anbieter von Statistiksoftware machen es beispielsweise so.

Das einzige Missverständnis, das vielleicht noch weiter verbreitet ist, ist die Annahme, dass FOSS mit der Marktwirtschaft perfekt harmoniert. Marktwirtschaft kann nur aufrecht erhalten werden, wenn die Produktionsweise auf den Austausch auf dem Markt ausgerichtet ist. Sie setzt voraus, dass für den Markt produziert wird statt für unmittelbaren Nutzen. Hingegen ist FOSS das Ergebnis einer Produktionsweise, die auf die Bedürfnisbefriedigung der Produzent_innen selbst abzielt. FOSS wird entwickelt, um benutzt und nicht, um verkauft zu werden. Zu FOSS-Projekten trägt man bei, weil man ein konkretes Anliegen hat oder ein Problem lösen will, und macht das Ergebnis darüber hinaus für andere frei verfügbar.

Diese Praxis bildet den Kern einer Ökonomie des Teilens. Deren Grundprinzip besteht darin, das, was man über die persönlichen Bedürfnisse hinaus produziert, frei mit anderen zu teilen. Das steht natürlich im Widerspruch zu der marktwirtschaftlichen Notwendigkeit, Mehr-Produkte zu horten und zu verwerten. FOSS eröffnet durchaus einige unternehmerische Möglichkeiten. Die langfristige Ausweitung der für FOSS charakteristischen Produktionsweise – und der darauf aufbauenden Ökonomie des Teilens – steht aber im Gegensatz zur organisatorischen Logik der Marktwirtschaft und untergräbt so ihre Grundlagen.

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