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Wahrheit und Verantwortung(-slosigkeit)

Im Forschungsprojekt »Keimform« [1] gibt’s einen neuen Text von Annette Schlemm zum »Wahrheitsanspruch von Wissen« [2] – auch angeregt durch eine Diskussion über mentale Modelle einmal hier [3] und zum zweiten hier [4]. Reaktionen gibt es nicht nur in den Texten in Form von Kommentaren bei den Projekttexten, sondern auch außerhalb, zum Beispiel als Dorftratsch [5]. Darum soll es in diesem Beitrag gehen.

Ich frage mich ganz ernsthaft: Wie kann man die Frage stellen, ob „es der Wissenschaft um die Veränderung der Welt gehen“ darf? Und ich frage mich genauso ernsthaft, warum im Dorftratsch (ist ja nur ein zufälliges Beispiel dort) die Texte zu mentalen Modellen und Wissenschaft mit zwei Bemerkungen abgefertigt werden: „alter Hut“ (=nichts Neues) und „links-intellekttuell schwülstig“ (=abgehobenes Zeug, hat nicht viel mit der Realität zu tun). Woher kommt diese Verweigerungshaltung?

Ok, hier meine These: Eine verantwortungslose Gesellschaft legt ein Verhalten nahe, in der Übernahme von Verantwortung generell abgelehnt oder vermieden wird. Um sich präventiv und vorausahnend jede mögliche sich anbahnende Verantwortung vom Leib zu halten, muss (a) der Zusammenhang von Wissen(schaft) und Veränderungsmöglichkeit zurückgewiesen und (b) jede denkende Herausforderung, die sich nicht auf der unmittelbar-sinnlichen Oberfläche bewegt, als Zumutung abgelehnt werden – und dies dann noch mit einer Haltung des „undogmatischen“ etc. Denn will je ich ein redlicher und mir sich selbst gegenüber ernstzunehmender Mensch sein, bedeutet (a), dass ich erkannte Veränderungsmöglichkeiten auch angehen müsste und (b), dass ich die Scheinevidenz des Sinnlichen hinterfrage, was bedeutet, mich denkend anzustrengen und mit ziemlicher Sicherheit mit den nahegelegten Denk- und Handlungsformen in Konflikt zu geraten.

Zu dem Ganzen gehörte auch, die hier aufgeworfenen Fragen als bloß moralische – oder, als Variante davon, als persönlich vorwerfende – zu behandeln und damit letztlich von sich zu weisen. Um nämlich die hier thesenhaft beschriebene restriktive Umgangsweise mit inhaltlichen Herausforderungen diskutierbar zu machen, müsste genau das, was wie in (a) und (b) beschrieben abgelehnt wird, aktiv durchbrochen und auf je sich selbst bezogen werden. Das macht es allerdings noch schwieriger. Traurig ist, dass es letztlich auf eine Art der „Selbstentmächtigung“ hinausläuft – das Gegenteil dessen, was wir brauchen.

Die beschriebene Form der Abwehr ist glücklicherweise nicht die einzige Rezeptionsform. Die Texte im Keimform-Projekt haben auch sehr „sich auf die Sache einlassende“ und in diesem Sinne „verantwortungsvolle“ Kommentare hervorgerufen.