Ist Kapitalismus ohne Klassen möglich?

Disclaimer: Dieser Text ist ein Diskussionstext. Ich möchte hier nicht eine klare Meinung darstellen und glaube nicht, dass meine Analyse präzise ist, aber ich finde die Frage spannend und der Artikel soll quasi ein Aufschlag zur Diskussion sein.

Wir hatten bei dem letzten Treffen der Commons-Theorie-Gruppe eine Diskussion zu eben dieser Frage. Dieser Text möchte diese Fragen noch einmal explizit stellen und etwas (aber bloß ein bisschen) bearbeiten. Wichtig ist für mich diese Diskussion, weil die Utopie einer Marktwirtschaft ohne Klassen (und ohne andere Exklusionsverhältnisse wie Sexismus, Staatsbürgerschaft, Rassismus, etc.) oft als eine nicht-kapitalistische Zielgesellschaft ohne Verwertungszwang verhandelt wird. Nachdem eine staatliche Plan-Gesellschaft ihr Versprechen im Laufe des 20. Jh. nicht gehalten hat, haben sich selbst kritische Linke immer mehr mit dem Gedanken angefreundet, dass Markt und Tausch auch in einer (zumindest viel) freie(re)n Gesellschaft weiter benötigt sind um Komplexität und globale Arbeitsteilung zu erhalten. Die konsequente Frage ist dann: In welchem Rahmen muss sich Markt und Tausch bewegen um keinen Verwertungszwang zu bilden, oder zumindest um nicht mehr so destruktiv zu wirken. Die Abschaffung von Klassen, als eine der zentralen Linie der Ungerechtigkeit, ist oft Teil dieser Utopien einer Genossenschafts-Marktwirtschaft, eines Marktsozialismus, etc. Dieser Text stellt nun die Frage: Ist nicht auch ein Kapitalismus ohne Klassen denkbar? Und somit: Führt eine Abschaffung der Klassen aus dem Kapitalismus?

Sinnvoll ist es wohl zuerst einmal den Klassenbegriff zu klären. Der Klassenbegriff ist selbst in linken Diskussionen unscharf geworden. Wenn bspw. kritisiert wird, dass sich die Linke mehr um Student*innen als Arbeiter*innen kümmert, wo doch 98% der Student*innen auch lohnarbeiten, hier deutet sich eine stärker sozialwissenschaftliche-weberianische Fassung des Klassenbegriffs an. Klassen wird hier ähnlich zum Schichtbegriff verwendet und bezeichnet eher verschiedene Einkommensklassen, als das was Marx damit meinte. Ich will hier einen ökonomisch-funktionalen Klassenbegriff verwenden. Klassenanalyse ist nicht im Geringsten mein Hauptfokus, aber mit Marx lassen sich zwei zentrale Klassen unterscheiden: Kapitalist*innen und Lohnarbeiter*innen. Zusätzlich gibt es natürlich noch eine Vielzahl von Klassen (?) die z.B. Subsistenzproduktion machen, oder andere die vom Kapitalismus als „unnütz“ produziert werden. Nun zurück zu den zwei oberen. Kapitalist*innen besitzen die Produktionsmittel, sie schöpfen den Mehrwert ab und akkumulieren ihn – ich möchte den Begriff hier noch einmal einengen: Kapitalist*innen müssen nicht lohnarbeiten und haben trotzdem eine individuell ausreichende Verfügung über den gesellschaftlichen Reichtum. Das wirft natürlich die analytische Frage auf, ob jemand die bspw. 1000 Euro im Monat aus Aktienbesitz verdient Kapitalistin ist, aber im Rahmen dieses Textes ist diese Bandbreite glaube ich zuerst mal okay. Passend hierzu sind Lohnarbeiter*innen Menschen, die ihre Arbeitskraft verkaufen müssen um eine individuell ausreichende Verfügung über den gesellschaftlichen Reichtum zu erlangen. Auch hier gibt es Riesenunterschiede ob ich von einer Mercedes-Arbeiterin mit 2,500 Euro Nettoeinkommen, sozialer Sicherung, etc. spreche oder von einer prekär beschäftigten Schuhproduzentin in Äthiopien. Speziell privilegierte Arbeiter*innen haben auch (kleinere) Anteile an dem Lebensstil der Kapitalist*innen: Bei genug Erspartem können sie ein Teil ihres Einkommens durch die Verwertung eben jenes Erspartem verdienen. So weit so schwammig, aber mal kucken …

Der Kapitalismus erzeugt Klassen …

Es ist offensichtlich, dass im Kapitalismus diese zwei Klassen existieren und reproduziert werden. Es gibt Menschen, die müssen arbeiten, und Menschen, die von ihrem Erspartem leben können. Nach aller Analyse verfestigen sich diese Gruppen tendenziell und die Ungleichheits-Schere öffnet sich eher als sich zu schließen. Auch wenn wir uns eine fiktive tauschbasierte Gesellschaft vorstellen, in welcher aller am Beginn das gleiche Einkommen haben (wobei ich glaube, dass das nicht möglich ist, da dann Motivationsprobleme entstehen), dann gibt es wohl Menschen, die geschickter sind, mehr sparen, mehr auf Risiko setzen und Glück haben, etc. deren Erspartes immer weiter ansteigt, bis sie irgendwann gar nicht mehr lohnarbeiten müssen. Ich glaube also: Der Kapitalismus produziert Klassen. Seine Logik der Wertverwertung macht es möglich und legt es nahe, dass manche Menschen ihr Vermögen vervielfältigen können und von dem „Laster der Arbeit“ befreit werden. Doch bloß weil die kapitalistische Dynamik Klassenbildung nahelegt, bedeutet dies nicht, dass diese notwendig für den Kapitalismus sind.

… aber er funktioniert auch ohne sie.

Kann es eine Marktwirtschaft/einen Kapitalismus ohne Klassen geben? Sind Klassen notwendig für den Kapitalismus? Kapitalismus benötigt Wertverwertung. Doch muss der Reichtum in privaten Händen strakt konzentriert sein, damit er sich verwerten kann? Nun ja, sicher ist wohl, dass Reichtum sich bündeln muss um effektiv(er) zu produzieren. Bestimmte Investitionen und Produktionszweige verlangen einen sehr hohen Kapitalinput damit überhaupt mal eine Fabrik steht. Das Aufbringen dieses Kapitals muss jedoch nicht privat stattfinden, sondern kann auch kollektiv geschehen. Viele Unternehmen werden von Fonds und andere Finanzinstitutionen besessen, welche vereinzeltes Vermögen bündeln und es verwertungs-orientiert einsetzen. Von der Notwendigkeit der Kapitalkonzentration her, würde ich also nicht sehen, dass eine Klasse, welche nicht lohnarbeiten muss notwendig ist.

Die Tendenz ist natürlich, dass Individuen die Glück haben und viel riskieren zu Kapitalist*innen werden, aber diese Möglichkeit könnte gesetzlich unterbunden werden – bspw. durch eine Reichtumssteuer. Klassen verschwinden nicht einfach von selbst. Ihre Bildung und Reproduktion müsste tatsächlich verhindert werden. Fähig ist dazu höchstwahrscheinlich nur der Staat. Und es existieren Vorstellungen, welche in diese Richtung gehen. Egal ob es nun Liberale sind die „radikale Chancengleicheit“ fordern, oder Sozialist*innen welche Gleichheit verlangen, beide hatten schon die Idee, dass es fairer wäre, wenn Kinder nichts erben würden, sondern mit dem gleichen Vermögens-Grundstock beginnen. Dies soll die Reproduktion von Klassen verhindern. Da dies sich kaum mit Kleinfamilie verträgt gibt es sozialistische Überlegungen durch eine starke Besteuerung des Reichtums auch die Bildung von Milieus, die gar nicht mehr lohnarbeiten müss(t)en, zu unterbinden. Ein klassenloser Kapitalismus wäre wohl durch einen sozialistischen Staat möglich, der niemandem gönnt nicht arbeiten zu müssen. Würde durch diese Maßnahmen die Wertverwertung verhindert?

Relativ sicher, ist dass die Verwertung durch diese Veränderung eingeschränkt wäre. Wenn ich eine Möglichkeit habe Kapital risikoreich und mit hohen Gewinnerwartungen anzulegen, aber der Staat mir bei hohen Gewinn sowieso proportional ganz schön viel wegnimmt und an sich selbst oder an Ärmere ausschüttet, dann ist meine Motivation in ein risikoreiches Hochgewinn-Portfolio zu investieren auf jeden Fall geschmälert. Das bedeutet aber zuerst einmal nur weniger risikoreiche Investitionen und Neugründungen, möglicherweise insgesamt eine weniger schnelle Kapitalakkumulation, aber kein Ende der Wertverwertung.

Ehrlich gesagt fallen mir keine guten Gründe ein, warum ein Kapitalismus ohne Klassen, bzw. ein Kapitalismus der reinen Lohnarbeiter*innenschaft nicht möglich sein sollte, aber ich bin mir recht sicher, dass da einige Leute anderer Meinung sind. Von dem her würde ich den Artikel einfach erweitern wenn spannende Gegenmeinungen kommen.

Zusatz: Gedanken zum Klassenbegriff

Der oben benutzte Klassenbegriff ist enger als der Marx‘sche. Marx bezeichnet ja Personen die ihre Produktionsmittel besitze aber keine/kaum weitere Leute anstellen und ausbeuten (bspw. eine Handwerkerin oder IT-Arbeiterin) nicht als Kapitalist*innen sondern als einfache Warenproduzent*innen oder Kleinbürger*innentum. Das „Projekt Klassenanalyse“ (siehe) fasst dies genauer und sagt, dass Produktionsmittelbesitzende Kapitalist*innen sind, wenn der von ihnen erlangte Mehrwert „so groß wird, dass sie durch Investitionen ihr Kapital vergrößern und zur Kapitalakkumulation übergehen können“ – hierfür seien nach dem Projekt in Deutschland der 50er und 60er mind. 3,7 Lohnabhängige nötig. Hierbei wird die Zugehörigkeit zu den Kapitalist*innen über Kapitalakkumulationsmöglichkeit bestimmt. Ich haben im obigen Text die Kapitalist*innen nochmal eingegrenzt auf die Personen, die so viel Kapital besitzen und akkumulieren (lassen), dass sie nicht mehr lohnarbeiten müssen. Während die eine Analyse Ausbeutung in den Mittelpunkt rückt: Wer Menschen akkumulierend ausbeutet ist Kapitalistin; ist bei meinem Begriff die Arbeit im Mittelpunkt: Wer soviel durch Akkumulation verdient, dass sie nicht arbeiten muss ist Kapitalistin. Ich bin mir sicher, dass viele andere Menschen viel mehr kluge Gedanken dazu haben. Also los geht’s 😉.

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