- keimform.de - https://keimform.de -

Mögliche und unmögliche Zukunftsperspektiven – Vorüberlegungen

Darstellung des Stanford-Torus, einer in den 1970er Jahren entworfenen spekulativen Weltraumsiedlung (Bild von Donald Davis, gemeinfrei) [1]

Ich werde im Folgenden in einer losen Serie mögliche Perspektiven für die Zukunft der Gesellschaft darstellen und diskutieren. Dazu gehören positiv-utopische Perspektiven (die ich für zumindest nicht völlig unrealistisch und für mehr oder weniger wünschenswert halten würde), negativ-dystopische Perspektiven (die ich für möglich, aber nicht wünschenswert halte) und „Nicht-Perspektiven“ (die ich für unmöglich oder von der heutigen Gesellschaft aus nicht erreichbar halte). Der Übergang zwischen diesen verschiedenen Einordnungen kann dabei durchaus fließend sein. Manche Perspektiven mögen utopische und dystopische Elemente mischen; manche mögen nicht völlig unmöglich, aber aus heutiger Sicht doch eher schwer erreichbar sein.

Gesellschaft und Produktionsweise

Relevant für die Debatte um mögliche Zukünfte ist die Unterscheidung zwischen Produktionsweise und Gesellschaft. Marx’ Kapital beginnt bekanntlich mit den Worten „Der Reichtum der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht, erscheint als eine ‚ungeheure Warensammlung‘“ (MEW 23, 49). Marx unterscheidet hier zwischen der „kapitalistischen Produktionsweise“ und den Gesellschaften, in denen diese Produktionsweise „herrscht“, also vorherrscht oder dominiert. Der Ausdruck „Kapitalismus“ ist also nur eine Abkürzung für „eine Gesellschaft, in der die kapitalistische Produktionsweise vorherrscht“.

Eine Produktionsweise ist die Art und Weise, wie produziert wird, wie also die zum Leben der Menschen und zur Aufrechterhaltung der Gesellschaft benötigten oder gewünschten Güter aller Art (egal ob materiell, immateriell oder Praxis/„Dienstleistung“) hergestellt und verteilt werden. Jede Gesellschaft ist aber ein komplexer Zusammenhang, in der nahezu immer unterschiedliche Produktionsweisen parallel zueinander existieren dürften – die kapitalistische Produktionsweise herrschte schon zu Marx’ Zeiten in Europa und Nordamerika vor und heute fast weltweit, aber sie war und ist nicht die einzige in diesen Gesellschaften praktizierte Produktionsweise.

Im engen Sinne umfasst die kapitalistische Produktionsweise eine Vielzahl von profitorientierten Unternehmen, die Menschen („Arbeitskräfte“) gegen Bezahlung anstellen und die in Konkurrenz zu anderen Unternehmen Waren herstellen, die sie verkaufen. In allen kapitalistisch dominierten Gesellschaften gibt es aber daneben noch andere Produktionsweisen, von denen mindestens zwei – die Subsistenzproduktion in privaten Haushalten und im Familienkreis sowie die staatliche Produktion – für den Weiterbestand der Gesellschaft unentbehrlich sind. Rechtslibertäre („Anarchokapitalistinnen [2]“) übersehen die familiäre Subsistenzproduktion meist komplett und träumen von einer Gesellschaft, in der der Staat und alle seine Organe komplett durch kapitalistische, in Konkurrenz zueinander stehende Unternehmen ersetzt wurden. Tatsächlich wird der Staat für das Funktionieren der kapitalistisch dominierten Gesellschaften, die wir heute kennen, aber gerade deshalb benötigt, weil er kein privatwirtschaftliches, profitmaximierendes Unternehmen ist, sondern stattdessen einen Rahmen aufziehen kann, in dem sich all diese Unternehmen und die von ihnen beschäftigten oder auch nicht beschäftigen Menschen bewegen (müssen).

Ohne hier zu diskutieren, ob eine kompletter Verzicht auf den Staat als selbst nicht profitmaximierenden Akteur im Rahmen kapitalistisch dominierter Gesellschaften möglich wäre, möchte ich hier nur darauf hinweisen, dass es eine derart organisierte Gesellschaft bislang nie gab. Noch weniger vorstellbar ist ein Wegfall von privaten Haushalten und der nicht profitorientierten Subsistenzproduktion unter Familienmitgliedern und Freundinnen, da die kapitalistische Produktionsweise eine ihrer unabdingbaren Voraussetzungen – Arbeitskräfte – nicht aus eigener Kraft hervorbringen kann.

In real existierenden kapitalistisch dominierten Gesellschaften gibt es neben diesen drei für ihren Fortbestand unabdingbaren Produktionsweisen – kapitalistisch, staatlich und Subsistenz – immer noch weitere Akteure, die zur Produktion beitragen, ohne sich einem dieser Modelle zuordnen zu lassen. Etwa Handwerkerinnen und Selbständige, die sich durch in erster Linie eigene Arbeit den Lebensunterhalt sichern, ohne systematisch Profit machen zu können oder zu wollen, und nicht-profitorientierte nichtstaatliche Vereine und Organisationen.

Auch für die Zukunft gilt es diesen Unterschied zwischen Produktionsweise und Gesellschaft im Auge zu behalten. Auch jede künftige Gesellschaft dürfte ein komplexer Zusammenhang sein, in der unterschiedliche Produktionsweisen nebeneinander anzutreffen sein werden. Bei der Diskussion möglicher Produktionsweisen gilt es somit darauf zu achten, wie weit ihr Potenzial reicht und inwiefern es neben ihnen noch andere Produktionsweisen geben könnte oder sogar geben muss, um von der einen Produktionsweise hinterlassene Lücken zu füllen oder punktuell bessere Lösungen anzubieten. Die Vorstellung, dass eines Tages ein und dieselbe Produktionsweise alle Gesellschaftsbereiche umfassen könnte, dürfte fast immer zu kurz greifen.

Mutierte Kapitalismen, Postkapitalismen und Postpostkapitalismen

Dass die kapitalistische Produktionsweise die Gesellschaft eines Tages hoffentlich nicht mehr dominieren wird, heißt deshalb auch nicht zwangsläufig, dass sie vollständig verschwinden würde. Stattdessen könnte sie sich durchaus in einzelne Nischen zurückziehen – zumindest theoretisch. Unabhängig davon, ob der kapitalistischen Produktionsweise noch Nischen blieben oder sie vollständig verschwände, kann man eine nicht mehr von ihn dominierte Gesellschaft als „Postkapitalismus“ bezeichnen, sofern sie direkt aus der kapitalistisch dominierten Gesellschaft hervorgehen kann. Der Begriff „Postkapitalismus“ bezieht sich dabei nur auf diese zeitliche Abfolge, er hat keinen spezifischen eigenen Inhalt, da aus heutiger Sicht ganz unterschiedliche Postkapitalismen vorstellbar sind.

Davon zu unterscheiden ist ein „mutierter Kapitalismus“ – eine Gesellschaft, in der die kapitalistische Produktionsweise zwar noch dominiert, sich die gesellschaftlichen Strukturen und das Verhältnis der gesellschaftlich relevanten Produktionsweisen im Vergleich zum heutigen (europäisch/nordamerikanischen) Modell aber stark gewandelt haben. Die Frage, wie sich der Kapitalismus im Lauf der nächsten Jahrzehnte weiterentwickeln dürfte, ist relevant, wenn man nicht fest davon überzeugt ist, dass bereit in ein paar Jahren zwangsläufig ein Postkapitalismus der einen oder anderen Art ausbrechen wird. Denn jede spätere postkapitalistische Perspektive wird dann ja zwangsläufig aus einem mutierten oder weiterentwickelten Kapitalismus hervorgehen müssen. Deshalb kann von der Frage, wie es mit dem Kapitalismus weitergehen dürfte, auch dann nicht abgesehen werden, wenn man eigentlich an Postkapitalismen interessiert ist.

Drittens sind auch Zukunftsszenarien denkbar, die zwar grundsätzlich – wenn die Voraussetzungen richtig sind – möglich erscheinen, für die aber keine aus heutiger Sicht plausibel erscheinende Variante des Kapitalismus die nötigen Voraussetzungen schaffen dürfte. Da sie somit den Kapitalismus nicht direkt ablösen können, sind sie keine postkapitalistischen Szenarien im engen Sinne. Wenn solch ein Szenario jedoch aus einer postkapitalistischen Zukunft heraus real werden könnte, handelt es sich um einen Postpostkapitalismus“ – einen Postkapitalismus zweiter Ordnung, für dessen Entstehung erst ein Postkapitalismus die nötigen Voraussetzungen schaffen müsste. Im an Marx orientierten Diskurs wird eine Gesellschaft, die Voraussetzungen für eine andere schafft, gerne als „Übergangsgesellschaft“ bezeichnet. Dieser Begriff ist allerdings fragwürdig, da er ignoriert, dass Gesellschaften in aller Regel ein gewisses Beharrungsvermögen besitzen und sich als langlebiger erweisen, als den Diskutierenden vielleicht vorschwebt. Ob die „Übergangsgesellschaft“ wirklich nur ein Übergangsphänomen von begrenzter Dauer bleiben würde, ist in solchen Fällen somit kritisch zu prüfen.

Warum über Zukünfte nachdenken?

Doch was ist überhaupt der Zweck einer derartigen Debatte um mögliche Zukünfte? Sinnvoll ist sie nur unter drei Annahmen:

  1. Die Zukunft ist offen – sie gibt unterschiedliche Möglichkeiten, wie es kommen könnte, und welche davon sich durchsetzen wird, steht heute noch nicht fest. Dies heißt nicht, dass „alles möglich“ ist, sondern jede mögliche Zukunft wird sich sich Rahmen bestimmter, durch Gegenwart und Vergangenheit bereits festgelegter Bedingungen bewegen. Zu den Rahmenbedingungen gehört etwa, dass die Menschheit auf der Erde lebt und bis auf Weiteres mit den hier vorhandenen, endlichen Ressourcen wird auskommen müssen, und dass der menschengemachte Klimawandel zu gravierenden Verwerfungen der irdischen Ökosysteme führen wird, mit denen jede mögliche Zukunft irgendwie wird umgehen müssen.

  2. Zumindest einige der möglichen Zukünfte lassen sich aus heutiger Sicht bereits erahnen. Natürlich nicht in allen Details (wenn ich die Lottozahlen der nächster Woche voraussehen könnte, wäre ich reich, und wenn irgendjemand das könnte, wären Lotterien schon lange in der Versenkung verschwunden), aber doch zumindest in groben, schemenhaften Umrissen.

  3. Heute geführte Debatten haben zumindest eine minimale Chance, Einfluss darauf zu nehmen, welche der möglichen Zukünfte tatsächlich Realität wird.

Ich halte all diese Annahmen für plausibel, wobei mir klar ist, dass sie mit aufsteigender Nummerierung spekulativer werden und dass insbesondere die Annahme, auch hier auf keimform.de geführte Debatten könnten möglicherweise Einfluss auf die Zukunft haben, geradezu vermessen ist. Jedoch haben Debatten darum, was möglich, wünschenswert und „richtig“ ist, in der Vergangenheit jeden gesellschaftlichen Wandel begleitet und ein Stück weit sicherlich auch geprägt – die die Entstehung und Durchsetzung des Kapitalismus begleitenden Debatten werden etwa in A Trumpet of Sedition von Ellen Meiksins Wood und Neal Wood (New York: New York University Press, 1997) nachgezeichnet. Wer das Nachdenken und Debattieren über mögliche und wünschenswerte Zukünfte nur anderen überlässt, muss sich auch nicht wundern, wenn sich dann womöglich deren Ideen durchsetzen und nicht die eigenen (nicht artikulierten).

[Fortsetzung: Zukunftsperspektive: Neoliberaler Kapitalismus [3]]