Piraten-Wirtschaft: Ideologiefreie Ideologie

Piraten-LogoNachdem ich so nett eingeladen worden bin, das Wirtschaftsprogramm der sächsischen Piraten zu kommentieren, will ich dem auch gerne nachkommen. Die Kritik, die folgt, sei als konstruktive Kritik verstanden — auch wenn sie recht deutlich ausfällt. Wir können alle nur von einander lernen 🙂

Zunächst mal meine dicke Anerkennung dafür, dass sich die sächsischen Piraten sich trauen — können sie doch ahnen, dass sie ein vermintes Feld betreten. Das Bemühen, auf keine Mine zu treten, ist dem Entwurf anzumerken. Dadurch entsteht bei mir aber auch der Eindruck, dass sie lieber am Feldrand stehen bleiben und über die vielen Minen schauen, als den Schritt aufs Feld zu wagen. Verständlich.

Piraten-Kritik?

Nur wenn ich weiss, was schlecht läuft, kann ich was verbessern. Nur wenn mir klar wird, wie weit meine Kritik gehen muss, weiss ich, wie tief oder grundsätzlich ich ansetzen muss. Gibt es eine piratische Kritik an unserem Wirtschaftssystem, an der Marktwirtschaft (aka Kapitalismus)? Eigentlich nicht, jedenfalls nicht explizit. Als Leser muss ich mir implizite Kritikpunkte zusammenreimen. Folgendes habe ich herausdestilliert, teilweise nur durch Umkehrung von Pro-Aussagen (alle Zitate aus der Einleitung des Programms):

  • Annahme vom auf »reinen Eigennutz programmierter Homo Oeconomicus« ist falsch
  • Wirtschaft ist Zweck und nicht Mittel
  • Mensch und Umwelt stehen nicht im Mittelpunkt
  • das Wirtschaftssystem wird missbraucht, »um Menschenrechte auszuhebeln«, »Macht unfair zu verteilen« und dem Piraten-Programm zu widersprechen (ts, Frechheit!;-))
  • das Wirtschaftssystem ist kein »neutral wirkender gesellschaftlicher Raum«
  • das Wirtschaftssystem sorgt nicht dafür, dass »wir Menschen miteinander unsere Grundbedürfnisse befriedigen«
  • das Wirtschaftssystem erhält »systemimmanent soziale Hierarchien aufrecht«
  • das Wirtschaftssystem verstärkt »Eigentums- und Einkommensungleichgewichte«
  • das ökonomische Regelsystem ist so gebaut, dass es positiv rückkoppelt
  • das Wirtschaftssystem erzeugt »ökonomische Extremsituationen« wie »extreme Boomphasen oder extreme Wirtschaftskrisen«
  • das Wirtschaftssystem hat einen »zerstörerischen Einfluss auf den Menschen und seine Umwelt«

Das ist schon eine ansehnliche Liste. Allerdings ist sie bei weitem nicht vollständig — was ist mit Arbeitslosigkeit und Überarbeitung, sozialer und psychischer Verelendung, Bildungsnotstand, Ausbeutung der Südländer etc. pp.? Die Liste ließe sich vermutlich beliebig verlängern. Geht sie tief genug? Nein, sie beschreibt nur Phänomene, denen sie ebenso phänomenal Wünsche entgegensetzt.

Ursachen werden keine genannt. Stattdessen werden mit der Phänomenbeschreibung zahlreiche Effekte importiert, die als Selbstverständlichkeiten hingenommen und teilweise sogar explizit begrüßt werden. Zum Beispiel:

  • Wirtschaft muss sein
  • Marktwirtschaft ist gut
  • Lohn muss sein und Leistung führt zu Lohn
  • Wertschöpfung muss sein
  • Angestellten-Dasein ist gut
  • Unternehmer-Sein ist besser
  • Bürokratie behindert Unternehmen

Die Punkte sind so wichtig, dass ich darauf jetzt in einem Durchgang explizit eingehe. Ich will zeigen, dass die Selbstverständlichkeiten keine sind.

Wirtschaft muss sein und Marktwirtschaft ist gut

Dass Menschen ihre Lebensbedingungen herstellen, liegt auf der Hand. Weniger sichtbar ist, dass dies beileibe nicht nur in dem Sonderraum mit Namen »Wirtschaft« geschieht. Ist es ein Sonderraum? Ist das nicht der Raum, wo alle gesellschaftlich notwendigen Tätigkeiten geldvermittelt abgewickelt werden? Also quasi der »Hauptraum«? Nein. Aus der Bundesstatistik kann man lernen, dass fast zwei Drittel (63%) aller gesellschaftlich notwendigen Tätigkeiten nicht »in der Wirtschaft« abgewickelt werden, sondern ausserhalb und in der Regel geldlos.

Allerdings bestimmt die Logik des Sonderraums Wirtschaft über die wesentlichen Lebensbedingungen der Menschen, paradoxerweise. Seine Imperative entscheiden über richtig oder falsch. Was sich nicht rechnet — ein wesentliches Imperativ — unterbleibt. Die Wirtschaft spricht Arbeitsverbote aus und unterbindet Lebenschancen. Warum tut »sie« das? Weil sie eine Eigenlogik besitzt, denn das Regelsystem ist »positiv rückgekoppelt«, wie der Entwurf richtiger Weise erkennt. Aus Geld (Investment) muss am Ende mehr Geld werden (Gewinn), was wiederum investiert werden muss. Die positive Rückkopplung, der Wachstumszwang, ist kein Bug, sondern ein Feature. Ohne positive Rückkopplung kein Kapitalismus.

Wer der Meinung ist, »das ökonomische Regelsystem und die eingesetzten Instrumente [sollte] so gebaut sein, dass sie negativ rückkoppeln«, der will keinen Kapitalismus mehr. Dann sollte das auch explizit gesagt werden. Aber wenn dem so ist, dann muss die Frage beantwortet werden, was dann an die Stelle des positiv rückgekoppelten marktwirtschaftlichen Mechanismus (aka Kapitalismus) treten soll.

Einige Ideen zum Nachdenken: Wie kann eine Gesellschaft — ja, darum geht’s, nicht (nur) um Wirtschaft — organisiert sein, dass sie alle gesellschaftlichen Tätigkeiten, die getan werden müssen und auch tatsächlich (größtenteils) getan werden, auch anerkannt werden? Wie kann die eine Gesellschaft so organisiert sein, dass Anerkennung gleichbedeutend ist mit gleichberechtigter Teilhabe am dabei geschaffenen gesellschaftlichen Reichtum? Wie kann eine Gesellschaft so organisiert sein, dass sie Reichtum nicht in Geld, sondern in Befriedigung von Bedürfnissen ausdrückt?

Lohn muss sein und Leistung führt zu Lohn

Lohn und Leistung haben nur in einem sehr begrenzten Sinn miteinander zu tun: Nur dort führt Leistung zu Lohn, wo die mit dem Lohn gekaufte Arbeitskraft etwas schafft, das sich innerhalb des positiv rückgekoppelten Mechanismus der Marktwirtschaft bewährt, sprich: verkauft. Verkauft sich das Geschaffene nicht, obwohl es nützlich ist (oder wäre), ist die Leistung keine, obwohl man am Nützlichen geradezu sinnlich erkennen kann, was dort jemand geleistet hat.

Leistung und Nützlichkeit sind also nicht notwendig miteinander verbunden. Dies wird noch einmal besonders deutlich, wenn man sich den größeren Teil der Gesellschaft ansieht, in dem Lohn gar nicht existiert, aber permanent etwas geleistet wird, weil es schlicht notwendig ist. Lohn ist also nur eine Sonderform der Anerkennung von Leistung. Gleichwohl ist Lohn unstreitig eine bedeutende Sonderform, da Lohn Geld ist, und ohne Geld man nun einmal »arm dran« ist in einer reichen Gesellschaft.

Kurz: Dass Leistung zu Lohn führe, kann als Mythos erkannt werden — nur in Sonderfällen trifft dies zu. Vielleicht hat das auch die wirtschaftsliberale FDP erkannt, die fordert, dass sich Leistung wieder lohnen müsse. Will die Piratenpartei eine digitale FDP sein?

Wertschöpfung muss sein

Als Wertschöpfung gilt, wenn hinten mehr rauskommt als vorne reingesteckt wurde — und zwar an Geld. Was nicht den Weg über das Geld nimmt, gilt nicht als Wert, gilt somit als nicht geschöpft obwohl doch geschaffen. Wie oben beschrieben trifft dies auf die meisten Leistungen in der Gesellschaft zu.

Freie Software zum Beispiel gilt nicht als wertgeschöpft, obwohl sie (uns) doch unendlich wertvoll ist. Andererseits gilt proprietäre Software als wertgeschöpft, weil sie verkauft wird. Ist die Raubkopie einer proprietären Software Wertschöpfung? Ist die Kaufkopie vom Händler Wertschöpfung? Wo ist der Unterschied?

Es geht also nicht um Wertschöpfung, sondern um Nutzenschöpfung. Bindet man Nutzen an Wert, dann unterbindet man Schöpfung. Sehr oft.

Angestellten-Dasein ist gut, Unternehmer-Sein ist besser

Folgt man erst einmal der Wertlogik, nach der Nützliches nur durch Wertförmiges entsteht — was, wie oben gezeigt, eine arg beschränkte Sicht ist –, dann muss man die ökonomischen Rolle in dem Wertzirkus auch toll finden: Unternehmen und abhängige Beschäftigte. Dann muss man mehr Unternehmer fordern, die sich per Konkurrenz zu weniger Unternehmern machen, um mehr Abhängigkeit (aka Angestellte) zu schaffen. Um es klar zu sagen: Unternehmer-Sein ist weder besser noch schlechter als das Angestellten-Dasein (vom Arbeiter-Sein und prekären Abhängigen zu schweigen). Sie sind ebenso abhängig wie die Angestellten, nämlich von der Marktlogik und dem Zwang zur positiven Rückkopplung (siehe oben).

Nicht dass es zu wenige Abhängige gibt (Unternehmer, Angestellte, Arbeiter etc.) ist die Frage, sondern dass wir von diesen Rollen in der Logik der positiven Rückkopplung bei Strafe des Untergangs abhängig sind! Dazu müssen Alternativen formuliert werden, anstatt nur mehr Abhängigkeit zu fordern.

Bürokratie behindert Unternehmen

Es stimmt: Bürokratie behindert Unternehmen, aber immerhin behindert sie alle gleichermaßen. Insofern schafft Bürokratie logisch keinen Nachteil oder Vorteil für irgend einen. Sie mag bremsend auf die positive Rückkopplung wirken — aber dann müsten die Piraten eigentlich für mehr Bürokratie sein.

Aber was ist mit Bürokratie gemeint? Als Bürokratie werden normalerweise Behinderungen der Verwertung bezeichnet: Umweltschutz, Sozialstandards, Arbeitssicherheit, Beschäftigungsregeln, Datenschutz(!), Betriebsräte, Schulpflicht etc. Diese Regeln wurden eingeführt, um der intrinsischen Schädel-Einschlag-Logik (aka Markt-Konkurrenz) eine soziale und umweltverträgliche Form zu geben. Das war nicht immer so: Anfangs mussten Kinder 12 Stunden arbeiten. Und anderes übles, siehe Geschichte.

Denken wir uns alle Bürokratien weg. Der Kaptalismus zeigte sich als das, was er ist, nur eben ungebändigt: Ein Raubtier. Seine relative Bändigung — dafür brauchte es zahllose Kämpfe mit vielen Opfern — brachte erst jene zivilisatorischen Errungenschaften hervor, die er von alleine niemals generiert hätte. Heute wird das als soziale Marktwirtschaft gefeiert. Aber das Raubtier will raus, Bürokratie muss abgebaut werden. Und die Piraten sind die Wegbereiter?

Auch hier muss klar sein: Nicht Bürokratie ist die Frage, sondern eine positiv-rückgekoppelte Wirtschaftslogik, die sie überhaupt erst erforderlich macht. Notwendig wäre eine Produktionsweise, die keine Bürokratie braucht, weil sie intrinsisch sozial, umweltverträglich, begrenzt, friedlich und liebenswert ist.

Fazit

Die Piraten möchten möglichst pragmatisch und unideologisch an die Sachen ran gehen. Auch an die Wirtschaft. Das ist leider die einfältigste Ideologie, die man sich bauen kann. Pragmatik kommt aus dem griechischen und bedeutet so viel wie »geschäftig«. Sie orientiert möglichst direkt auf das Ziel. Dabei akzeptiert sie immer das Vorgegebene, es geht nicht anders. Pragmatik kann daher nicht verändern — was die Piraten sonst beanspruchen –, sondern nur noch effektiver exekutieren. Die Akzeptanz der bestehenden Logik ist das Ideologische daran.

Dies zeigt sich am Wirtschaftsprogramm. Keine Kritik, höchstens implizit. Sonst durch die Bank weg Akzeptanz der bestehenden Imperative. Es muss sich rechnen, was sich nicht rechnet, gilt nicht. Usw. Pragmatisch, aber nicht kritisch. Ohne Kritik keine Veränderung.

Piraten-Wurzeln

Dabei könnten sich die zeitgenössischen Piraten ihre historischen Vorläufer zum Vorbild nehmen. Nicht, dass sie jetzt säbelschwingend durch die Gegend rennen, sondern in dem sie sich die Freiheit heraus nehmen, auf ihrem Schiff komplett andere Regeln festzulegen. Diese waren nämlich durchaus egaltär und commons-basiert.

Commons — das ist das Stichwort zur Lösung. Im Bereich des Wissens setzen die Piraten auf die Wissens-Commons. Die Commons sind eine Alternative zur Ware. Diese Erkenntnis ist grundlegend. Man muss Güter nicht als Waren produzieren, sondern es ist möglich, sie als Commons herzustellen. Von dieser Grundidee aus ist eine neue Produktionsweise zu entwickeln. Die Vorbilder gibt es im speziellen Bereich der Wissensgüter. Diese sind kopierbar, was es einfacher macht. Eine Übertragung auf den Bereich aller anderen Güter ist die Zukunft. Da eine commonsbasierte Produktion an den Bedürfnissen der Beteiligten orientiert ist, lässt sich so die zentrale (richtige!) Forderung nach einer negativ rückgekoppeln Logik realisieren. Denn in der Tat: Nur mit negativer Rückkopplung haben wir auf diesem Planeten eine Zukunft.

Ein entsprechender commons-basierter Ansatz wurde hier für den Bereich der Umweltpolitik vorgeschlagen. Ja, genau in diese Richtung muss es gehen!

Deswegen mein deutliches Fazit: Entweder die Piraten entwickeln eine allgemeine Commons-Perspektive oder sie haben keine. Sie haben die Chance dazu. Noch eine FDP ist hingegen überflüssig.

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