»Lasst uns die Spielregeln ändern«

[Aus: »Oya – anders denken. anders leben«, Nr. 01/2010, PDF-Download, Lizenz]

Nachfolgend dokumentiert ist die etwas längere Abschrift des Gesprächs als die im Oya-Heft abgedruckte Version. Die komplette Fassung kann als Video ansehen und angehört werden.

Johannes Heimrath: Am liebsten würde ich unser Gespräch bei den großen globalen Gemeingütern wie Klima beginnen lassen – letztlich bei der Erde, die zweifelsfrei unser größtes Gemeingut ist –, und von dort in die Details gehen. Aber ich fürchte, da wir alle sehr persönlich mit dem Thema Gemeingüter verbunden sind, werden wir nicht so strukturiert vorgehen können.

Mein eigener Hintergrund beginnt beispielsweise mit dem schönen Wort Allmende, das zwar von klein auf kannte, weil man in den Dörfern meiner Kindheit noch wusste, was das war, aber erst Anfang der Siebzigerjahre nahm ich es im Zusammenhang mit meinen Forschungen zur deutschen Musik des Mittelalters bewusst wahr. Die mittelalterliche Allmende schien viel mit den Idealen von uns damaligen Graswurzel-Pionieren gemeinsam zu haben. Ich bin der Idee der Allmende treu geblieben, und die jüngere Generation in meiner Großfamilie hat mit Freunden sogar einen Verein gegründet, der Land „freikaufen“ will, um es Gemeinschaften zur Verfügung zu stellen. Wie seid ihr persönlich zum Thema der Gemeingüter gekommen?

Silke Helfrich: Ich bin während meines langjährigen Aufenthalts in Lateinamerika auf das Thema gestoßen. Vor allem in Mittelamerika und Mexiko – dort arbeitete ich als Büroleiterin der Heinrich-Böll-Stiftung – haben wir mit Partnern aus der ökologischen Bewegung zusammengearbeitet. Im Jahr 2004 veranstalteten wir eine Konferenz, in der die Bewegungen zum Schutz der Biodiversität und der humangenetischen Ressourcen miteinander ins Gespräch gebracht werden sollten. Dass man sich heute das Geschlecht seiner Kinder aussuchen kann (in Zukunft wird man sich deren Intelligenzgrad aussuchen können) und dass im großen Stil Saatgut manipuliert und patentiert wird, sind ja parallele Entwicklungen. Die Auseinandersetzung damit konnte man leicht auf einen gemeinsamen Nenner bringen. Aber dann meinte ein Kollege aus Deutschland: Ihr müsst noch Leute aus der Bewegung für freie Software dazu holen. Ich verstand nicht wirklich warum, folgte aber dem Rat. So haben wir eine argentinische Software-Aktivistin eingeladen, die – verwundert von „den Ökos“ eingeladen zu werden, zunächst 2 Tage lang aufmerksam zuhörte. Am Schluss der Konferenz klappte sie ihren Laptop auf und warf einen Satz an die Wand: „Für wen arbeitet Ihr Computer?“. Sie berichtete, wie ihr die Konferenz die Augen geöffnet hatten, denn das, was im Computerbereich passiert – die „künstlichen Verknappungen“, die Manipulationen, die zweifelhaften Geschäftsstrategien– und letztlich der Kontrollverlust der Nutzer über ihre Kommunikation – war den Problemen der Umweltbewegten sehr ähnlich. Das war wie eine Offenbarung: In der folgenden Diskussion wurde deutlich, dass die Ressourcen, über die wir hier sprechen, ob es sich um Software oder Wasser, Saatgut oder Wissen handelt, ein und die selbe Kategorie von Ressourcen ist. Es sind Gemeinressourcen oder um den englischen Fachbegriff zu nutzen: common pool resources. Ihr gemeinsames Kennzeichen ist, dass sie essenziell für unser Leben und unsere Entwicklung sind. Sie tragen zur Ernährung oder zur Entfaltung unserer Persönlichkeit bei, niemandem sollte der Zugriff auf solche Ressourcen verwehrt bleiben.

Wobei ich mich bei dem Begriff Ressourcen gleich korrigieren möchte. Gemeingüter sind nicht in erster Linie nur materielle oder immaterielle Ressourcen. Sie definieren sich erst über unser gemeinsam erarbeitetes Verständnis im Umgang mit ihnen. Es ist spannend, dass es für solche Zusammenhänge seit Jahrhunderten den aus dem althochdeutschen stammenden Begriff der Allmende gibt. Heute muss dieser Begriff ausgehend von unserer jeweiligen Lebensrealität wieder neu verstanden und gefasst werden. Ich möchte mit dem was ich machen, einfach dazu beitragen, das zu tun.

Stefan Meretz: Ich komme von einer anderen Seite zum Thema, denn ich gehöre zu diesen Freie-Software-Leuten, bin Ingenieur und Informatiker. Vor etwa zehn Jahren habe ich ein Projekt namens Oekonux mitbegründet. Der Name steht für Ökonomie und GNU/Linux, das mit freier Software entwickelte Betriebssystem. Damals habe ich Prozesse unterstützt, die zu all den großen Dingen im Internet geführt haben, wie wir sie heute kennen: Wikipedia, Linux, freie Software. Ich ahnte aber nicht, dass wir all dies später Commons oder Allmende nennen würde. Irgendwann kam der Begriff der Wissensallmende auf, und mir wurde deutlich: Software ist eine Form von Wissen genauso wie Enzyklopädien gespeichertes Wissen sind. Alle Dinge, die wir schaffen, enthalten Wissen, unsere ganze Welt ist vergegenständlichtes, menschliches Wissen, denn wir drücken uns aus in Dingen, die wir herstellen. Hinterrücks kamen dann für mich die natürlichen Ressourcen ins Spiel. Ich begann, auch Wasser oder Saatgut, also primär technisch nicht hergestellte Dinge, als Allmende zu begreifen. Sicherlich war mir schon vorher klar, dass wir auf dieser Erde leben und ihre Ressourcen endlich sind, aber erst viel später konnte ich die Intuition bestätigen, dass beide Arten von Allmenden zusammengehören. Commons sind eben nicht nur Ressourcen, sondern beinhalten auch den sozialen Prozess beim Erschaffen der Dinge oder beim Nutzen der Ressourcen. Der Umgang mit Commons – darüber habe ich dann lange nachgedacht – unterscheidet sich sowohl von der frühen Form der Subsistenz als auch von der jetzt gängigen Form der Warenproduktion. Ich frage mich, welche Rolle die Commons in Zukunft sowohl im Hinblick auf Subsistenz-Ansätze als auch in Bezug auf die Art der Warenproduktion, wie wir sie heute im Kapitalismus haben, spielen können.

Johannes: Nur kurz ein Einschub: Darf ich anmerken, dass wir nicht „auf“ der Erde leben, sondern „in“ der Erde? Wir atmen die Luft, und nur, weil wir so daran gewöhnt sind, in dieser Atmosphäre zu leben, machen wir uns nicht klar, dass die Luft noch Teil des Erdkörpers ist. Die Atmosphäre ist noch Stoff, kein Nichts. Wir sind Wesen, die am Boden eines Luftozeans wandeln – vielleicht ähnlich wie die Hummer am Meeresboden. Davon hat der Naturphilosoph David Abram in seinem Aufsatz „The Perceptual Implications of Gaia“ geschrieben. Ich denke, das Bild vom „in der Erde leben“ ist eine wichtige Veränderung unserer Perspektive, wenn wir über Gemeingüter sprechen, denn wenn deutlich wird, dass wir nicht außen auf einem Objekt reiten, sondern zur Gänze in einem größeren Körper leben, entsteht ein neues Gefühl für Gemeinsinn.

Julio Lambing: Interessante Bemerkung. Das passt zu meiner Redensart: „Ich habe nicht einen Körper, sondern ich bin ein Körper“. Meinen Körper kann ich genauso wenig wie Tiere und Pflanzen als pure Ressource betrachten. Ich spreche mit dem Baum, ich spreche mit der Landschaft, vieles in der Natur kann ich intensiver wahrnehmen, wenn ich es als personelles Gegenüber denke. Nicht im Sinne einer menschlichen Person, aber im Sinne eines sozialen Verhältnisses mit meinem Gegenüber und einem Gefühl wechselseitiger Beziehung und Verantwortung. Ich war schon als Jugendlicher an ökologischen Themen und der Gestaltung zwischenmenschlicher Beziehungen interessiert: Was ist ein Umgang miteinander, der wohlwollend ist und glücklich macht? Ab Mitte der 90er habe ich mich dann in der Wirtschaft aufgehalten. Es ist enorm wie stark unsere Art des Wirtschaftens unser Denken und die Gestaltung unserer Beziehungen beeinflusst. Seit zehn Jahren arbeite ich nun am Thema Klimaschutz, der größten wirtschaftlichen Herausforderung unserer Zeit. Das Gemeingut Klima zu schützen, bedeutet einen Umbau unserer Industriegesellschaft, denn unsere technologische Infrastruktur beruht im entscheidenden Maße auf dem Prinzip der Verbrennung. Diese Veränderung unserer Wirtschaft wird sich auf das menschliche Verhalten auswirken – und umgekehrt. Die Herausforderung Gemeingüter zu pflegen und zu bewahren verlangt neue Formen des zwischenmenschlichen Umgangs.

Silke: Mir gefällt dieses Wort vom Gegenüber. Erst die Idee, dass bei den Commons nicht die Ressource, sondern die Qualität der Beziehung zu einem (oder mehreren) Gegenüber entscheidend ist, macht das Paradigma der Allmende (der Gemeingüter) aus. Interessant ist auch Folgendes: Wir haben bisher alle in irgend einer Form ausgedrückt, dass wir dieses Paradigma der Gemeingüter „spüren“ können, dass es viel um Intuition geht. In meinen Vorträgen mache ich immer wieder die Erfahrung, dass Menschen quasi intuitiv an das Thema „andocken“. Ich erzähle viele Geschichten, sei es von der freien Software oder von der gemeinschaftlich in meinem Heimatort in der Rhön ausgerichteten Kirmes. Die Leute fügen dann ihre eigenen Geschichten hinzu. Sie gleichen „die große Erzählung von den Gemeingütern“ mit ihrer eigenen Geschichte und ihren eigenen Geschichten ab. Indem in jeder Geschichte ein Gegenüber greifbar wird, wird dieses „Andocken“ an die Logik der Gemeingüter jeder und jedem möglich.

Noch etwas gefällt mir in dieser Debatte um die „Modernisierung der Allmende“: Die Menschen verlieren sich nicht in der Abstraktion des Staats oder der unsichtbaren Hand des Marktes, sondern sie gelangen im Nachdenken über Sozial- und Arbeitsbeziehungen, die Allmenden erhalten, erweitern und pflegen, zu der ganz praktischen Frage: Wie kooperiere ich mit dir? Und wie kooperierst du mit mir? Wie kriegen wir etwas gemeinsam auf die Beine gestellt? Das ist viel greifbarer als die Frage: Wie strukturieren wir den Staat um? Oder wie reformieren wir das UN-System? Die Commons bieten uns Anknüpfungspunkte im Hier und Jetzt, in der eigenen Lebensrealität, sei es im Programmieren freier Software oder in der Arbeit in einem interkulturellen Garten. Ich glaube, dass alle Menschen damit Erfahrung haben.

Johannes: Wirklich alle Menschen? Die Behauptung, dass die Commons alle angehen, steht oft im Raum, weil sie so elementar sind. Ich kann den Ausdruck „alle Menschen“ aber kaum unbefangen hören, weil ich sofort an Afrika, Indien, China, Grönland oder Feuerland denke, und mich frage, wie unser global werdendes Bewusstsein – ich glaube, wir haben noch kein globales Bewusstsein, sind aber vielleicht auf dem Weg dorthin – alle Menschen umfassen kann. Die Diversifizierung der verschiedenen Anschauungen über das Gemeinsame lässt derzeit kaum politisches Handeln zu – siehe Kopenhagen –, deshalb möchte ich den Punkt „alle Menschen“ gerne genauer beleuchten.

Stefan: Ich möchte die Betonung auf „alle“ gerne unterstützen. Ich glaube, dass Commons tatsächlich alle angehen und konsequent alles, was wir tun, in Frage stellen, wenn wir es entsprechend betrachten. Zum Beispiel stellen sie die Art unseres Wirtschaftens in Frage. Wirtschaft ist eine Art und Weise, wie wir Güter für unser Leben produzieren, aber es ist eine nach bestimmten Regeln funktionierende, gesonderte Sphäre, in denen Untersuchungen zufolge lediglich ein Drittel unserer lebenswichtigen Güter produziert werden. Zwei Drittel der Dinge, die wir für das Leben brauchen – und dabei geht es nicht nur die stofflichen Güter, sondern auch um das Herstellen sozialer Beziehungen, von Kultur oder das Pflegen von Kindern und alten Menschen – entsteht außerhalb dessen, was wir heute Wirtschaft nennen. Solche Dinge können zum Teil gar nicht in der Wirtschaft abgewickelt werden, weil die Logik eine andere ist. In der Wirtschaft gibt es eine Zeitsparlogik, aber in der Familie eine Zeitverausgabungs-Logik. Es ist schön, wenn wir Zeit haben. Das ist das Gegenteil von Wirtschaft. Würde man eine Familie wirtschaftlich betreiben, wäre sie sofort tot. Der Blick auf die Commons stellt uns vor Augen, wie wir die vielen Dinge, die wir zum Leben brauchen, eigentlich ohne Wirtschaft herstellen, wie wir die vorhandenen Ressourcen, die „Quellen“ unseres Lebens, so umgestalten, dass wir unsere Bedürfnisse befriedigen können. Der Blick auf die Commons fordert uns heraus, die Regeln, nach denen wir unsere Lebens-Ressourcen herstellen, explizit zu formulieren. In der Wirtschaft sind die Regeln implizit, da herrschen die unsichtbare Hand des Markts und die Logik des Geldes. Im Rahmen der Commons heißt es: Handelt und verhandelt miteinander und gestaltet soziale Regeln, die an euren tatsächlichen Bedürfnissen orientiert sind.

Julio: Ich möchte dir einerseits gerne zustimmen, andererseits aber auch widersprechen in Bezug auf die Definition von Wirtschaft. Wirtschaft ist nicht zwingend Markt-Wirtschaft. Der griechische Begriff Oikos, wovon sich Ökonomie ableitet, meinte ursprünglich das Haus, den Hof, der für den Lebensunterhalt der Familie sorgt, und darin war das Familienleben einbezogen. Das ist eine ganz andere Art von Wirtschaft als die moderne Marktwirtschaft oder gar der zeitgenössische Finanzmarkt. Wirtschaft ist auch nicht zwingend Geld-Wirtschaft, also über Geld vermitteltes Wirtschaften.

Ich stimme dir zu, dass es Bereiche gibt, die wir nicht über den Markt oder über Geld regeln sollten. In Bezug auf Wirtschaft habe ich mir eine Regel meines Wildnis-Lehrers zu eigen gemacht, sie heißt: Verlasse einen Ort besser, als du ihn angetroffen hast. Das lässt sich auf jede Form des Wirtschaftens übertragen.

Stefan: Das glaube ich nicht.

Julio: Es mag sein, dass dieses Prinzip in einer Marktwirtschaft nicht unbedingt angewendet wird, aber generell kann man es überall anwenden. Wenn ich einen Ort besser verlasse, als ich ihn vorgefunden habe, pflege ich Gemeingütern und generiere gemeinschaftlichen Wohlstand.

Johannes: Mich hat der Begriff des Wirtschaftens, wie Stefan ihn verwendet hat, ebenfalls etwas stutzig gemacht. Ich bin Unternehmer, und zugleich lebe ich seit mehr als 30 Jahren in einer intentionalen Gemeinschaft, die sich als Wahlfamilie versteht und gemeinsam wirtschaftet. Wir praktizieren das, seit wir 1976 als Freunde zusammengekommen sind, das war für uns damals so selbstverständlich, dass wir es nicht mal thematisieren mussten. Erst später fiel uns auf, dass unsere gemeinsame Ökonomie von außen als etwas Besonderes, gar Fremdes wahrgenommen wurde. Im Lauf der Zeit haben wir Begriffe für unsere Praxis gefunden, beispielsweise sagen wir seit einem gemeinsamen Nachdenken mit der Matriarchatsforscherin Heide-Götter-Abendroth „Schenkökonomie“ zu unserer Art des Wirtschaftens. Ich betone dabei bewusst den Wortteil „Ökonomie“, denn es ist tatsächlich die ursprünglichste Form von Wirtschaft. Sie besinnt sich darauf, was heute unser zentrales Thema ist.

Kürzlich sagte zu mir jemand in einem Workshop: Eine gelbe Rübe kostet doch Geld! Das stimmt natürlich nicht. Die Rübe selbst ist nicht bezahlbar. Was bezahlt werden kann, ist nur der menschliche Einsatz, sie anzubauen und zum Markt zu bringen. Das ist eine Binsenweisheit, aber diese Binsenweisheit ist heute so weit entfernt von unserer Wirtschaftswelt, dass wir das Geschenk, das am Anfang jeder Geld-Ökonomie steht, nicht erkennen. Für mich ist diese Einsicht unmittelbar mit dem Commons-Thema verknüpft. Stefan sagt, nur ein Drittel ist Geldwirtschaft. Meinem Gefühl nach macht die auf Geld basierende Ökonomie allerhöchsten zehn Prozent von all dem aus, was wir uns gegenseitig ständig schenkend zur Verfügung stellen und was uns ständig geschenkt wird. Das Wachsen einer gelben Rübe ist ja keine menschliche Leistung, sondern eine Gelbe-Rüben-Leistung, eine Leistung des Erd-Logos.

Jeder Mensch, der diesem sozialen Organismus seine Leidenschaft und Solidarität schenkt, und das geschieht in enormem Ausmaß – niemand war verpflichtet, Wikipedia zu erfinden –, leistet Unbezahlbares. Alle Menschen sorgen für ihre Kinder, Leben nutzt beständig alle vorhandenen Ressourcen, das Leben ist eine ständig in sich zurückfließende Quelle. Kürzlich habe ich gelesen: Seit Leben existiert, war jedes Kohlenstoffatom meines Körpers schon 600 Mal und jedes meiner Phosphoratom schon 8000 mal in einem anderen Organismus verkörpert – als Ressource, als Baustein. Womit bin ich also schon seit Ewigkeiten verknüpft? Bringen diese Atome nicht die Information all dieser Organismen auch in meinen Organismus ein? Wenn wir in solchen Zusammenhängen denken, formt sich vielleicht eine neue Sprache, und wir beginnen, anders zu wirtschaften. Wenn wir beginnen, uns als derart elementare soziale Wesen zu begreifen, entsteht auch ein anderer ökonomisch-sozialer Organismus.

Stefan: Eine der wichtigsten Erkenntnisse, die ich im 2000 bei der Arbeit an freier Software hatte, war: Es handelt sich nicht um eine Geschenk-Ökonomie, die nur funktioniert, wenn wieder zurück geschenkt wird. Es handelt sich gar nicht um Ökonomie. Bei der freien Software existiert die Koppelung zwischen Geben und Nehmen nicht. Wenn ich freie Software programmiere, dann tue ich das, weil ich es will. Wenn ich einen Artikel in Wikipedia erfasse, tue ich das, weil ich etwas zu einem Thema weiß, und nicht, weil ich morgen dafür die Wikipedia lesen darf. Ökonomie beinhaltet immer ein Tausch-Element, und davon will ich wegkommen. Die Menschheit ist reich genug, alle notwendigen Dinge so zu produzieren, dass wir alle gut leben können, und zwar nach folgendem Prinzip: Wir nehmen uns das, was andere geschaffen haben, und sie haben es aus keinem anderen Grund geschaffen, als dass sie es schaffen wollen, weil ihre individuelle Selbstentfaltung darin besteht, weil sie ihre Persönlichkeit darin ausdrücken, Dinge in die Welt zu setzen – Gedanken, Tassen, Computer, Käsekuchen, Gemälde oder was auch immer.

Johannes: Das ist in meinem Verständnis Schenken.

Stefan: Aber dann ist es keine Ökonomie mehr, weil Geben und Nehmen nicht gekoppelt sind.

Johannes: Beim bedingungslosen Schenken, das die Schenkökonomie kennzeichnet, besteht kein kausaler Zusammenhang zwischen Geben und Nehmen. Schenken ist ein autopoietischer Vorgang, eine Entäußerung, ein Selbstausdruck, der dich tief befriedigt, weil du weißt, dass dir von Anfang an geschenkt wird. Du würdest dich nicht nur gesellschaftlich darauf verlassen können, sondern in dem tiefen Vertrauen leben, dass du in dieser Erde geborgen bist. Darin liegt ein noch tieferes Vertrauen als das Vertrauen in den sozialen Organismus. Daraus kann dann systematisch auch ein Staat werden.

Silke: Wir haben schon öfter diskutiert, ob die Entkopplung von Geben und Nehmen ein Prinzip der Commons sein könnte, aber das würde ich nicht sagen. Reziprozität kann sehr vielgestaltig sein, so vielgestaltig wie die Gemeinschaften, die Regeln zur Nutzung von Ressourcen miteinander aushandeln können, aber diesen Regeln wird immer die eine oder andere Form der Reziprozität eingeschrieben sein.

Stefan: Reziprozität ist etwas, das in den Menschen genuin immer angelegt ist, das muss man sich gar nicht extra ausdenken. Das ist doch nur ein anderes Wort für Gegenseitigkeit und Kooperation?

Silke: Richtig. Würdest du also sagen, dass eine Gemeingüter-Ökonomie gar keine Ökonomie – so wie Du sie verstehst – mehr ist?

Stefan: Das ist meine ganz persönliche Utopie, ich sehe in einem neuen Verständnis für Commons den Keim dieser Utopie gelegt. Das hängt mit meinem Zugang über die freie Software zusammen, wo sich das aufgrund der Nicht-Stofflichkeit des Gemeinguts so gut realisieren lässt. Aber mich interessiert, ob sich dieses Prinzip nicht auch auf andere Bereiche übertragen lässt.

Julio: Für mich ist auch interessant, dass bei freier Software tatsächlich oft etwas um seiner selbst Willen geschaffen wird, nicht aus einer wirtschaftlichen Motivation – aber dass diese Software dennoch enorme wirtschaftliche Effekte hat: Bald werden wohl alle europäischen Verwaltungen so klug sein, freie Software einzusetzen. Ein anderer wirtschaftlicher Effekt der Kombination von neuen Medien und Allmende ist ebenso interessant: Wir werden neue Formen von Musikproduktion erleben werden, bei der die Musikveröffentlichung auf Tonträger nicht mehr direkt bezahlt wird, so dass wir neue Wege finden müssen, Musiker zu entlohnen. Es stimmt: Wenn jemand Leistungen und Zeit für ein Kulturgut opfert, hat er diese Zeit nicht zur Verfügung, um andere lebenswichtige Dinge zu tun und sich sein täglich Brot zu besorgen, deshalb bietet sich der Verkauf als Dienstleistung an. Aber dieser Austausch muss zwar nicht zwingend über eine finanzielle Entlohnung organisiert sein – und das kann wirtschaftlich, kulturell und zwischenmenschlich vorteilhaft sein. Auf der anderen Seite kann es auch vorteilhaft und war es auch oft vorteilhaft, solchen Austausch über Geld zu organisieren. Auch Geld ist ein Gemeingut, ein von den Menschen geschaffenes Zivilisationsprodukt, und es ist ihre Aufgabe, es sorgsam zu pflegen, damit es zum Wohl der Menschen arbeitet anstatt Geldstrukturen zu schaffen, die systemisch Schaden im menschlichen Gewebe anrichten.

Das gilt auch für die Schäden, die eine unkluge Markwirtschaft in unserer Kultur anrichten kann. Ich kritisiere z.B. seit Jahren ein europäisches Netzwerk an Firmen, das über eine teilweise legale, aber auf jeden Fall hinterhältige Vertriebsmethode Tausende von Kleinunternehmer abzockt und so wertvolles Vertrauen zerstört. Es ist erstaunlich, wie viele Menschen aber den Kleinunternehmern die Schuld daran geben. Nach dem Motto: “Selber schuld, wer so blöd ist.” In unserer Marktwirtschaft hat sich eine Mentalität etabliert, in der man es irgendwie in Ordnung findet oder sogar zum guten Ton gehören lässt, den anderen übers Ohr zu hauen. Solches Verhalten fällt nicht in eine derart verwerfliche moralische Kategorie, die jeden klar sagen lässt: „Das darf nicht sein!“ Man würde zwar niemals seine Freunde abzocken, aber wenn es um das wirtschaftliche Prinzip geht, wird es toleriert. Daran merken wir, dass mit unserer Kultur etwas schief läuft.

Johannes: Wenn es uns gelänge, als Menschen Freunde zu werden, hätten wir dann unter anderem solche Auswüchse nicht?

Julio: Eine aristotelische Frage… Die moderne, liberale Marktgesellschaft produziert solche Rücksichtslosigkeiten. Das hängt mit dem ehernen Gesetz des grundlegenden liberalen Individualismus zusammen: “Ich kümmere mich allein um das, wie mir es geht, und du hast dich gefälligst nicht einzumischen, solange ich dich nicht schädige.” Das sorgt für eine Haltung, in dem alle auf ihre Freiheiten achten und nur wenig darauf, wie es den anderen geht – mitverursacht auch dadurch, daß in komplexen Zivilisationen die immer länger werdenden Interdependenz-Ketten die Auswirkungen unseres Handelns Zug um Zug anonymer machen werden, sodaß ich deren Wirkungen immer weniger bedenken kann. Je näher wir uns sind, je mehr wir reale Freunde werden, desto höher ist der soziale Druck, weil wir uns voreinander verantworten müssen. Um Gemeingüter zu pflegen braucht es Gemeinschaften, und das funktioniert um so besser je näher die Gemeinschaft ist. Dann gibt es viele unmittelbare Möglichkeiten des Eingreifens, wenn sich jemand daneben benimmt, zum Beispiel wenn er einen Kinderspielplatz verdreckt. Überall dort, wo sich die Mitglieder einer Gemeinschaft Rede und Antwort stehen müssen, können Gemeingüter besonders gut funktionieren.

Johannes: Ich finde es interessant, dass diese Grundlagen, wie gemeinschaftliches Handeln gelingt, ein ganz altes Wissen sind, vielleicht sogar ein evolutionär sehr altes Wissen, denn auch im Tierreich finden wir solche lokalen Regelkreise und erfolgreiche Kooperationsmodelle. Ich erlebe Kooperation und Beziehungsfähigkeit durchaus auch im Wirtschaftsleben, zu vielen Geschäftsfreunden halten wir echte Beziehung, und unser Geschäft ist Ausdruck unserer Verbindung. Aber ist Freundschaft allein schon eine Basis, um das alte Paradigma zu verlassen?

Stefan: Nein, das Problem sind nicht die fiesen Zocker. Die gibt es, keine Frage, und für die Zockerei gibt es auch keine Rechtfertigung, aber lassen wir das beiseite. Bereits das normale Funktionieren der dominanten Form Marktwirtschaft enthält einen Wachstumszwang. Es ist nicht nur dieser Zwang, der jeder nachhaltigen Entwicklung Hohn spricht, Wirtschaft bedeutet noch mehr. Du hast festgestellt: Das ist doch alles altes Wissen. Durch welche Logik konnte das alte Wissen so überdeckt worden? Meine Erklärung ist: Das liegt am Wirtschaften. Wirtschaften enthält eine Eigenlogik, die sich gegen uns gewendet hat, und die Inkarnation der Eigenlogik ist das Geld. Alle rennen dem Geld hinterher, ob Unternehmer, Angestellter oder Selbständiger, sie müssen alle dem Fetisch Geld huldigen. Wir sind alle in einem Kreislauf gefangen, der dem Fetischprinzip folgt. Wir sind gezwungen, dem Geld hinterzulaufen, sonst können wir uns in der Marktwirtschaft nicht reproduzieren. Wir müssen das fatale Wachstumsprinzip bedienen, das alle moralische, politischen oder sonstigen Bemühungen, die Erde nachhaltig für uns und ihre anderen Bewohner gesund zu erhalten, konterkariert. Deshalb musste Kopenhagen scheitern, ebenso wie alle weiteren Kopenhagens. Deshalb müssen die Commons stärker in alle politischen Debatten eingebracht werden, und das heißt auch, dass wir die Wachstumslogik kritisieren müssen. Wir brauchen eher ein Wachstumsreduzierungsgesetz, wenn die Politik etwas für das Klima tun möchte. Dem Klima konnte nichts besseres passieren, als die Wirtschaftskrise. Wir brauchen mehr Fantasie, wir können sicherlich nicht morgen aufhören, Unternehmerinnen oder Angestellte zu sein, aber wir sollten ein Bewusstsein dafür entwickeln, dass das Geld keine geniale Erfindung der Menschheit ist, sondern ein Fetisch, der sich gegen uns verselbständigt hat.

Silke: Auch mir fällt es sehr schwer, das Geld als Gemeingut zu begreifen. Es repräsentiert eine Trennung, die Kernprinzip der Einhegung der Gemeingüter ist: die Trennung der Menschen von den Ressourcen, die sie zur Reproduktion ihrer Lebensverhältnisse brauchen. Von den Dingen, die uns nähren, heilen, die uns inspirieren und tragen. Wohl kann ich mir aber vorstellen, Geld für Gemeingüter zu „instrumentalisieren“. Gemeingüter zu diskutieren ist ja keine Entweder-Oder-Debatte, es geht nicht um Markt versus Staat, Kooperation versus Konkurrenz oder mit Geld versus ohne Geld. Der Diskurs der Gemeingüter ermöglicht uns gerade, Dinge zu integrieren und in ihren komplementären Verhältnissen zu betrachten. Wir sollten uns in dieser Debatte fragen, zu welchem Zweck wir alle uns zur Verfügung stehenden Ressourcen, auch das Geld, einsetzen sollten, sowohl die von der Erde geschenkten als auch die von uns selbst über die Jahrhunderte geschaffen Ressourcen. Um diesen Zweck gesellschaftlich wieder neu zu definieren, reicht es meiner Meinung nach nicht aus, an das gute Gewissen zu appellieren, Sozialbeziehungen zu intensivieren oder darauf zu setzen, dass alle freiwillig aus Spaß an der Sache etwas produzieren. Je unüberschaubarer oder abstrakter die Systeme werden, umso schwieriger wird es, sich auf den guten Willen zu verlassen. In anderen Worten: Wir brauchen auch Investitionen in Gemeingüter. Und dass diese Investitionen in Gang kommen, setzt ein Umdenken voraus.

Mein Plädoyer ist deshalb, eine Mehrfachstrategie zu fahren: Lasst uns die wichtigen Prinzipien der Commons – möglichst direkte Kommunikation, möglichst überschaubare Gemeinschaften, in denen Dinge außerhalb des Markts hergestellt und verfügbar gemacht werden und Vieles mehr – in der Praxis umzusetzen, aber lasst uns gleichzeitig dort, wo es unübersichtlich wird, wo Fragen der Globalisierung, des internationalen Handelns oder der Neu-Eichung unserer Rechtssysteme weltweit ins Spiel kommen (unsere Rechtssysteme sind ja so geeicht, dass nicht Gemeingüter, sondern die Profitmaximierungslogik reproduziert wird), alle verfügbaren globalen Schalthebel umlegen. Lasst uns systematisch fragen: Was bedeutet das Prinzip der Gemeingüter für die Reform von Rechtssystemen, für die Redefinition der Rolle des Staats? Wie und wo können wir Geld so einsetzen, dass es vorwiegend der Reproduktion und Pflege der Gemeingüter dient? Wir müssen die Regelwerke, denen wir derzeit unterliegen, in Richtung der Gemeingüter lenken. Dafür wiederum ist auch die gelebte Praxis wichtig. Die General Public License für freie Software und freie Inhalte, die mich verpflichtet, bei Nutzung eines freien Werks auch das darauf aufbauende neue Werk wiederum mit einer GPL Lizenz zu versehen, wenn ich es verbreite. Das ist ein gutes Beispiel, wie sich Commons viral reproduzieren. Das kann man auch für andere Gemeinressourcen denken – etwa für lokal angepasstes Saatgut.

Julio: Ich muss noch einmal auf die Vielfalt von Wirtschaft zurückkommen. Zum Beispiel Geld: Es kann ganz unterschiedliche Geldformen geben wie Bartersysteme, Währungen mit negativem Zins, regional begrenzte oder digitale Währungen. Durch die Informationstechnik werden Menschen zukünftig eine Vielzahl an Währungen ihren Einsichten und Bedürfnissen gemäß erfinden und gestalten. Das ändert aber nichts an dem Prinzip „Geld als universelles Tauschmittel“. Die Existenz eines solchen Tauschmittels hat viel Reichtum hervorgebracht, zum Beispiel auch diesen Kugelschreiber, ein absolutes High-Tech-Produkt. Das ist durch Geld möglich geworden – ich sage nicht, dass es ausschließlich durch Geld möglich geworden ist. Auch unsere jetzige Marktwirtschaft ist für mich keine heilige Kuh, es kann hinterfragt werden, ob der Zinszwang sinnvoll ist, ob die gegenwärtige Form des Eigentums an Produktionsmitteln sinnvoll ist oder der Wachstumszwang, der als Ideologie ja erst ab den 20er-Jahren stark wurde. Wenn wir aber über Wachstumsentschleunigung sprechen, sollten wir auch bedenken, dass selbst der Bereich der freien Software unkontrolliert wächst. Menschen sind durch den Trieb geprägt, immer mehr zu produzieren. Das gefällt mir auch: Ich bin kein Asket und mag lieber eine Zivilisation, die noch bunter und pfiffiger wird.

Stefan: Das Wachstum bei der freien Software ist bedürfnisorientiert. Das ist etwas anderes, als wenn du für den Markt produzierst. Frei hergestellte Dinge halten, was sie versprechen, bei Marktprodukten ist in der Regel die Haltbarkeit begrenzt, um möglichst Konsum und Wachstum anzukurbeln, was sachlich unsinnig ist.

Silke: Nun, wenn ich mich mit der bedürfnisgesteuerten Produktion oder dem „bedürfnisgesteuerten Wachstum“ im Zusammenhang der Bewegung für freie Software beschäftige, stelle ich mir die Frage, warum dieser Bewegung die Entkopplung vom Verschleiß der natürlichen Ressourcenbasis noch kein Anliegen geworden ist. Mit dem, was da frei wächst (freie Soft-und Hardware, dasselbe gilt für die Freie Kulturszene), wird der Ressourcenverschleiß nämlich ebenso beschleunigt, wie in der proprietären Softwareproduktion. Deswegen ist es wichtig, die Vieldimensionalität der Commons-Debatte auch in die Freie Software Community und die ganze „digital commons“-Szene hineinzutragen. Es müssen mehr Brücken entstehen, insbesondere die Brücke zwischen der Wissensallmende und den natürlichen Gemeingütern.

Dann würde vielleicht die General Public Licence (GPL) nicht nur das Prinzip der Freiheit viral weitergeben, sondern – ich phantasiere – sie würde beinhalten, dass jedes hergestellte freie Produkt weniger Ressourcen verbrauchen muss als das vorige. Wir müssen uns noch sehr abmühen, die unterschiedlichen Communities und ihre Denkweisen zusammenzubringen. Wenn es uns aber gelingt, Prinzipien gemeingütergerechter Produktion (also einer Produktion, die sich ihrer Produktionsbedingungen bewusst ist und Gemeingüter ständig erweitert und reproduziert) tatsächlich in unsere Praxis und in die rechtlichen Rahmenbedingungen einzuschreiben, wären wir einen Schritt weiter. Ich bin nicht sicher, ob es dabei um universelle Prinzipien geht …

Stefan: Doch, es sind universelle Prinzipien. Jede Community kann jeweils ihre passenden Gemeingüter-Regelungen entwickeln. Wir müssen nur erkennen, dass alle im Prinzip der Gleiche tun, dass sie in ihrer jeweiligen Art der Gemeingüter-Pflege einem allgemein menschlichen Prinzip folgen, nicht den Vorgaben bestimmter Interessen-gruppen. Diese Universalität muss zur Geltung kommen.

Silke: Aber wie? Ich frage mich oft, wie wir einem Journalisten die Frage beantworten könnten, warum das Stärken der Gemeingüter heute eine sinnvolle politische Strategie ist. Dabei komme ich auf ein Bild, das mehr als die üblichen vertikalen und horizontalen Linien und Denkweisen in einer politischen Diskussion erlaubt: Ein großer Platz, auf den alle aus unterschiedlichen Straßen und Gässchen treten können, sie finden ihren eigenen Weg über den Platz, manche begegnen sich dort, andere nicht und alle suchen sich selbst ihren Ausgang. Alle eint das Bewusstsein, dass sie das Recht haben, diesen Platz zu betreten und zu nutzen, aber dass es ein Raum ist, den sie teilen müssen. Dieser Facettenreichtum und die Möglichkeit, mit Hilfe die Gemeingüter-Perspektive Schneisen in die Marktwirtschaft zu schlagen, hat einen großen Charme und so vielfältige Andock-und Bündnisoptionen, dass es tatsächlich zu einer großen gesellschaftlichen Bewegung kommen könnte.

Johannes: Dazu ist notwendig, dass wir noch etwas ganz Elementares in unsere Perspektive aufnehmen: Nehmen wir meinen Kugelschreiber mit seinem Aluminium-Gehäuse als Beispiel. Am untersten Ende seiner Produktionskette steht ein Mensch und bedient ein lärmendes und kreischendes Gerät, das in irgendeinem Land Brocken aus der Erde bricht. Das ist ein Knochenjob. In der Aluminium-Fabrik stehen weitere Leute, deren Arbeit keiner von uns je freiwillig tun würde. Diese Menschen haben gar nicht die Freiheit, zu genießen, dass sie ein Produkt herstellen, dass die Kreativität anderer stärkt, weil sie ein perfektes Schreibwerkzeug bekommen. Zu diesen Menschen habe ich keine Verbindung, ich kann ihm auch gar nichts schenken. Ohne solche Menschen in unserem Bewusstsein zu haben, hängt unsere Diskussion im luftleeren Raum. Es ist ein guter Gedanke, jedem Produkt die Verpflichtung einzuschreiben, ressourcenschonender zu sein als das vorige. Das findet in unserer Wirtschaft auch bereits statt, wir haben das Vier-Liter-Auto und die stromsparende Spülmaschine. Aber all das ändert nichts an der Situation des Minenarbeiters, denn hier kommt Jevons’ Paradox ins Spiel: Wen man eine Technologie weiterentwickelt, damit sie Rohstoffe effizienter nutzt, wird sie paradoxerweise mehr Rohstoffe verbrauchen als vorher.

Stefan: Das liegt aber nicht an der Technologie. Wir müssen uns fragen, woher der Zwang kommt, immer mehr herstellen zu müssen?

Johannes: Das kommt daher, dass der Mensch ein Extatiker ist, ein Rauschwesen, er berauscht sich an seinen Erfindungen. Die Mission der Industrialisierung war doch, den Segen über die Menschheit zu bringen – den Segen durch den mechanischen Webstuhl, die Dampfmaschine, die Eisenbahn. All diese Kondratjew-Zyklen deuten doch darauf hin, dass wir als Superorganismus Menschheit ein völlig im Rausch handelndes Ganzes sind. Im Konsumrausch der westlichen Welt nehmen wir in Kauf, dass zwei Drittel der Menschheit, nämlich diejenigen, die uns die Bausteine für diesen Rausch liefern, überhaupt nicht an diesem Rausch teilnehmen können. Da nützt es wenig, wenn wir alles grüner machen, die Frage ist grundsätzlicher: Möchten wir in diesem Rauschzustand bleiben?

Silke: Ja, das sind viele offene Fragen. Ich kann sie nur erweitern. Die Perspektive der Gemeingüter erlaubt uns, Fragen in aller Radikalität neu zu stellen. Mir stehen gerade die Landschaften Mittelamerikas vor Augen. Anfang dieses Jahrtausends, als Rohstoffpreise für Edelmetalle gestiegen sind, wurden die Silber- und Goldvorräte und weitere Bodenschätze dieser Länder wieder lukrativ. In El Salvador, wo der Staat beispielsweise 52% des unterirdischen Territoriums an transnationale Bergbaufirmen konzessioniert hat, gibt es heute heftige soziale Kämpfe um die Ausbeutung dieser Ressourcen. Auf der Erdoberfläche hat die Monokulturalisierung natürliche Ressourcen in vielen Ländern vernichtet. Sie hat den kleinbäuerlichen Anbau von Lebensmitteln erschwert (oder ihm den letzten Baum geopfert) – daraus resultieren seit Jahrzehnten schwere soziale Konflikte. Letztlich ist die Landfrage eine der entscheidenden Ursachen der Bürgerkriege in Mittelamerika. Die Perspektive der Gemeingüter als Lebens- und Produktionsgrundlage zwingt also geradezu, die Fragen „Wem darf das Land gehören? Wem die Bodenschätze? Wem das Wasser, das es birgt?“ neu aufzuwerfen.

Doch wenn wir uns die Situation heute anschauen, müssen wir feststellen: die Umstellung von Subsistenz- auf Exportwirtschaft ist längst passiert, die Vielfalt der ländlichen Ressourcen ist erodiert. Ich kann mir nun in solchen Verhältnissen nur schwer eine Transition hin zu einer auf lokalen Ressourcen basierenden Gemeingüterwirtschaft vorstellen. Wenn ich etwa an Peru denke, eines der vom Bergbau am meisten betroffenen Länder. Da existieren zwar soziale Bewegungen, die sich gegen die zerstörerischen Effekte des Bergbaus engagieren, aber die Abhängigkeit vieler Menschen von der Lohnarbeit im Bergbau ist so absolut, dass kaum Alternativen am Horizont erkennbar werden.

Wir müssen eine internationale Debatte führen, genau hinhören, was eine Gemeingüter-Wirtschaft eigentlich bedeuten würde, aber vor allem, wie wir schrittweise dahin kommen.Die Grundeinkommensdebatte ist hier wichtig.

Julio: Mit internationalen Standards kann man aber solcher Ausbeutung entgegenwirken. Wenn ein Kugelschreiber hierzulande verkauft wird, könnte festgelegt sein, dass nicht nur keine Kinderarbeit hinter diesem Produkt steht, sondern wirklich menschenwürdige Arbeitsbedingungen.

Johannes: Wäre es nicht viel besser, das Prinzip Kugelschreiber an sich zu hinterfragen? Ich will ja keinen Kugelschreiber, sondern ein Schreibwerkzeug, und warum muss Aluminium aus Brasilien darin verbaut sein? Kann man ein High-Tech-Schreibgerät nicht auch lokal herstellen? Vielleicht aus Material, das lokal angebaut wird, und aus dem findige Menschen im Land mit großem Vergnügen geniales Schreibwerkzeug herstellen?

Stefan: So radikal muss tatsächlich gedacht werden. Das Grundprinzip der weltmarktorientierten Marktwirtschaft wird weiter wirken – unabhängig von internationalen Standards zur Verbesserung von Arbeitsbedingungen. Silke hat die extreme Abhängigkeit der Länder Südamerikas von der Exportindustrie beschrieben. Gerade sind in Bolivien neue Litiumvorkommen bekannt worden. Alle freuen sich darüber, auch die Bergarbeiter, die in Lohn und Brot bleiben wollen. Aber sie bedienen damit genau die weltmarktorientierte Logik, die dazu geführt hat, dass in den ärmeren Ländern derart desolate Zustände herrschen. Jetzt soll alles ein bisschen gerechter verteilt werden, aber was nützt das, wenn wir uns dabei die Grundlage, die Ressourcen, die es überhaupt zu verteilen gibt, unterm Hintern wegziehen?

Julio: Aber auch bei dem können internationale Standards regulierend eingreifen, indem sie zum Beispiel keine Naturzerstörung mehr erlauben.

Stefan: Das sehe ich nicht, denn solche Standards müsstest du politisch durchsetzen. Aber wenn du die politische Debatte verfolgst, hörst du immer nur das Argument, dass sich alle auf einen Weltstandard einigen müssten. Das ist illusorisch, weil die Ausgangsbedingungen und Voraussetzungen in den entwickelten und wenig entwickelten bzw. ausgebeuteten Ländern extrem unterschiedlich sind.

Silke: Ich will noch ein Argument hinzufügen, das unterstreicht, warum der politische Weg so schwierig ist, obwohl ich der Meinung bin, dass wir ihn dennoch gehen müssen – Mehrfachstrategie eben. Das Argument stammt von Wolfgang Sachs. Es verweist darauf, warum Kopenhagen scheitern musste: Unsere Regierungen (die ja eigentlich im Sinne der „commoners“ und der Gemeingüter verhandeln sollen), ziehen aus dem Zugriff auf Gemeingüter Macht, sei es nun aus dem Zugriff auf Bodenschätze oder auf die Atmosphäre über uns. Und, das möchte ich dem Argument hinzu fügen, sie begründen diesen Zugriff mit der Notwendigkeit der Sicherung (oder Schaffung) von Arbeitsplätzen. Das verfängt, auch wenn die Arbeitsplätze dann freilich oft ausbleiben. Solange also der Zugriff auf Gemeingüter politische Macht stärkt, wird die Frage des Ressourcenerhalts den Kürzeren ziehen, solange wird man nur schwer an die Vernunft internationaler Delegationen appellieren können. Es müsste uns umgekehrt gelingen, politische Reputation, meinetwegen auch den Machterhalt, zumindest an den Schutz, die Reproduktion und die Erweiterung der Gemeingüter zu knüpfen.

Johannes: In unserer parlamentarischen Demokratie, die über Parteien funktioniert, rennen wir auf diesem Weg gegen Wände. Denn in einem Parteiensystem engagieren sich alle für das Parteiziel. Wenn wir uns hingegen für das Prinzip des Gemeinguts engagieren möchten, dann steht eben nicht das Parteiziel, die Macht, im Zentrum des Engagements, sondern konsequenterweise die Erde. Sie ist das Gemeingut, von dem wir ausgehen, und diese Tatsache müsste sich in jedem Detail unserer staatlichen Organisation spiegeln. Das wäre aber eine andere politische Struktur, die in meinen Augen wenig mit Macht zu tun hat.

Stefan: Ich versuche, darauf eine Antwort zu geben, obwohl es keine befriedigende Antwort sein kann. Ich versuche, solche komplexen Problematiken auf Universalia zurückzuführen. Du hast gesagt, es geht um den Planeten, ich sage, es geht um uns selbst.

Johannes: Wir selbst – das ist der Planet, das sind wir …

Stefan: Genau, das sind wir – da kommen wir wieder zusammen. Die radikalste Position ist, von sich selbst auszugehen, aber sich nicht von sich selbst als isoliertes Individuum, sondern zu verstehen, dass wir nur sind, weil die anderen sind, weil alles andere ist, auch die Regenwürmer oder die Bakterien in meinem Darm. Zu denen habe ich natürlich eine andere Beziehung als zu dir oder anderen Menschen oder dem Minenarbeiter in Bolivien. Aber für mich und für den Minenarbeiter muss das gleiche Prinzip gelten. Das ist das Bedürfnisprinzip. Was die freie Software unter Sonderbedingungen realisieren konnte, war, das Bedürfnisprinzip zur Geltung zu bringen. Was die Commons realisieren können, ist, das Bedürfnisprinzip stärker zur Geltung zu bringen. Wir fangen natürlich nicht bei Null an, sondern müssen uns in einer bestimmten historischen Situation das Denken in Kategorien der Gemeingüter erst wieder aneignen. In einer überschaubaren Gemeinschaft sehen wir sofort ein, wenn die gemeinschaftlich genutzten Ressourcen zerstört werden, das ist das Nähe-Prinzip. In der Gesellschaft ist diese Nähe nicht gegeben, wir können uns nicht mit allen zusammensetzen und über unsere Regeln unterhalten. Auf politischer Ebene herrscht ein abstraktes selbstreferenzielles Prinzip, das in der Logik von Arbeitsplätzen funktioniert. Wir machen uns nicht klar, dass hinter dem Arbeitsplatz letztlich nur die Frage steht, wie wir die Güter für unser Leben produzieren. Muss das in Form von Arbeitsplätzen sein? In Form von Marktwirtschaft? Statt dessen könnte man radikal umdenken und sagen: Wir brauchen keine Wirtschaft, sondern eine Form des Produzieren, welches die jetzt vernachlässigten zwei Drittel des nicht-wirtschaftlichen Lebens und das Bedürfnisprinzip einbezieht. Das muss für den Minenarbeiter in Bolivien genauso gelten wie für mich.

Johannes: Gibt es dann noch einen Minenarbeiter? Es gäbe ihn noch, wenn er gerne Minenarbeiter ist.

Stefan: Oder wenn er endlich dafür sorgt, dass die Minenarbeit abgeschafft wird.

Johannes: In der Steinzeit haben Leute aus freien Stücken in der Erde gebuddelt, um die besten Feuersteinknollen zu finden. Die Produkte aus diesen bis zu zwölf Meter tiefen Bergwerken findest du von Tschechien über Skandinavien bis Westeuropa überall. Die beste Qualität. Es muss eine Leidenschaft gewesen sein – der Mensch ist, wie gesagt, ein rauschhaftes Wesen, er sucht sich das Beste. Wahrscheinlich sind die Leute damit steinreich geworden. In der Erde zu graben kann offenbar die Leidenschaft von Menschen sein. Entscheidend ist dabei das Prinzip der Freiheit – Freiheit ist auch ein Gemeingut. Unter dem Prinzip der Freiheit kann ich mir eine Bedürfnis- und bedarfsgerechte Ökonomie vorstellen. Ökonomie selbst ist nichts Schlechtes, es macht ja Spaß, miteinander zu handeln. Aber eine solche Ökonomie würde bedeuten, komplett neu zu überdenken, was tatsächlich unsere Bedürfnisse sind. Dann ist mein Bedürfnis vielleicht nicht dieser Kugelschreiber, sondern ein Schreibwerkzeug, das ich mir selbst herstellen kann. Wo ich meine Probleme habe – ich würde ungern auf’s Internet verzichten, auf diesen Zugriff auf unser gemeinsames Wissen. Wer in unserer Gesellschaft wäre aber bereit, in einer bedürfnis- und bedarfsgerechten Welt dafür zu sorgen, dass ein Server läuft, ein Satellit fliegt? Woher kommen die benötigten Kunststoffe? Da landen wir schnell wieder beim Bild einer Gesellschaft, das der unseren gleicht, aber wohl nur äußerlich, in Wirklichkeit wäre sie auf einer völlig anderen Basis gegründet.

Julio: Ich würde gerne Silkes Gedanken aufgreifen, dass die Gemeingüter ein großer Platz sind, auf dem sich alle begegnen können. Die Gemeingüter-Diskussion ermöglicht, einerseits an der politischen Front an Rahmen-Gesetzgebungen zu arbeiten, daran kommen wir nicht vorbei. Andererseits inspiriert sie uns, individuell mit dem Aufbau neuer Strukturen zu beginnen und Keime für Neues im Alten zu säen. Open-Source-Software funktioniert zum Beispiel in einem System, das nicht dafür gedacht ist. Das greift einen fast verschütteten Gedanken wieder auf, zuletzt haben wir in den 70er- und 80er-Jahren so gedacht, dass wir im Bestehenden Kerne einer neuen Gesellschaft bilden können. Diese Vision oder Praxis wird durch den Gedanken der Commons wieder lebendig. Wir müssen damit beginnen, das richtige Leben im Falschen zu führen.

Stefan: Ich wünsche mir eine Welt, in der das Gemeinwohl kein Thema mehr ist. So lange wir noch genötigt sind, von Gemeinwohl zu sprechen, ist es noch etwas Separates, das wir zusätzlich organisieren müssen, damit es da ist. Ich wünsche mir eine Welt, in der das – der Informatiker würde sagen – ein „build-in-feature“ ist, so dass wir automatisch gemeinsames Wohlsein produzieren, wann immer wir etwas herstellen.

Johannes: Vielen Dank an euch alle. Ich denke, wir haben wieder ein Gemeingut produziert.

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