Märkte jenseits des Kapitalismus? – Vorüberlegungen

Bazar von Athen (Ausschnitt), Gemälde von Edward Dodwell (1821, gemeinfrei)

In der linken Kapitalismuskritik ist es üblich (und auch ich habe das lange so gemacht), Märkte und Kapitalismus weitgehend gleichzusetzen und jede Kapitalismuskritik gleichzeitig als Kritik an Märkten als gesellschaftlichen Vermittlungsinstrument aufzufassen. Üblich ist dieselbe Gleichsetzung – nur nicht kritisch gesehen – aber auch in der Mainstream-Ökonomie (Neoklassische Synthese, auch kürzer und etwas ungenau „Neoklassik“ genannt). In letzterer wird der Begriff „Kapitalismus“ zwar oft vermieden und stattdessen von „Marktwirtschaft“ gesprochen (in Mankiw (2014) fällt der Begriff „market economy/economies“ viele Dutzend Male, während von „capitalism“ nur in ein paar Zitaten die Rede ist) – damit ist aber genau die von ihren Kritikerinnen „Kapitalismus“ genannte Produktionsweise gemeint, andere Spielarten von marktbasierten Ökonomien existieren vermeintlich nicht.

Schaut man sich allerdings die Geschichte an, stellt man schnell fest, dass Märkte als Institution sehr viel älter sind als der Kapitalismus und in vielen Gesellschaften eine größere oder kleinere Rolle spielten, ohne dass sich diese Gesellschaften deshalb in Richtung Kapitalismus entwickelt hätten. Gleichzeitig sind Märkte oder ähnliche Institutionen durchaus interessant, da sie ein Weg sind, voneinander ansonsten unabhängige Personen oder Personengruppen auf prinzipiell friedliche Weise miteinander in Kontakt zu bringen.

Zur Analyse und Kritik des neoklassischen Verständnisses von Märkten werde ich mich im Folgenden mit dem Lehrbuch Principles of Economics (Mankiw 2014) des US-amerikanischen Ökonomieprofessors N. Gregory Mankiw auseinandersetzen. Mankiw definiert den Begriff „Markt“ wie folgt:

Ein Markt ist eine Gruppe von Käufern und Verkäufern einer bestimmten Ware oder Dienstleistung. Die Käufer als Gruppe bestimmen die Nachfrage nach dem Produkt, und die Verkäufer als Gruppe bestimmen das Angebot des Produkts.

[A market is a group of buyers and sellers of a particular good or service. The buyers as a group determine the demand for the product, and the sellers as a group determine the supply of the product.] (Mankiw 2014, 66)

Neben dem Markt-Begriff werden hier gleich noch die für das Funktionieren von Märkten essenziellen Begriffe Nachfrage und Angebot eingeführt. Märkte drehen sich um den Akt des (Ver)Kaufens: Wenn sich Käuferin und Verkäuferin handelseinig werden, zahlt letztere der ersten die vereinbarte Geldsumme und erstere übergibt der letzteren die Ware oder erbringt für sie die vereinbarte Dienstleistung. Dies gilt so nur für die einfachste Art von Märkten, es gibt viele Varianten (z.B. Kauf auf Kredit; Ratenzahlung; Miete statt Kauf; Aufnahme eines Kredits, der später mit Zinsen zurückgezahlt werden muss). Doch die einfachste Akt der Markttransaktion ist die „paradigmatische“, die von den Ökonomen am liebsten betrachtet wird – wogegen auch nichts einzuwenden ist, solange die anderen Varianten nicht ganz vergessen werden.

Schon aus dieser einfachen Charakterisierung von Märkten ergeben sich einige wesentliche Eigenschaften:

  • Dezentralität: Unterschiedliche Käufer und Verkäufer sind grundsätzlich voneinander unabhängig oder können dies jedenfalls sein (ggf. können sie miteinander zusammenarbeiten, aber sie müssen nicht).

  • Freiwilligkeit: Eine Käuferin und eine Verkäuferin werden sich entweder handelseinig oder eben nicht. Sie müssen dazu (im Allgemeinen) nicht die Zustimmung irgendeiner dritten Partei einholen, und wenn eine der beteiligten Parteien nicht will, kommt kein Geschäft zustande.

  • Faktischer Teilnahmezwang: Auch wenn der Abschluss einzelner Markttransaktionen freiwillig ist, besteht oft ein faktischer Zwang, überhaupt am Markt teilzunehmen, wenn lebensnotwendige oder dringend gewünschte Dinge nur über diesen erhältlich sind. Das gilt allerdings nicht nur für Märkte, sondern für jegliches Versorgungssystem – gibt es keine Alternativen, ist die Teilnahme unumgänglich. Bei Märkten wird man dabei allerdings vor besondere Hürden gestellt: Um teilnehmen zu können, muss man in aller Regel zunächst als erfolgreiche Verkäuferin auftreten (indem man etwa die eigene Arbeitskraft oder deren Produkte verkauft) – erst dann kann man zur Käuferin werden. Und das erfolgreiche Verkaufen kann schwierig sein, weil man sich dabei meist gegen andere Verkäufer durchsetzen muss, die dasselbe wollen.

  • Offenheit: Käufer und Verkäufer können sich grundsätzlich selber überlegen, ob sie sich als solche auf dem Markt betätigen wollen – sie können sich auch entscheiden, gar nichts zu (ver)kaufen, wenn ihnen die vorliegenden Angebote nicht gefallen. Allerdings müssen sie dann die Konsequenzen tragen (auf die nicht gekaufte Ware bzw. das nicht eingenommene Geld verzichten). In vielen Fällen muss auch niemand die Erlaubnis einer dritten Partei einholen, um zur (Ver)Käuferin zu werden – allerdings gilt das nicht zwangsläufig für jeden Markt (ggf. müssen Käufer etwa eine staatliche Lizenz erwerben, um Waffen kaufen zu dürfen, oder Verkäuferinnen brauchen eine Lizenz, um bestimmte Dienstleistungen anbieten zu dürfen).

  • Utilitarismus: Typischerweise werden Marktteilnehmer mit anderen ein Geschäft abschließen, wenn das für sie selber sinnvoll ist. Nicht die Situation des anderen, sondern der eigene erhoffte Vorteil ist Anlass für einen (Ver)Kauf. Natürlich muss das nicht so sein – eine kann eine Ware aus Mitleid mit dem Verkäufer erwerben oder weil sie ihn schätzt und ihm einen Gefallen tun möchte, auch wenn sie die Ware eigentlich nicht braucht oder den Preis für überhöht hält. Solche Entscheidungen kommen vor, sind jedoch dem Gutdünken der einzelnen überlassen. Zunächst legt die Marktsituation es nahe, unter all den einer gegenüberstehenden Käufern oder Verkäufern denjenigen herauszusuchen, der einer das beste Angebote macht, weitgehend unabhängig davon, wie sich das auf die Situation des ausgewählten und der verschmähten (Ver)Käuferinnen auswirkt.

  • Herstellung von Verbindungen: Der naheliegende Utilitarismus bedeutet immerhin auch, dass Menschen oder Menschengruppen, die sonst nichts miteinander zu tun hätten, über Märkte miteinander in Kontakt und „ins Geschäft“ kommen, wenn ihnen das zweckmäßig erscheint. Märkte stellen also Verbindungen her, die es sonst nicht gäbe (jedenfalls nicht ohne alternative Institutionen, die sie hervorbringen würden). Allerdings sind diese Verbindungen aufgrund des beiderseitigen Utilitarismus oft von begrenzter Dauer: Wenn einer der beteiligten Parteien die Verbindung nicht mehr zweckmäßig erscheint (sie etwa einen alternativen Käufer oder Verkäufer findet, der ihr ein besseres Angebot macht), endet sie vermutlich.

Neben diesen allgemeinen Eigenschaften von Märkten, gibt es einige, die nicht zwingend vorhanden sind, auch wenn das im Alltagsverständnis und manchmal auch in der Neoklassik gerne angenommen wird. Nicht notwendig ist etwa, dass Verkäuferinnen und Käuferinnen gegeneinander konkurrieren – zwar ist die Möglichkeit von Konkurrenz immer gegeben, da ein zwischen zwei Beteiligten abgeschlossenes Geschäft das Angebot bzw. die Nachfrage für andere Marktteilnehmer reduziert, sofern diese begrenzt ist. Beteiligte können mit diesem Sachverhalt aber umgehen, indem sie sich untereinander absprechen – in der Neoklassik werden zwar meist nur Absprechen unter Verkäuferinnen behandelt, die auf Kosten der Käufer gehen („Kartell“), doch ist das nicht die einzige Möglichkeit von Absprachen.

Ebenso wenig ist es notwendig, dass alle oder viele Marktteilnehmer möglichst viel Gewinn machen wollen („Profitmaximierung“). Zwar werden Beteiligte immer irgendwelche Zwecke verfolgen, doch um welche Zwecke es sich handelt, wird durch die Marktform nicht festgelegt. Profitmaximierung ist dabei nur eine von zahlreichen Möglichkeiten, und zwar eine, die nur unter ganz bestimmten Bedingungen existiert und zweckmäßig ist – ein Punkt, auf den noch zurückzukommen sein wird.

Ist es sinnvoll, sich die Institution Markt jenseits allzu enger Annahmen über Konkurrenz und Profitmaximierung anzuschauen? Ich denke ja, weil Märkte eine direkte Folge explizit vereinbarter Gegenseitigkeit sind, insbesondere in den Formen „ich gebe, damit du gibst“ und „ich gebe, damit du machst“. Dabei stehen sich diejenigen, die ein Angebot machen, und diejenigen, die es annehmen (wenn sie wollen), gegenüber – und meistens gibt es mehrere Anbietende und mehrere Nachfragende, die grundsätzlich voneinander unabhängig sind. Somit existiert hier ein Markt – und wie ich gezeigt habe, dürfte explizit vereinbarte Gegenseitigkeit nicht so leicht überflüssig zu machen sein. Gleichzeitig zeigt die Geschichte, dass die bloße Existenz von Märkten keinesfalls direkt zum Kapitalismus geführt hat, dass also eine „Gesellschaft mit Märkten“ nicht zwangsläufig eine „kapitalistische Marktwirtschaft“ ist oder wird.

In diesem Kontext relevante Fragen sind etwa:

  • Unter welchen Umständen können Märkte gedeihen und dauerhaft Bestand haben, die nicht von profitmaximierenden (also üblicherweise: kapitalistischen) Firmen dominiert werden?

  • Wie lassen sich die Schwierigkeiten der Marktteilnahme lösen? Sind Märkte denkbar, in denen alle, die teilnehmen wollen, auch teilnehmen können?

Ich werde auf diese (und andere) Fragen zurückkommen. Dabei könnte sich herausstellen, dass Institutionen denkbar sind, die die obigen Bedingungen erfüllen, für die der Begriff „Markt“ aber nicht mehr gut passt. So verwende ich in Beitragen statt tauschen den Begriff Verteilungspool (kurz Pool) für eine Institution, die Anbieter und Nachfragende in Verbindung bringt, aber (zumindest nach meinem damaligen Verständnis) kein Markt ist, da unterschiedliche Anbieterinnen und Nachfragende nicht unabhängig voneinander agieren und da Zahlungen nicht direkt von letzteren an erstere fließen, sondern immer über den Pool gehen. Da es aber klarerweise zumindest viele Ähnlichkeiten zu Märkten gibt, könnte man für solche Arrangements den Begriff „marktähnliche Institutionen“ (MÄI) verwenden.

Ich halte die Beschäftigung mit Märkten bzw. MÄI jenseits des engen, auf Konkurrenz und Profitmaximierung basierenden Standardparadigmas auch deshalb für wichtig, weil von Kritikerinnen ebenso wie von Befürwortern des Kapitalismus gerne zwei Schlüsse gezogen werden, die ich inzwischen für falsch halte: Zum einen, dass eine Gesellschaft, in der Märkte eine größere Rolle spielen, notwendigerweise kapitalistisch ist oder wird; zum anderen, dass Märkte, um vernünftig zu funktionieren, ein erbittertes Konkurrenzverhältnis zwischen den verschiedenen Anbietern voraussetzen. Letzterer Fehlschluss wird gerne auch von denjenigen begangen, die ersteren vermeiden, weshalb ich etwa die „marktsozialistischen“ Ansätze, die mir bislang untergekommen sind, wenig überzeugend finde – sie setzen Märkte pauschal mit Konkurrenzmärkten (competitive markets) gleich, weshalb der Wikipedia-Artikel „Marktsozialismus“ inzwischen konsequenterweise zu einer Weiterleitung auf „Konkurrenzsozialismus“ gemacht wurde. Dass eine Gesellschaft, die zwar nicht mehr kapitalistisch sein will, in der sich aber immer noch alle gegenseitig niederkonkurrieren müssen, nicht unbedingt der Weisheit letzter Schluss sein kann, liegt für mich auf der Hand.

(Fortsetzung: Märkte für reale, aber nicht für „fiktive“ Waren wie Arbeitskraft und Land?)

Literatur

Mankiw, N. Gregory. 2014. Principles of Economics. 7. Aufl. Stamford, CT: Cengage Learning.

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