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Keine Commons in Vietnam

vietnamWas macht ein armes Land, das nicht länger arm bleiben will, dessen Bewohner ein Stück Reichtum erlangen wollen? Nach wie vor scheint es nur eine Option zu geben: die nachholende Entwicklung. Nachholende Entwicklung heißt nachholender Kapitalismus. Diesen Weg geht Vietnam [1]. Es reproduziert das »westliche« Entwicklungsmodell — mit allen Konsequenzen. Dabei sind die Ausgangsbedingungen in Vietnam relativ günstig: politische Stabilität (CIA-certified), relative homogene Eigentumsverteilung und eine junge Bevölkerung.

»Making money« sind nach »Hello« und »Bye-Bye« wohl die am häufigsten gebrauchten englischsprachigen Wörter. Denn ohne Englisch und ohne zumeist positiven Bezug auf das US-amerikanische Konsummodell geht in Vietnam nicht viel. Alle scheinen allen irgend etwas zu verkaufen. Aus jeder kleinsten Handreichung oder (selbst geschaffenem) Mangel wird ein Mini-Business. »Business« — das nächst häufige Wort. Der normale Tourist — der »Westler« wie sie in Vietnam summarisch genannt werden — erfährt dies zunächst eindringlich dadurch, dass er (und sie) alle paar Meter angequatscht wird. Es sind nun mal die herumlaufenden Geldsäcke, nachvollziehbar.

Ein erfolgreicher Verkauf zum Touri-Tarif kann eine Tageseinkunft bedeuten. Der Touri- oder Ausländertarif liegt beim etwa Dreifachen der inländischen Preise. Früher galt das sogar offiziell (etwa bei Bahn- und Flugtarifen und immer noch in der Wikipedia), heute liegt es am Geschick der Straßenhändler_innen den Touris etwas mehr Geld als üblich aus dem Ärmel zu leiern. Dabei ist der Ausländertarif für Dollar- oder Euro-Verhältnisse immer noch »spottbillig«. Ob man nun 20 oder 40% des gewohnten Preises berappt, sollte doch egal sein. Aber als konditioniertes Warensubjekt hat man ein ausgeprägtes Gespür für den »gerechten Tausch« entwickelt und fühlt sich doch über’s Ohr gehauen. Billiger geht es immer und gerecht ist nur der äquivalente Tausch am Ort.

In Vietnam existieren krasse Widersprüche unbeschadet nebeneinander: Wilder Kapitalismus [2] und Einheitspartei [3], Atheismus und Ahnenkult [4], Korruption [5] und Leistungswille [6], Langmut und Fleiss [7], realsozialistische Agitprop [8]-Ästhetik und Internetboom, Ho-Chi-Minh-Verehrung [9] und -Remix (HCM abgebildet als Kiffer im Internetchat oder die HCM-Unabhängigkeitsrede als Klingelton auf dem Handy), Westmarkenfetisch und ethnischer Traditionalismus, US-Verehrung und Vietnam-Patriotismus. Der Pragmatismus, der Unvereinbares einfach nebeneinander stehen lässt, erzeugt eine Form von Stabilität, die nicht nach einer Auflösung drängt.

Ein ideeler Gesamtkapitalist (=Staat) existiert in Form der sich immer noch kommunistisch nennenden Partei — wozu da noch so eine seltsame Veranstaltung wie eine parlamentarische Demokratie [10] organisieren? Daran hat sogar der CIA [11] kein Interesse (mehr). Das geht allerdings nur solange gut, wie die Partei gleichzeitig ihre patriarchale Fürsorgerolle mehr oder weniger gut wahrnimmt: ausgedehnter staatlicher Beschäftigungssektor [12] (wo man schlecht verdient), staatliche Gesundheitsfürsorge (neben der weit besseren privaten), Schulbildung für die meisten (und universitäre Ausbildung für einige), Sonderbedingungen für ethnische Minderheiten [13] (um sie auf das Durchschnitteinkommen von 50 Dollar/Monat zu heben).

Der Zwang zur Weltmarktorientierung zerstört langfristig die vietnamesischen Gemeingüter. Marktwirtschaftliches Bauernlegen [14]. Landwirtschaftlich genutzte Gebiete oder Wälder werden in riesige Monokulturen verwandelt — etwa beim Robusta-Kaffeeanbau — oder müssen Industrieanlagen und der Gewinnung von Bodenschätzen weichen — jüngstes Beispiel ist der geplante Bauxit-Tagebau [15]. Weil Landwirtschaft »nicht einträglich genug« ist oder Wälder nur dumm rumstehen, wird rigoros platt gemacht. Der Widerstand ist gering.

Es wäre zu kurz gegriffen, hier von »Profitgier« zu sprechen, wie überhaupt die »Gier« eine personalisierende Ablenkung von den wirklichen Ursachen ist. Es ist der oben beschriebene Zwang, buchstäblich alles zu Geld machen zu müssen, weil nur das Abstraktum »Geld« als Reichtum zählt. Was nicht oder nur unzureichend monetarisiert werden kann, zählt im wahrsten Sinne des Wortes nicht. Gerade die Commons, die Gemeingüter, die von den Commoners jahrhundertelang gepflegt und genutzt wurden, werden so unwiederbringlich zerstört. Nur wo die Verwertungslogik zurückgedrängt wird, hat der sinnliche Reichtum der Menschen und der von ihnen produzierten Commons ein Chance. Vietnam läuft geradewegs in die entgegengesetzte Richtung.

Ob das eine kommunistische Partei kapieren kann?

Zum Schluss noch ein drei Linktipps:

Zwischen Tradition und Moderne [16] — Blog einer deutschen Studentin in Vietnam mit vielen Bildern

Paulines lung tung [17] — Paulines Blog über ihr einjähriges »weltswärts«-Jahr in Hanoi (da hab ich auch ein paar Gastbeiträge geschrieben)

Vietnam mon amour [18] — Sendung von Radio Corax, Halle (1 Std.)