Frithjof Bergmanns Freiheitsbegriff

Den meisten hier ist wahrscheinlich Frithjof Bergmanns Konzept der Neuen Arbeit ein Begriff. Auch wenn dieses Konzept sicher noch nicht das Gelbe vom Ei ist (weil es weder den Markt noch die Verherrlichung der Arbeit hinter sich lässt), sind Bergmanns Ausführungen zum Thema „Freiheit“ IMHO sehr interessant.

In seinem Buch „Die Freiheit leben“ (Arbor, Freiamt im Schwarzwald 2005) analysiert Bergmann zunächst gängige Charakterisierung von Freiheit, die er zurückweist:

  • Freiheit ist nicht absolute Unabhängigkeit. Von etwas abhängig zu sein, womit man sich identifiziert, wird nicht als Einschränkung der eigenen Freiheit empfunden (eine Freie-Software-Entwicklerin hält sich von sich aus an die GPL bzw. die vier Freiheiten, ohne sich dadurch weniger frei zu fühlen). Das Streben nach absoluter Unabhängigkeit macht deshalb nur für Menschen Sinn, die nichts haben, womit sie sich identifizieren könnten.
    Zudem ist Einflussnahme noch keine Manipulation (wie manche Medienkritiker/innen zu denken scheinen). Wir lassen uns immer durch andere beeinflussen und beeinflussen unsererseits die anderen; ein Mensch, dem diese ideelle Interaktion mit anderen fehlt, ist wahrscheinlich schon tot.
  • Sie besteht auch nicht darin, eine Wahl zu haben: zum einen nützt einem das nichts, wenn man keine der zur Wahl stehenden Alternativen will; zum anderen hat man de facto immer eine Wahl, weil es immer verschiedene Alternativen gibt (auch wenn diese Alternativen höhere Kosten haben, im Extremfall Gefängnis oder Tod bedeuten können).
  • Sie ist nicht die Abwesenheit von Zwängen (dann wäre niemand jemals frei, da man immer von Hindernissen und Zwängen umgeben ist).

Während alle diese Konzepte auf die eine oder andere Weise übers Ziel hinausschießen und echte Freiheit zu einer unmöglichen oder zumindest sehr traurigen (wie im Falle totaler Autonomie) Sache machen würden, identifiziert Bergmann eine gemeinsame Grundidee der verschiedenen Konzepte: „Eine Handlung ist frei, wenn der Handelnde sich mit den Wesenselementen identifiziert, aus denen sie entspringt; sie ist erzwungen, wenn der Handelnde sich von dem Wesenselement disoziiert, das die Handlung erzeugt oder veranlasst.“ (S. 66)

Freiheit besteht also nur dann, wenn Menschen Möglichkeiten haben, herauszufinden, was sie wirklich wollen, und gemäß dieser Erkenntnis zu handeln – ein Ansatz, der interessante Parallelen zum Konzept der Selbstentfaltung aufweist.

Deshalb nützt es Bergmann zufolge auch wenig, wenn eine Gesellschaft Institutionen organisiert, die Wahlfreiheit und Mitbestimmung zulassen (wie dies etwa in der parlamentarischen Demokratie der Fall ist), solange diese Gesellschaft so eingerichtet ist, dass diese Identifikation, diese Selbstentfaltung, erschwert oder verhindert wird. Dies macht begreifbar, warum viele Menschen, trotz der nominellen Wahlfreiheit, heute nicht das Gefühl haben, besonders frei zu sein: im Kapitalismus stehen sie fast immer unter dem Zwang externer Umstände (wie dem Zwang, Geld zu verdienen), die ihren realen Handlungsmöglichkeiten enge Grenzen ziehen und die es ihnen fast unmöglich machen, herauszufinden und zu tun, was ihnen wichtig ist.

Bergmann betrachtet dabei eine Entscheidung nur dann als frei, wenn man sich nicht nur mit dem Resultat, sondern auch mit dem Prozess der Entscheidung identifizieren kann – ohne diese Identifikation wird man diese Entscheidung nicht als die eigene akzeptieren, selbst wenn man am Ende vielleicht zum selben Ergebnis gekommen wäre (niemand kann anderen vorschreiben, was gut für sie ist – auch wenn man sich natürlich immer aus freien Stücken an die Empfehlungen anderer halten kann). Für diese Identifikation ist es aber nicht nötig, dass man die Entscheidung ohne den Einfluss anderer getroffen hat (was wie gesagt sowieso nie der Fall sein wird). Es ist auch nicht nötig, dass ein bewusstes Abwägen zwischen Alternativen stattfindet – praktisch ist es nicht selten so, dass Dinge unbewusst in einem arbeiten und man eines Tages „aufwacht“ und weiß, was man will.

Eine Regierung kann deshalb auch keine Freiheit gewähren, sie kann nur Freiheit reduzieren (indem sie bestimmte Entscheidungen verbietet oder anderweitig erschwert und dadurch diese Entscheidungen zwar nicht unmöglich macht, wohl aber die Kosten erhöht). Faktisch wird der Begriff „Freiheit“ oft als Euphemismus für etwas Anderes (Geringeres) benutzt, nämlich dass bestimmte Handlungen nicht bestraft werden.

Das Gewähren politischer „Freiheiten“ ist gut und wichtig, weil es andernfalls (bei hohen Kosten für bestimmte Handlungen) für die Menschen noch schwieriger wird, herauszufinden und umzusetzen, was sie wirklich wollen. Aber das bloße Vorhandensein solcher politischer „Freiheiten“ führt noch nicht zwangsläufig dazu, dass Menschen dies können (und auch tun).

Freiheit (im Sinne des Rausfindens und Tuns, was einem wichtig ist), ist eine „zarte Pflanze“, die nur in einem guten Klima gedeiht. Wer ums tägliche Überleben kämpfen oder sich von früh bis spät abrackern muss, hat für solchen „Luxus“ weder Zeit noch Gelegenheit. Deshalb ist es so wichtig, nicht nur nominelle Freiheiten zu gewähren, sondern die Gesellschaft tatsächlich so zu organisieren, dass alle ein gutes Leben führen können, damit die gewährten Freiheiten nicht nur ein hohles Versprechen bleiben.

Eine Gesellschaft, die die Partizipation aller ermöglicht (d.h. eine „Demokratie“), ist nicht (nur) freier, sondern auch effizienter als eine, die das nicht tut. Diktaturen sind in vielen Fällen ineffizienter, weil die Menschen sich nicht trauen, ihre Ideen und Bedenken zu äußern, oder es ihnen an Motivation oder Möglichkeiten fehlt, ihre Vorstellungen umzusetzen.

Um diesen Vorteil voll ausspielen zu können, ist es wichtig, allen Menschen bestimmte Grundrechte zu gewähren, um das Risiko von Erniedrigungen und Unglücksfällen zu mindern und so sicherzustellen, dass sich alle im weitestmöglichem Maße einbringen können – das Prinzip der Gleichheit. Es gibt also rein pragmatische Gründe, die für Gleichheit sprechen; ein Rückgriff auf metaphysische Begründungen ist nicht notwendig. Aus demselben pragmatischen Grund, die möglichst weitgehende Entfaltung des Potenzials aller Menschen zu ermöglichen, kann sich eine Gesellschaft auch für gezielte Gegenmaßnahmen gegen bestehende Ungleichheiten entscheiden (durch „Affirmative Action“, Quotenregelungen u.ä.).

Gleichheit (in diesem Sinne) steht also nicht zur Freiheit im Widerspruch (wie gerne angenommen wird), sie ist vielmehr deren Bedingung.

Auch wenn Bergmanns Konzept der Neuen Arbeit sicher nicht der Weisheit letzter Schluss ist – seine Ausführungen zur Freiheit sind fundiert und lohnend. In dem Buch geht es auch darum, was daraus für die Erziehung und für die Organisation der Arbeit folgt – darauf will ich demnächst noch eingehen.

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