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Reflexionen über Unerzogenes und Unverdientes

ronja_und_klaus.jpgAm langen Wochenende 20. bis 22. April trafen sich [1] zwei unterschiedliche und doch verwandte Gruppen. unerzogen.de [2] berichtet und diskutiert über Nicht-Erziehung. Grundlage ist die Überzeugung, dass Erziehung eine nicht akzeptable Form der Beziehung zwischen Menschen darstellt. unverdient.de [3] hat die Geldlogik auf dem Kieker, die wirklich menschliche Beziehungen nicht zulässt und deswegen abgeschafft gehört.

Sehr sympatisch das alles — zunächst mal:)

Aber…

Durch ein bloßes »un« vor dem Erziehen oder Verdienen ist nicht geklärt, was das jeweils inhaltlich bedeutet und was denn die Alternative ist. In beiden Bereichen, der Erziehung und der Geldlogik, gibt es zahlreiche Vorläufer alternativer Ansätze (antiautoritäre Erziehung, Kommunen etc.), die versucht haben, die Auswüchse von Erziehung oder Geldlogik anzugehen — etwa Erziehung nicht autoritär zu praktizieren oder die Geldlogik fair zu vollziehen. Aber das, so die Erfahrung, hilft uns nicht wirklich weiter. Also: Erziehung abschaffen und Geldlogik abschaffen? Nur eins von beidem oder beides? Und das reicht?

unverdient und unerzogen

Beobachtungen

Zunächst ein Blick in die Praxis. Am Wochenende waren fast so viele Kinder wie Erwachsene dabei. Da wir uns untereinander nicht alle kannten, waren zunächst mal die Kinder meistens jeweils auf »ihre Erwachsenen« bezogen und umgekehrt. Uneinander war das für die Kinder hingegen kein großes Thema. So blieb jedoch das »Kinderkümmern« Familiensache. Das führte dazu, dass es nur selten zu gemeinsamen und kontinuierlichen Gesprächen kam, weil immer wieder der Eine oder die Andere »wegspringen« musste. Es hatte sich einfach keine gemeinsame Aufmerksamkeit um die Kinderaktivitäten ausgebildet, und es gab auch keine Absprachen darum — was vielleicht innerhalb von zwei Tagen auch nicht zu erwarten war.

Neben der Aufmerksamkeit für die Kinder war auch die Aufmerksamkeit der Kinder selbst gegenüber Anderen und Anderem sehr unterschiedlich ausprägt. Einzelne Kinder waren sehr aufmerksam, wach und kommunikativ zugänglich, andere waren dies nicht. Das hatte zur Folge, dass so manches an Dingen und Menschen unter die Räder bzw. Beine kam. Ich selbst hatte einige Male damit zu tun, ein Baby vor anderen Kindern zu schützen. Hat das was mit Erziehung oder Nicht-Erziehung zu tun? Das ist wohl etwas schlicht gefragt. Hier ist es zunächst mal nur eine Beobachtung.

Eine weitere Beobachtung, die ich beim Treffen auch mehrfach ansprach, war die Tendenz, beide Themen als gleichsam bloß individuelle Aufgabe zu diskutieren: »Ich habe mich entschieden, nicht mehr zu erziehen« — »Wir in der Familie machen das so und so« — »Ich versuche der Geldlogik so und so zu entgehen« Etc. Weder Nicht-/Erziehung noch die Geldlogik sind jedoch Fragen, die bloß individuell »gelöst« werden können. Während diese Überlegung bei der gesamtgesellschaftlichen Geldlogik vielleicht noch unmittelbar einleuchtet, ist das bei der Nicht-/Erziehung nicht so klar. So postulierten einige Nicht-Erziehung als den goldenen Weg zu einer Freien Gesellschaft. Woher kommt diese Überlegung?

Der Schein vom Klein-Klein

Scheinbar kann sich die Kleinfamilie innerhalb ihres relativ geschlossenen Raumes eigenständig zu einer Erziehungsart oder eben Nicht-Erziehung entscheiden. Dieser Schein wird durch die möglichen Widerstände der Umgebung (Bekannte, Freunde, Schule, Institutionen etc.) eher noch befördert, weil diese als »Gegner« der eigenverantworteten Entscheidung auftreten. Diese haben es dann »nicht begriffen«, »sind sowieso dagegen« — und andere Formen der Selbstimmunisierung. Ich meine das nicht denunziatorisch, denn ich finde es völlig legitim und oft auch notwendig, etwas gegen die »allgemeinen Vorstellungen« der Umgebung durchzusetzen.

Was damit jedoch aus meiner Sicht fehlt, ist der bewusste soziale Bezug zu Anderen, mit denen die »unerzogenen« Kinder früher oder später konfrontiert sind. Also nicht bloß der Schutz und die Unterstützung der eigenen Kinder gegen die, die »es« noch nicht begriffen haben, sondern eine aktive Gestaltung der sozialen Beziehungen zu Anderen, die andere Bedürfnisse und Verhaltensweisen haben. Doch auch das reicht noch nicht aus: Es geht nicht nur um das unmittelbar soziale Umfeld, sondern perspektivisch um die Teilhabe an der gesellschaftlichen Produktion unserer Lebensbedingungen. Und spätestens die gesellschaftlichen Strukturen stehen der freien Entfaltung, die ja ein Ziel der Nicht-Erziehung ist, entgegen. Paradoxerweise erscheint hier die Erziehung, die disziplinarisch die Kinder fit machen will für die Gesellschaft als die adäquatere Form — so sehr auch die gesellschaftlichen Strukturen in ihrer kapitalistischen Verfassung abzulehnen sind.

Wie kann nun aber Nicht-Erziehung die Kinder dafür »fit machen«, in einer strukturell repressiven und entfremdenden Gesellschaft ihren vielleicht gar widerständigen Platz zu finden? Wie soll das gehen, wenn doch eine »Erziehung zu« ausgeschlossen werden sein soll, weil diese genau jener Repressivität entspricht, die sie ablehnt? Es gibt hier nur eine Möglichkeit: Die erwachsenen Menschen müssen glaubhaft und redlich (ein netter altmodischer Begriff) selbst ihre Individualität unter den gegebenen Bedingungen entfalten und den dabei auftretenden Widersprüchen nicht ausweichen, sondern sich ihnen stellen. Denn nur durch das »Vormachen«, durch das glaubwürdige Vorleben ist die Alternative lebenspraktisch vorzuschlagen, nicht durch »Erziehung-zu« und auch nicht durch »Nicht-Erziehung als solcher«.

Um es also zuzuspitzen: Nicht-Erziehung ist keine Angelegenheit, die ich mit anderen (nicht) tue, sondern es ist zu allererst eine Sache von mir selbst. Und auch hier treten die gleichen Konflikte auf: Es ist auch mir selbst gegenüber nicht glaubwürdig, mich auf der einen Seite zu »Nicht-Erziehung« anzuhalten (sozusagen zu erziehen) und auf anderen Seiten, etwa im Beruf, repressive und unsoziale Strukturen unhinterfragt zu reproduzieren. Denn wenn eines Kinder in jedem Fall können, dann ist es, genau das zu spüren. Dieses »mit sich selbst nicht im Reinen« zu sein, selbst völlig unbewusst Strukturen zu reproduzieren, von denen man meint, sie im familialen Schutzraum abschaffen zu können, ist die Unlogik, die irgendwann zurückschlägt. — Das ist meine Erfahrung.

Büchertisch mit Unerzogenem und Unverdientem

Appellationen

Nun gebe ich zu, dass diese Überlegungen nicht einfach zu verstehen sind. In einer Diskussion mit vielen Worten meinerseits (siehe dazu auch das Bild unten) wurde ich aufgefordert, doch mal einen Vorschlag in Form von »Appellen« zu formulieren. Puh, das mal eben aus dem Ärmel. Ok, ich habe es ad hoc nur auf drei »Appelle« eingedampft bekommen, und die lauten so:

Beantworte dir die Frage,

  1. in welcher Gesellschaft du leben möchtest und wie in dieser Gesellschaft die Produktion und Reproduktion unserer Lebensbedingungen organisiert wird (jenseits der Geldlogik);
  2. welchen Platz du in dieser Gesellschaft einnimmst und an welcher Stelle und in welcher Weise du an der Re-/Produktion teil hast (Selbstentfaltung unter Bedingungen der Entfaltung aller);
  3. wie du heute damit beginnen kannst und wie du glaubwürdig und redlich mit den Widersprüchen umgehst unter den Bedingungen, wo wir diese Gesellschaft nicht haben (Selbstentfaltung unter Bedingungen der Entfaltung weniger und Unterdrückung vieler).

Empörung löste meine (zugegeben provokative) Aussage aus, dass die Beantwortung dieser drei Fragen die Voraussetzung für Nicht-Erziehung sei. Das ist natürlich nicht so, denn erst gibt hier kein »erst-dann«. Nicht-Erziehung als Zurückweisung von Zumutungen und Übergriffen kann ein Zugang sein. Aber, und das meine ich schon ernst: Zugang bedeutet, dass ich langfristig nicht den weitergehenden Fragen ausweichen kann, will ich ehrlich Nicht-Erziehung umsetzen. Ich kann mit mir nicht anders verfahren als ich es mit Anderen tue. Widersprechen sich meine Haltung zur mir, zur Welt und zu den Kindern, so holt mich diese Inkonsequenz schnell ein.

Zum Kontrast wurde ein weiterer »Appell« vorgeschlagen, der vielleicht noch einfacher das Gleiche erreichen könne wie meine drei Appelle: »Erziehe dich und Andere nicht« (aus dem Gedächtnis, bitte korrigieren, wenn ich das falsch wiedergebe). Die nachvollziehbare Idee dahinter ist, dass sich kleine Menschen in einer nicht-erzieherischen Umgebung frei entfalten können und es dann später einmal »besser« machen werden. Und es ist auch mitgedacht, dass dies glaubwürdig nur dann geht, wenn ich zu allen Menschen ein nicht-erzieherisches Verhältnis an den Tag lege, einschließlich mir selbst. — Reicht das?

Radikalität

Das kann funktionieren, wenn ich selbst radikal bin. Mit »radikal« meine ich in seiner wörtlichen Übersetzung das »an die Wurzel gehen«, also nicht aufhören zu fragen, über den eigenen Tellerrand hinausblicken, bewusst soziale Gemeinschaften gestalten, die entfremdenden und repressiven gesellschaftlichen Strukturen erkennen und durch meine Praxis verändern, etwas Neues in die Welt setzen. Diese Radikalität vor allem mir selbst gegenüber erlebe ich höchst selten. Wenn ich die inzwischen doch reichlich vorhandenen im weiteren Sinne »nicht-erzieherischen« Texte lese, dann ist dort die gedankliche Entfernung vom eigenen Bauchnabel nicht sehr groß. So geht es nicht (lange gut), trotz bestem Wollen.

So, jetzt habe ich viel über Nicht-Erziehung geschrieben, und die Nicht-Geldlogik ist etwas hinten runter gefallen. Im Grunde gilt hier jedoch das Gleiche. Viele denken jedoch, dass man gerade hier nun gar nichts machen könne, weil das nunmal eine gesamtgesellschaftliche Frage sei [Ja, das ist Nicht-/Erziehung, radikal verstanden, aber auch]. Die Geldlogik kann ich individuell nicht abschaffen [Ja, die Erziehungslogik, radikal hinterfragt, auch nicht]. Außerdem erscheint Geld doch eher als etwas Neutrales und Naturales, mit dem man einfach umgehen kann [Genauso wie bei der Erziehung: ein trügerischer Schein]. Gut angewendet, kann Geld Nützliches tun [Erzählen uns das nicht auch die Erzieher?]. Usw. usf.

Wird nun verständlich, warum ich meine drei »Appelle« so aufgebaut habe? Ohne eine Vorstellung von meiner Rolle in einer Gesellschaft, die wir herstellen, ohne eine Vorstellung einer Gesellschaft, in der die individuelle Selbstentfaltung die Grundlage dieser »Herstellung« ist (und nicht die Verwertungs- und Geldlogik), und ohne eine Vorstellung davon, wie ich mit den alltäglichen Widersprüchen glaubwürdig umgehen kann in einer Gesellschaft, die heute das nicht unbeschränkt erlaubt, wenn es »sich nicht rechnet«, greift jeder bloß interaktive und unmittelbar kooperative Ansatz zu kurz. Aber es gibt gute Chancen, einmal individuell angefangen nicht stehen zu bleiben, sondern weiterzugehen. Radikal.

Neulich bei »unverdient« und »unerzogen«… [4]

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