Basarökonomie oder Überproduktion – wo kommt die Krise her?

Ist die seit 2000 schwelende Dauerkrise der Wirtschaft – die von der scharfen, mit Problemen im Finanzsektor in Verbindung gebrachten Abwärtsbewegung von 2008, von der wir uns bereits wieder erholen, zu unterscheiden ist – eine Überproduktionskrise (auch hier, 2.)? In den letzten Jahren herrschte massive Konkurrenz unter den Warenproduzenten, es setzte ein starker Preiskampf ein. In Deutschland bildete sich eine Wirtschaft heraus, die auf Sonderangeboten, Vergünstigen, hartem Preiskampf und euroweisem Unterbieten (beispielsweise auf Basis der täglich aktualisierten Preisvergleichs-Seiten im Internet, wo man vorne dabei sein muss) basiert.

Für die Kunden mag dies angenehm sein, weil viele Dinge (gerade Markenware) deutlich billiger geworden ist: Im Internet bekommt man nicht selten aktuelle Elektronikprodukte für die Hälfte des Listenpreises. Für die Unternehmen bedeutet es die Notwendigkeit zur entschlossenen Umstellung, Gewinnmargen schrumpfen und können nur durch unerbittliche Preisdrückerei aufrechterhalten werden. Die Zeche zahlen oft genug die Arbeiter und Arbeiterinnen [von der VWL verdrehend „Arbeitnehmer“ genannt, obwohl sie es sind, die die Arbeit an die Unternehmen und an die Gesellschaft insgesamt geben, wobei sie nur einen Teil bezahlt bekommen, der Rest erzeugt Profit und Zins]: Sie müssen immer öfter unter prekären Bedingungen arbeiten und erhalten nicht selten deutlich weniger Lohn als früher, sind zudem schlechter abgesichert und stehen unter gewaltigem Druck, Belastungskrankheiten nehmen zu.

Während diese Folgen des Preiskampfs unumstritten sind, streitet man sich um die Ursachen. Die dominierende wirtschaftswissenschaftliche Interpretation will nichts davon wissen, dass der Grund in einer Überproduktion und dem daraus resultierenden Überangebot liegen könnte. Vielmehr kritisierte sie die (verächtlich so genannte) „Basarökonomie“ (Hans-Werner Sinn) und fordert (ganz klassisch idealistisch), die Einstellung der Marktteilnehmer müssten sich ändern, als handle es sich um eine Frage des falschen Bewusstseins. Die Verbraucher müssten sich wieder daran gewöhnen, dass Qualität etwas koste, usw. Sonst ginge alles (einschließlich dem Sozialstaat, an den man sich bei solcher Gelegenheit immer fürsorglich erinnert – sonst kennt man den Begriff nur in Kollokation mit „Abbau“) den Bach runter.

Weil nicht sein kann was nicht sein darf

Liest man den Wirtschaftsteil der großen Zeitungen, könnte man tatsächlich glauben, das sei alles: Man habe sich eine falsche Haltung angewöhnt und diese müsse nun den Verbrauchern wieder aberzogen werden. Daher gibt man auch massive ‚Kaufanreize‘, z.B. die ökologisch verhängnisvolle, aber ökonomisch von der Autoindustrie als massive Subvention hocherwünschte) Abwrackprämie. (Diese bietet auch ein Beispiel für die dreiste Verdrehung, zu der Politiker und Medien unisono bereit sind, wenn es darum geht, solche Maßnahmen in einer Demokratie durchzusetzen.)

Dass man keine Überproduktion sehen will, hat also sehr konkrete Folgen: Milliarden werden aufgrund des idealistischen Denkens, die Verbraucher müssten nur die Haltung ändern und endlich wieder kaufen, in den Sand gesetzt. Nicht berücksichtigt wird, dass die Menschen nach jahrzehntelanger Lohnstagnation, Abschaffung von Leistungen, ständiger Einführung von zusätzlichen Belastungen und insgesamt beachtlicher Umverteilung von unten nach oben (die aber leider nicht wieder nach unten „trickelt“ und auch nicht vollständig verkonsumiert wird, dafür sind die Einkommen der Reichen heute einfach zu hoch) vielleicht einfach weniger Geld haben. Wäre dies der Fall, dann würden sich solche Kaufanreize gar nicht positiv auswirken, es würden dafür andere Investitionen zurückgestellt. Oder Kredite aufgenommen, die in der Folgezeit die Kaufmöglichkeiten blockieren und damit die Krise verlängern. – Zwar werden solche Überlegungen zur Nachfrageseite gelegentlich in der heutigen VWL oder im Wirtschaftsteil der bürgerlichen Zeitungen getätitgt; aber sie bleiben in der Minderheit und beeinflussen die ergriffenen Maßnahmen gegen die Krise kaum.

Die schon fast peinlich schlichte Tatsache, dass Geld für die ‚Verbraucher‘ nicht auf Bäumen wächst, scheint in den Köpfen der Wirtschaftsprofessoren (die natürlich jahrzehntelang nach ihrer Systemtreue selektiert wurden, so dass keine kritischen Köpfe mehr darunter sind) nicht angekommen zu sein. Dass diese ‚Verbraucher‘ zudem immer noch mehrheitlich die Arbeitenden sind (während das den Unternehmern geschenkte Geld nur zu einem kleinen Teil gleich wieder ausgegeben wird), müsste eigentlich nach Jahrzehnten der Reaganomics (oder Thatcherismus; in Varianten auch von Kohl, 2x Bush, Schröder, Berlusconi u.a. praktiziert) eigentlich deutlich geworden sein.

Denn diese Methoden (die gerne auch als „Neoliberalismus“ zusammengefasst werden) haben kurzfristiges Wirtschaftswachstum mit langfristigen Krisentendenzen erkauft: Den Wohlhabenden und den Kapitalisten Geld zu schenken, führt zwar zu mehr produktiven Investitionen (da diese direkt investieren oder Aktien oder Unternehmensanleihen kaufen), aber verringert relativ die Nachfrage, da die dafür geschröpften Geringverdiener prinzipiell praktisch ihre gesamten Einkünfte sofort wieder ausgeben müssen. Alles, was ihnen weggenommen wird, fehlt also vollständig auf der Nachfrageseite, während Steuererleichterungen für Wohlhabende (Unternehmer kann man hier nicht sinnvoll schreiben, da diese in Deutschland praktisch nie Steuern zahlen, wie ich von einem Anwalt aus einer Steuerkanzlei weiß; dafür sind die ihnen gewährten zahlreichen Möglichkeiten einfach zu umfassend) nur zu einem kleineren Teil in Ausgaben resultieren, zum überwiegenden Teil aber zur Masse des Kapitals hinzukommt. Die Stärkung der Produktion und der Angebotsseite geht also notwendig mit einer Schwächung der Nachfrageseite einher.

Gleichzeitig müssen für den überwiegenden Anteil des den Unternehmern und Wohlhabenden gegebenen Gelds, das direkt in Investitionen geht oder aber in Aktien investiert wird, neue Anlagemöglichkeiten geschaffen werden (beispielsweise durch Privatisierungen), da es sonst zur Überakkumulationskrise kommt. Kapital muss verwertet werden; stockt dieser Prozess, kommt es zur Krise. Damit muss durch die neoliberale Umverteilung noch mehr gearbeitet werden, denn Kapitalverwertung geht nun einmal nur durch Arbeit (nur Arbeit schafft Mehrwert). Auch dies wird von denen, die das „Ende der Arbeit“ verkünden, übersehen: je mehr Kapital es gibt, desto mehr müssen die Menschen weltweit arbeiten, sonst kommt es zur massiven Entwertung und damit zur Krise.

Was ist Überproduktion?

Überproduktion und in der Folge Überangebot heißt schlicht, dass zu viele Waren auf dem Markt sind. Für die heutige Gleichgewichtsökonmie – so verblüffend sich das anhören mag – gibt es diesen Zustand gar nicht. Schließlich treffen sich Angebot und Nachfrage immer in der Mitte; wird mehr produziert, werden die Waren eben billiger angeboten und das vergrößert dann automatisch die Nachfrage. Auf dieser Grundannahme (die zwar in vielfachen Modifikationen auftritt, aber im Wesentlichen doch immer vorausgesetzt wird) basiert das Grundmodell der Neoklassik, das Gleichgewichtsmodell, bei dem sich Angebot und Nachfrage immer in einem Punkt treffen.

Was in diesem Modell völlig fehlt – und fehlen muss -, ist der Wert der Waren. Einen intrinsischen Wert darf es dabei nicht geben, da sonst klar würde, dass Waren nicht dauerhaft unter diesem Wert verkauft werden können und daher das Grundmodell hinfällig wird. Sobald der theoretische Angebots-Nachfrage-Treffpunkt unter dem Wert liegen würde, ist es unmöglich, dass der Markt an diesem Punkt ins Gleichgewicht kommt. Denn würde er dort verweilen, würden bald alle Betriebe pleite gehen. Stattdessen finden also andere Dinge statt: Produktionskürzungen; Kurzarbeit; Entlassungen; nicht verlängerte Kreditlinien; Notverkäufe von Unternehmensbereichen; usw. Alles das, was eben eine Überproduktionskrise ausmacht.

Die Neoklassik kann das nicht sehen, weil sie es aufgrund ihrer grundsätzlich apologetischen Natur nicht sehen darf (vgl. hier, Punkt 4.): Würde sie einen intrinsischen Wert der Waren zugeben, wäre es klar, dass Angebot und Nachfrage nur innerhalb eines bestimmten Korridors den Preis bestimmen, der (bei voll entwickelter kap. Produktion und funktionierender Konkurrenz) zudem recht eng ist. Würde sie ihn zugeben, würde zudem deutlich, woher die zyklisch auftretenden Krisen des Kapitalismus kommen. Diese aber sind (wiederum ein verblüffendes Faktum) in der klassischen VWL theoretisch nicht vorhanden! Da sie als empirisches Faktum nicht geleugnet werden können, nimmt man an, sie beruhten auf Marktunvollkommenheiten – sprich: noch mehr Kapitalismus soll es richten. So wird jede Krise zum guten Grund, verbleibende Sozialleistungen abzuschaffen oder die Schwächung der Gewerkschaften zu fordern, denn diese behindern die freie, ungestörte Marktentwicklung. Letzteres ist auch tatsächlich richtig; falsch ist allerdings, dass es dann keine Krisen geben würde. Im Gegenteil, die Krisen in einem ungebremsten Kapitalismus scheinen sogar noch stärker auszufallen, wie ein Vergleich der heftigen Krisen des 19. Jahrhunderts mit den vergleichsweise bereits sehr moderaten von heute zeigt. Damals verdoppelte oder verdreifachte sich rasch einmal die Arbeitslosigkeit, weil es keinen Kündigungsschutz gab: Damit sank dann natürlich auch schlagartig die Nachfrage, es musste wieder entlassen werden, und eine Abwärtsspirale setzte ein. Der Neoliberalismus hat nicht verstanden, dass gerade Reguleriungen Krisen abschwächen und dafür sorgen können, dass der Markt eine Krise halbwegs übersteht. Aber wie sollte er das auch verstehen, wenn doch Krisen seinen Modellen zufolge eigentlich gar nicht vorkommen dürften?

Zusammengefasst: Das theoretische Modell des Schnittpunkts von Angebot und Nachfrage als Marktgleichgewicht ist zwar sauber, einfach zu handhaben und (auch das half enorm bei seiner Durchsetzung!) leicht zu formalisieren, aber es hat mit der Realität nichts zu tun. Denn in dieser Realität haben Waren einen Wert (der sich nach der in ihnen enthaltenen abstrakt-menschlichen Arbeit bemisst), und dauerhaft unter Wert verkaufen können die Produzenten nicht. Müssten sie es, weil anders Angebot und Nachfrage nicht zur Deckung zu bringen sind, ist die Überproduktionskrise da.

Dies kann etwa passieren, wenn die Arbeitenden jahrzehntelang bei den Löhnen kurz gehalten wurden, wie es seit Beginn der 1980er Jahre der Fall war, und wenn sie durch zahlreiche zusätzliche Belastungen (als Beispiele seien Abschaffung der Lehrmittelfreiheit; Studiengebühren; höhere Krankenkassenkosten; eingeführte oder stark erhöhte Gebühren für Behördenleistungen genannt; die Liste ließe sich aber praktisch beliebig fortsetzen) in ihrem finanziellen Spielraum massiv eingeschränkt werden, führt dies irgendwann dazu, dass die Nachfrage sinkt. Dies will die heutige VWL nicht sehen, weil sie dann ihre Lieblingsinstrumente nicht mehr empfehlen könnte: Sozialkürzungen; Privatisierung staatlicher Leistungen und damit Gebührenerhöhungen; Prekarisierung; ‚mehr Eigenverantwortung‘ (womit beim genaueren Hinsehen meist „mehr zahlen“ gemeint ist, allerdings pikanterweise nicht für alle – für Politiker, Kapitalisten und Manager lässt sich „Verantwortung“ in dieser Floskel gut mit „Macht“ übersetzen). Denn alle diese Maßnahmen, die sie für geeignete Steuerinstrumente bei aufkommenden wirtschaftlichen Stockungen hält (ohne zu bedenken, dass man solche Stellschrauben nicht auf die Dauer immer nur in eine Richtung drehen kann), schwächen die Nachfrage.

Fazit

In diesem Artikel sollte nicht die These vertreten werden, dass die jetzige Krise eine Überproduktionskrise ist. Um das zu beurteilen, muss man den Anteil andrer Krisenstufen an der jetzigen Krise abwägen und auch die verschiedenen Krisenstufen beachten. Überproduktion und Nachfrageschwäche sind aber sicherlich Aspekte der gegenwärtigen Krise. – Hier sollte vor allem gezeigt werden, warum die VWL in ihrer gegenwärtigen ideologischen Form die Möglichkeit der Überproduktionskrise nicht sehen kann, und zu welchen falschen Gegenmaßnahmen (z.B. „Kaufanreizen“ statt langfristiger Maßnahmen wie Arbeitsplatzsicherung, Stärkung der Gewerkschaften oder Lohnerhöhungen, die tatsächlich die Nachfrage stärken und damit die Überproduktion aufheben) diese ideologische Blindheit führt.

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