Eine Welt, in der alle gut leben können

Titelbild „Die Welt reparieren“Das Potenzial der commonsbasierten Peer-Produktion

[Mein Beitrag zum neuen Sammelband Die Welt reparieren. Open Source und Selbermachen als postkapitalistische Praxis, herausgegeben von Andrea Baier, Tom Hansing, Christa Müller und Karin Werner (Transcript, Bielefeld 2016). Es ist auch möglich, das komplette Buch herunterzuladen (Lizenz: CC BY-NC-ND).]

Die Grundideen des Internets sind Offenheit und Dezentralität – jede soll mitmachen können, ohne erst andere um Erlaubnis fragen zu müssen. Wer heute das WWW benutzt, spürt davon womöglich nicht mehr viel. Wird nicht alles von einigen großen Plattformen wie Google, Facebook, Youtube und Amazon dominiert? Es mag so scheinen, doch ist das WWW nur ein kleiner Teil des Internets und die großen Plattformen sind nur ein kleiner Teil des WWW.

Und was auffällig ist: Auch bei Plattformen wie Facebook, Youtube und Twitter sind es die Benutzer (ich verwende weibliche und männliche Formen zufällig im Wechsel), die alle Inhalte beitragen – anders als beim Fernsehen und bei gedruckten Medien, deren Inhalte von bezahlten Profis erstellt werden. Google ist als Suchmaschine für die Vielfalt des WWW groß geworden, produziert also ebenfalls keine eigenen Inhalte, sondern ermöglicht es, diese zu finden. Beim Onlineshop Amazon spielt der „Marketplace“, auf dem Drittanbieter eigene Produkte verkaufen, eine zunehmend größere Rolle, und eBay lebt komplett von der Vermittlung der Angebote anderer Menschen und Firmen.

Selbstorganisierte Räume des Mitmachens und Teilens

Sogar bei diesen Plattformen scheint die Idee des allgemeinen Mitmachens noch durch, allerdings mit dem wichtigen Unterschied, dass es sich im Gegensatz zum Internet selbst um privat betriebene Orte handelt, die die Erlaubnis zur Beteiligung nach eigenem Gutdünken erteilen und widerrufen dürfen – was Facebook oder eBay nicht passt, wird von ihnen gelöscht. In den Weiten des Internets können dagegen alle beitragen, was sie für richtig halten, und nur im Falle von Gesetzesbrüchen können sie dafür von staatlichen Stellen zur Verantwortung gezogen werden.

Als digitaler Raum basiert das Internet auf Software und Wissen, und seinen Grundprinzipien der Freiheit und Vielfalt entsprechend sind Freie Software (auch Open Source genannt) und Freies Wissen seine Grundlagen. Auch hier steht die Erlaubnisfreiheit im Vordergrund: Freie Software ist nicht nur frei in dem Sinne, dass alle sie kostenlos herunterladen können. Sie räumt vielmehr allen Nutzerinnen umfassende Rechte ein, die als vier Freiheiten bekannt geworden sind:

  1. Alle haben das Recht, die Software für beliebige Zwecke zu verwenden. Es gibt dafür keine Voraussetzungen (etwa dass man in irgendeiner Form „bedürftig“ sein muss) und keine Einschränkungen in der Nutzung (etwa ein Verbot, die Software in Firmen oder für kommerzielle Ziele zu verwenden).
  2. Alle haben das Recht, die Software zu studieren und zu verstehen, wie sie funktioniert. Dafür bekommt man (bei Interesse) Zugang zum sogenannten Quellcode der Software, den Programmierer erstellt haben und verändern können. Das ist bei Software, die von Konzernen wie Microsoft und Apple verkauft wird, fast nie möglich – dort erhält man nur eine maschinenlesbare Form der Software, die vom Computer ausgeführt werden kann, aber für Menschen unverständlicher Zeichensalat ist. Und auch bei Webgiganten wie Google und Facebook kriegt niemand außerhalb der Firma die Software zu Gesicht, die in ihren Rechenzentren läuft.
  3. Man kann die Software verbreiten, also an andere weitergeben, ohne dafür um Erlaubnis bitten zu müssen.
  4. Man kann die Software auch verbessern und den eigenen Vorstellungen gemäß umgestalten. Stört mich etwas an dem, was die Software macht, kann ich es verändern; fehlt mir etwas, kann ich es hinzufügen. Und auch die so veränderte Version darf ich an andere weitergeben, die sie wiederum verbessern und an andere weitergeben können.

Das Internet basierte von Anfang an und bis heute auf Freier Software. Der Großteil aller Webseiten wird von freien Webservern wie Apache und nginx ausgeliefert, und unzählige Webseiten werden mithilfe freier Programme wie WordPress und Drupal erstellt. Programmiersprachen – die Sprachen, in denen Programme erstellt werden – sind heute in den meisten Fällen Open Source oder als offener Standard verfügbar. Auch die zahlreichen Programme, die unsichtbar auf Servern und Routern laufen, sind zum großen Teil frei. Die allermeisten Server und Supercomputer laufen unter dem freien Betriebssystem Linux, und auch zahlreiche Programmierer und Computerprofis verwenden dieses System. Das auf Smartphones am weitesten verbreitete Betriebssystem, Android, ist ein von Google entwickelter Linux-Ableger, den Google selbst wiederum (wenn auch zögerlich) als Freie Software bereitstellt.

Der Erfolg des Internets selbst basierte maßgeblich darauf, dass es auf offenen Standards beruht. Wer diese Standards umsetzt, kann sich beteiligen – es gibt keine Firma oder Zentralinstanz, die kontrollieren könnte, wer mitspielen darf.

Das Teilen jeder Art von Wissen ist mit dem Internet sehr einfach geworden. Zu den sieben am häufigsten besuchten Webseiten gehört die Wikipedia, die freie Enzyklopädie in unzähligen Sprachen, die ebenfalls die vier Freiheiten bietet. Man kann sie nicht nur lesen, sondern auch verbessern und erweitern, wobei die Community selbst darüber wacht, dass Unsinn und Spam schnell wieder entfernt werden. Ein Prozess, der nicht immer perfekt, aber alles in allem bemerkenswert gut funktioniert.

Weitere riesige Sammlungen von Freiem Wissen sind OpenStreetMap, ein Projekt zur Erstellung von freien und vielfältig nutzbaren Landkarten, und das Internet Archive, eine gigantische, ständig erweiterte Sammlung von eingescannten Büchern, nicht mehr regulär vertriebenen Computerprogrammen und archivierten Versionen von Webseiten, die so für die Nachwelt verfügbar bleiben. Unzählige weitere freie Werke – Texte, Bilder, Musik, selbst Filme – sind dezentral übers ganze Internet verstreut. Viele von ihnen werden von ihren Autorinnen unter Lizenzen der Creative-Commons-Initiative veröffentlicht, die sich zum Ziel gesetzt hat, Urhebern das freie Teilen ihrer Werke leicht zu machen. (Wobei allerdings nicht alle CC-Lizenzen die vollständigen vier Freiheiten einräumen – manche erlauben nur die nichtkommerzielle Weitergabe oder verbieten das Verändern gleich ganz.)

Die ABCD-Prinzipien

Gemeinsam sind dem offenen Internet und den freien Projekten, die auf seiner Basis florieren, vier wesentliche Prinzipien, die man nach den Anfangsbuchstaben ihrer Kernbegriffe als ABCD-Prinzipien bezeichnen könnte:

A Kooperation auf Augenhöhe:

Die Beteiligten in freien Projekten arbeiten oft freiwillig zusammen, um zu einem gemeinsamen Ziel beizutragen. Deshalb kann keine von ihnen den anderen Befehle erteilen, da es keine Druckmittel wie etwa die Angst vor Entlassung und Arbeitslosigkeit gibt, um Gehorsam zu erzwingen. Alle machen aus freier Entscheidung mit – oder eben gar nicht. Oft gibt es Koordinatorinnen (gerne „Maintainer“ oder „Admins“ genannt), die ein Projekt auf Kurs halten und entscheiden, ob Beiträge integriert oder zurückgewiesen werden, aber diese sind auf die freiwilligen Beiträge der anderen angewiesen und können keinerlei Zwang anwenden. Dieser Modus der Zusammenarbeit wird gerne als „Peer-Produktion“ bezeichnet, denn das englische Wort peers bezeichnet (unter anderem) Gleichberechtigte, die sich niemandem unterordnen müssen. In einem offenen Prozess entwickeln die Projektbeteiligten die Regeln und Organisationsformen der Zusammenarbeit selbst.

Das gilt in vollem Umfang allerdings nur da, wo sich Freiwillige ohne finanzielle Interessen engagieren. Bei Wikipedia und OpenStreetMap ist dies fast ausschließlich der Fall. Freie Software wird dagegen oft von Firmen mitentwickelt, die einige ihrer Programmierer mit der Weiterentwicklung der Software beauftragen – etwa weil sie diese selber nutzen oder mit Zusatzangeboten wie Support Geld verdienen wollen. In solchen Fällen gelten natürlich die Regeln der Firmenwelt weiter und diese Programmiererinnen müssen den Weisungen des Managements Folge leisten.

B Beitragen statt tauschen:

Projekte haben ein gemeinsames Ziel, und alle Teilnehmenden tragen auf die eine oder andere Weise zu diesem Ziel bei. Dafür gibt es eine Vielzahl von Gründen. Manche wollen das entstehende Produkt selber nutzen, anderen macht die jeweilige Tätigkeit Spaß oder sie wollen ihr Wissen teilen. Wieder andere beteiligen sich, um etwas zu lernen oder der Community etwas zurückzugeben. Durch das allgemeine Beitragen kommen alle schneller zum Ziel, als wenn sie vereinzelt vor sich hinwursteln würden.

An Peer-Projekten Beteiligte tragen direkt zu einem Ziel bei, das sie für wünschenswert oder unterstützenswert halten. Ganz anders der marktwirtschaftliche Ansatz, wo alle arbeiten und produzieren, um etwas zu verkaufen (oder zu tauschen – Kauf und Verkauf sind die geldvermittelte Form des Tauschens). Wer in Hinblick auf die Verkaufbarkeit produziert, verfolgt ein indirektes Interesse – es geht gar nicht um das Produzierte, sondern darum, einen erhofften Geldgewinn zu erzielen. Die Peer-Produktion lässt dieses Tausch-Paradigma hinter sich.

C Commons und Besitz statt Eigentum:

Eigentümer haben das Recht, andere von der Nutzung ihres Eigentums auszuschließen oder ihnen – üblicherweise gegen Gebühr – den Zugang dazu temporär oder dauerhaft einzuräumen. In Peer-Produktion entsteht in aller Regel kein Eigentum einzelner, denn wieso sollten Menschen freiwillig zur Entstehung einer Sache beitragen, von deren Nutzung sie dann hinterher ausgeschlossen sind oder werden können? Freie Software, Freie Wissensartefakte und auch das offene Internet selbst sind keine Waren, die von Firmen hergestellt werden, um verkauft oder vermietet zu werden und der Firma so Profite zu verschaffen. Stattdessen sind sie Commons (auf Deutsch auch „Gemeingüter“ oder „Allmenden“ genannt), die niemandem exklusiv gehören, sondern kollektiv genutzt werden. Zur Nutzung gehört auch die gemeinsame Pflege und Weiterentwicklung, weshalb hinter jedem größeren Freie-Software- oder Wissens-Projekt eine Community von Menschen steht, die sich darum kümmert, dass das Werk zugänglich bleibt und weiter verbessert wird.

Commons sind kein neues Konzept, ganz im Gegenteil. Schon vor Jahrtausenden galten etwa natürliche Ressourcen wie Wasser, Wälder und Land sowie kollektiv genutzte Einrichtungen wie Wege und Wasserversorgungen oft als Allmenden, die gemeinschaftlich gepflegt und gemäß von der Gemeinschaft festgelegter Regeln genutzt wurden. Das Internet hat dieser uralten Praxis, die in Vergessenheit geraten, wenn auch nie ganz verschwunden war, zu einer Renaissance verholfen. Doch eins ist bei den digitalen Commons anders: Während bei traditionellen Allmenden die Gemeinschaft der Kümmerer und Nutzerinnen lokal begrenzt war – etwa auf die Bewohner eines bestimmten Dorfs –, sind diese neuen Allmenden grundsätzlich offen für alle, die mitmachen wollen und bereit sind, sich an die kollektiv festgelegten Spielregeln zu halten.

Was aber ist mit Gütern, die nicht gemeinsam genutzt werden können, sondern nur von einzelnen oder kleinen Gruppen? Etwa mit dem Apfel, den niemand mehr essen kann, wenn ich ihn gegessen habe, oder mit dem Fahrrad, mit dem niemand anderes fahren kann, während ich es fahre? Da es bei Peer-Produktion um ein gemeinsames direktes Ziel statt um das indirekte Ziel der Verkaufbarkeit geht, kommt es hier weniger auf formale Eigentumsrechte an als auf Nutzungsmöglichkeiten. Das wird als Besitz bezeichnet – die Wohnung, die ich gemietet habe, ist mein Besitz, aber das Eigentum meines Vermieters. Einen Peer-produzierten Apfel könnte ich essen, aber ich habe vielleicht kein Recht, ihn zu verkaufen, wenn ich ihn nicht selber essen will – stattdessen kann ihn dann jemand anderes essen (nutzen), ohne dafür meine Erlaubnis zu brauchen. Genaueres bestimmen die Regeln, die sich die Community gibt.

D Dezentral-selbstheilend:

Das Internet unterscheidet sich von älteren Netzen wie dem klassischen Telefonnetz dadurch, dass es auf dem Prinzip des packet switching (Paketvermittlung) basiert. Für Telefongespräche braucht es eine feste Verbindung zwischen Anruferin und Angerufenem; wird diese Verbindung irgendwo unterwegs unterbrochen, ist das Gespräch vorbei. Solange die Verbindung offengehalten wird, belegt sie jedoch auch dann Kapazitäten, wenn gerade keine der Beteiligten etwas sagt. Kommunikationsvorgänge im Internet werden dagegen in viele kleine Pakete aufgeteilt, und jedes dieser Pakete sucht sich seinen eigenen Weg. Bricht der bisher gewählte Weg weg, finden die weiteren Pakete einfach einen anderen, so dass die Kommunikation weitergehen kann. Internetkommunikation ist daher selbstheilend: Solange es nur irgendeinen denkbaren Weg zwischen den Beteiligten gibt, wird dieser gefunden; man muss nicht „neu wählen“, weil das Gespräch unterbrochen wurde. Und wenn sich die Beteiligten gerade nichts zu sagen haben, werden keine oder nur ganz wenige Pakete verschickt, so dass mehr Kommunikationskapazität für andere bleibt.

Beim klassischen Telefonnetz gibt es Vermittlungsstellen, die alle Verbindungen herstellen – ist die Vermittlungsstelle nicht erreichbar, kann man niemanden mehr anrufen. Dagegen gibt es im Internet (jedenfalls auf der Ebene der Paketvermittlung) keine derartigen Zentralstellen, sondern alle direkt ans Internet angeschlossenen Computer sind grundsätzlich gleichberechtigt. Selbst wenn das Internet komplett in zwei Teile zerfallen würde, würde innerhalb jedes dieser Teile alles weiterlaufen wie bisher.

Auch digitale Commons produzierende Projekte weisen diesen dezentral-selbstheilenden Charakter auf. Bei proprietärer Software (oder anderen Verkaufsprodukten) hängt alles von der Herstellerfirma ab – wenn diese pleitegeht oder das Interesse an dem Produkt verliert, sitzen die Kunden auf dem Trockenen. Und wenn sich Kundinnen eine bestimmte Erweiterung wünschen, an der der Hersteller kein Interesse hat, sind sie machtlos, denn selbst verändern können und dürfen sie die Software nicht. Ganz anders bei Freier Software: Hier gibt es zwar typischerweise ein Team, das sich um die Entwicklung kümmert, doch hat es keine exklusiven Rechte an dem Produkt. Verliert das Originalteam irgendwann die Lust, können andere dort weitermachen, wo es aufgehört hat. Und alle haben das Recht, eigene veränderte Versionen der Software zu erstellen und zu verbreiten, ohne dafür irgendjemanden um Erlaubnis bitten zu müssen.

Vom Freien Wissen über Freies Design zur verallgemeinerten Peer-Produktion?

Am besten funktioniert die Peer-Produktion bislang bei der Produktion und Verbreitung von Wissen und Zeichenartefakten. Ansatzweise greift dies schon in die materielle Welt über, wenn etwa Baupläne und Konstruktionsbeschreibungen für materielle Dinge geteilt werden. Das wird Freies Design oder Open-Source-Hardware genannt. Die Dinge selbst werden hier freilich noch nicht frei verfügbar gemacht, sondern nur das Wissen darum, wie man sie herstellt.

Der Berliner Designer Ronen Kadushin entwirft frei verfügbare Möbel und vom SketchChair-Projekt kommt eine Software, die es allen ermöglicht, selbst zu Möbeldesignern zu werden. Das Open Prosthetics Project entwickelt frei nutzbare Arm- und Beinprothesen, die den individuellen Bedürfnissen besser angepasst werden können als bei kommerziellen Produkten üblich. Das von einem im Krieg verstümmelten Soldaten gegründete Projekt hat auch den Anspruch, eine bessere medizinische Versorgung von Menschen zu erreichen, die sie sich normalerweise nicht leisten können, wie z.B. in „Entwicklungsländern“. Mehrere Projekte veröffentlichen Baupläne für kleine Computer, deren Grundbausteine auf eine einzige Platine passen und die modular erweitert werden können – neben dem sehr bekannten Arduino gibt es unter anderem das PandaBoard und das BeagleBoard. Zahlreiche weitere Projekte aus dem Elektronikbereich sind im Open Hardware Repository zu finden.

Auch die Baupläne für Produktionsmittel werden frei geteilt. Besonders populär ist der 3D-Drucker RepRap, der seine eigenen Bauteile selbst „ausdrucken“ kann und inzwischen in zahlreichen Varianten existiert. Auch Laserschneidmaschinen, Platinenfräsen und programmgesteuerte Webstühle gibt es als Open Source. Bislang sind diese Maschinen allerdings eher zum Experimentieren und für Prototypen geeignet, mit der hochindustrialisierten kapitalistischen Massenproduktion können sie nicht mithalten.

Der Sprung vom freien Teilen von Bauplänen und anderen Zeichenartefakten zum freien Teilen auch materieller Dinge ist noch nicht geglückt. Das sollte aber kein Grund sein, nicht schon weiterzudenken. Ist eine Welt möglich, in der Peer-Produktion und Commons allen Lebensbereichen zugrunde liegen? Wie könnte eine solche Gesellschaft funktionieren?

Es wäre eine Welt, in der die oben genannten ABCD-Prinzipien alle Lebensbereiche durchdringen. Das würde bedeuten, dass Dinge hergestellt, gewartet und repariert, Dienstleistungen angeboten und Infrastrukturen am Laufen gehalten werden, weil sie jemand gebrauchen kann, und nicht, weil jemand damit Geld verdient. Die Menschen gehorchen nicht, weil sie die Angst vor Jobverlust oder vor der Polizei dazu zwingt, sondern sie arbeiten mit anderen zusammen, weil sie das für sinnvoll halten – selbstbestimmt und auf Augenhöhe.

Dinge werden hergestellt, um genutzt, nicht um verkauft zu werden. Das Eigentum im heutigen Sinne verliert deshalb seine Bedeutung. Ich lebe in meiner Wohnung, so lange ich das möchte, doch wenn ich in eine andere Stadt ziehe, verkaufe ich sie nicht, sondern gebe sie der Community zurück, die dann jemand anderes findet, der darin wohnen möchte.

Die Güterverteilung funktioniert nach dem Prinzip der Flatrate. Niemand lebt im Elend und keine hat so viel, dass sie gar nicht mehr weiß, wohin damit – sondern alle nehmen sich, was sie brauchen, weil sie es brauchen. Alle oder die meisten tragen auf die eine oder andere Weise zu dieser kollektiv selbstorganisierten Flatrateproduktion bei – nicht weil sie andernfalls ins Elend abrutschen oder ins Gefängnis geworfen würden, sondern weil sie das für sinnvoll halten und weil es allgemein üblich ist.

Allgemeine Beteiligung ohne Zwang

Aber würde das funktionieren? Werden nicht alle faul auf dem Sofa liegen, weil Menschen nur arbeiten, wenn sie dazu gezwungen sind – wenn ihnen andernfalls Elend und soziale Ausgrenzung oder Schlimmeres drohen? Und wenn die Dinge kein Geld mehr kosten, werden sich dann nicht alle massenhaft Dinge aneignen, egal ob sie sie wirklich gebrauchen können oder nicht, so dass alle Versorgungsinfrastrukturen rasch zusammenbrechen würden?

Es gibt keine Patentrezepte für eine andere Gesellschaft und deshalb keine Gelingensgarantie. Jede Gesellschaftsorganisation hat ihre Probleme und die in der Gesellschaft lebenden Menschen werden geeignete Wege finden müssen, damit umzugehen. Doch das eben skizzierte Negativszenario basiert auf falschen Annahmen. Es verallgemeinert bestimmte, nur im Kapitalismus geltende Bedingungen.

Faul zu sein, ist schön und wichtig, und die Menschen in einer Peer-Commons-Gesellschaft werden viel Zeit dafür haben, denn die notwendigen (re-)produktiven Arbeiten werden sehr viel weniger Zeit in Anspruch nehmen als heute. Das liegt daran, dass der kapitalistische Produktionsprozess in mancher Hinsicht sehr ineffizient ist. Firmen stehen in Konkurrenz zueinander und versuchen ihr Wissen deshalb möglichst geheim zu halten. Das führt zu viel unnötiger Doppelarbeit, weil jede ihre eigenen Lösungen finden muss, statt dass alle gemeinsam weiterdenken und gegenseitig an ihre Vorarbeiten anknüpfen können. Jede Firma muss so viel verkaufen wie sie kann. Sie versucht ihre Kunden zu überzeugen, dass sie immer mehr und Neues brauchen, und gestaltet ihre Produkte so, dass sie rasch kaputtgehen oder veralten („geplante Obsoleszenz“). Und weil sich konkurrierende Firmen in ihrem Versuch, möglichst viel Umsatz zu machen, nicht abstimmen können, kommt es immer wieder zur Überproduktion von Waren, die sich als unverkäuflich entpuppen.

Peer-Produzenten ähnlicher Güter werden sich dagegen abstimmen, um kollektiv für den bestehenden Bedarf zu produzieren, aber nicht darüber hinaus. Sie werden ihr Wissen miteinander teilen und langlebige sowie leicht reparierbare Produkte entwickeln, von denen die Nutzerinnen möglichst viel haben – schließlich produzieren sie für deren Bedürfnisse, nicht für den Profit. Außerdem werden ganze Wirtschaftszweige, etwa das Finanzwesen, der Immobilienhandel und die Rüstungsindustrie wegfallen, weil sie niemand mehr braucht.

Es wird also sehr viel weniger Arbeit geben als heute, aber natürlich muss auch diese Arbeit noch geleistet werden. Zum Glück ist die These falsch, dass Menschen nur unter Zwang arbeiten. Heutige Peer-Projekte zeigen, dass es viele andere Gründe gibt, etwa die Freude am Tun oder der Wunsch, etwas zu lernen. Es ist auf Dauer unbefriedigend, immer nur von anderen abhängig zu sein, ohne selbst etwas für die anderen zu tun und damit die einseitige Abhängigkeit in eine gegenseitige zu verwandeln. Beziehungen in Familien und im Freundeskreis basieren auf einer informellen Gegenseitigkeit – jeder tut etwas für die anderen, ohne dass es sinnvoll oder praktikabel wäre, das gegeneinander aufzurechnen.

Eine Peer-Commons-Gesellschaft würde auf dieser informellen Gegenseitigkeit als allgemeinem Organisationsprinzip basieren. Typischerweise würden sich alle, sofern sie nicht zu jung, zu alt oder zu krank sind, auf die eine oder andere Weise an den gesellschaftlich nötigen Tätigkeiten beteiligen – ob sie sich um Kinder kümmern, Alte oder Kranke pflegen, Landwirtschaft betreiben, Busse fahren, Fahrräder bauen oder reparieren, Energie- und Wasserversorgung in Betrieb halten etc. Peer-Produktion ist generell „hinweisbasiert“. Wer sich etwas wünscht oder etwas sieht, das im Argen liegt, hinterlässt Hinweise darauf, was zu tun ist. Andere sehen diese Hinweise und wer sich selbst für geeignet und die entsprechende Aufgabe für relevant hält, beteiligt sich dann vielleicht an ihrer Erfüllung. So können sich die Menschen selbst aussuchen, auf welche Weise sie sich in den gesellschaftlichen Prozess einbringen.

Vermutlich werden sich die allermeisten gesunden Erwachsenen beteiligen. Schon die Erwartungen der anderen dürften dafür sorgen, dass sich niemand ohne guten Grund verweigert. Wer das tut, hätte zwar keine Sanktionen zu erwarten, aber vermutlich schiefe Blicke und kritische Fragen von Nachbarinnen und Freunden. Und wenn sich fast alle auf die eine oder andere Weise beteiligen, hat niemand sehr viel zu tun, was die Attraktivität der „Verweigerungslösung“ weiter vermindert.

Kollektive freiwillige Selbstorganisation führt manchmal zu sehr unausgewogenen Belastungen – manche hängen sich sehr stark rein, um „den Laden am Laufen“ zu halten, andere tun nur gelegentlich einmal etwas und kümmern sich um Dinge, die ihnen sowieso gefallen. Auf Dauer kann das bei Ersteren leicht zu Frust und einem Gefühl von Überforderung führen. Dieses Risiko lässt sich nicht ganz aus der Welt schaffen, ohne den freiwilligen Charakter der Zusammenarbeit zu zerstören – es gibt aber Möglichkeiten, bewusst damit umzugehen und es so zu minimieren.

Eine Möglichkeit ist ein allgemeines Trackingsystem, in die Freiwilligen den Umfang ihres Engagements eintragen. Jede kann so sehen, wie sie relativ zum Durchschnitt aller (die sich am Tracking beteiligen) steht. Hat man deutlich weniger gemacht, kann das ein Hinweis sein, sich mehr zu engagieren; ist die eigene Beteiligung überdurchschnittlich, kann man es ruhiger angehen lassen oder sich eine Auszeit gönnen. Auch wer sich nicht aktiv am Tracking beteiligt, weiß so, wie viel Beteiligung gesellschaftlich üblich ist und kann sich daran orientieren. Alle diese Entscheidungen werden aber weiterhin freiwillig von den Einzelnen getroffen, und nur die Einzelne erfährt, wie viel sie selbst beiträgt – alle anderen erfahren nur Durchschnittszahlen.

Eine allgemeine Beitragspflicht dürfte kaum sinnvoll sein, da sie demotivierend wirken würde. Wer sich noch an die eigene Schulzeit erinnern kann, dürfte wissen, dass Dinge, die man tun muss, immer deutlich unattraktiver sind als solche, für die man sich freiwillig aus eigenem Interesse entschieden hat. Sie wäre auch nicht effektiv durchsetzbar, da man beim Erfassen der Zeiten schummeln oder einfach herumtrödeln könnte.

Im Kapitalismus sorgen Marktmechanismen dafür, dass nur Zeit „zählt“, in der effektiv gearbeitet wurde – ein trödelnder Tischler, der sich doppelt so viel Zeit gelassen hat wie andere, kann seinen Tisch trotzdem nicht teurer verkaufen. Aber diesen Effekt gibt es nur bei Konkurrenz einzelner Privatproduzenten, die dann notwendigerweise gegeneinander arbeiten. Und diese Konkurrenz führt notwendigerweise zu Gewinnern und Verliererinnen – manche bleiben im Konkurrenzkampf auf der Strecke. Konkurrenz führt außerdem zu einem Unterbietungswettbewerb, der oft auf Kosten der Natur (die übernutzt wird), der eigenen Mitarbeiter (deren Arbeitskraft möglichst intensiv ausgebeutet wird) oder der Kundinnen (denen unter Umständen ein gesundheitsschädigendes oder kurzlebiges Produkt angedreht wird) geht.

Will man dies nicht, dann ist auch kein effektives Einfordern von Mindestbeteiligungszeiten möglich. Es dürfte aber auch nicht nötig sein, weil die meisten verantwortungsvoll genug sein dürften, sich in angemessenem Maße einzubringen, wobei ihnen Hilfsmittel wie das skizzierte Trackingsystem helfen können, ihre Beiträge im Auge zu behalten.

Welt ohne Geld

Da es keine Gehälter mehr gibt, entfällt auch der Zwang, sich das Notwendige oder Gewünschte kaufen zu müssen. Die produzierten Güter (ob materiell, immateriell oder Dienstleistung) werden stattdessen nach dem Flatrateprinzip verteilt: Alle nehmen sich, was sie brauchen, sobald sie es brauchen. Und was man nicht mehr braucht, gibt man (wenn es noch gut ist) zurück, so dass andere es gebrauchen können. Schließlich gibt es kein Eigentum mehr, das man durch Verkaufen oder Vermieten „zu Geld machen“ kann, und auch keine Notwendigkeit mehr dazu. Statt Läden gibt es Verteilstellen, aus denen man sich bedient, und in die man nicht mehr Gebrauchtes zurückbringen kann. Die Menschen werden sich bald angewöhnen, diese Verteilstellen als ausgelagerten Lagerraum anzusehen, und sich nur bei Bedarf das Benötigte holen, statt unnötigen Plunder in der eigenen Wohnung oder Garage zu behalten.

Aber würde das Flatrateprinzip nicht zu allgemeiner Übernutzung führen – würden nicht alle einen Mercedes fahren und eine viel zu große Wohnung bewohnen? Wohl nicht, denn teure Autos und Luxuswohnungen sind heute ein Statussymbol. Man leistet sie sich zu einem guten Teil, um zu zeigen, dass man sie sich leisten kann, und um sich so von der Masse abzusetzen. Dieser Effekt würde entfallen, denn was frei verfügbar ist, kann kein Statussymbol sein.

Ohne Geld, das es seinen Besitzerinnen ermöglicht, sich ohne Weiteres zu kaufen, was sie wollen, bleibt den Einzelnen auch gar keine Möglichkeit, sich ohne Rücksicht auf die anderen und deren Bedürfnisse nur um das eigene Wohl zu kümmern. Niemand kann alles allein herstellen, was er zum Leben braucht, weshalb nur eine allgemeine Verständigung mit anderen darüber bleibt, was gewünscht wird und wie das Gewünschte auf eine Weise aufgeteilt werden kann, die alle als fair empfinden. Statt Luxusvillen für einige und Slums für den großen Rest wird ausreichend Wohnraum entstehen, in dem sich alle wohlfühlen können. Das heißt nicht, dass es nur noch langweilige Einheitswohnungen gäbe, sondern Stil, Schnitt und Ausstattung werden gemäß individuellen Präferenzen variieren.

Generell wird es darum gehen, die (re-)produktiven Infrastrukturen so zu gestalten, dass niemand zu kurz kommt – also Lösungen zu finden, die allen ein Leben gemäß ihren individuellen Vorstellungen und Wünschen ermöglichen. Dabei kommt es im Zweifelsfall darauf an, auf die „Bedürfnisse hinter den Bedürfnissen“ zu schauen – hinter dem Wunsch, ein bestimmtes Auto zu fahren, steckt etwa das Bedürfnis nach Mobilität. Ein Mercedes für jede ist ein Ding der Unmöglichkeit, aber eine flexible Verkehrsinfrastruktur, die Mobilität für alle ermöglicht, ist machbar. Umfassen wird sie wahrscheinlich vor allem Bahnlinien und öffentlichen Nahverkehr, Fahrräder (mit oder ohne elektrischen Hilfsmotor) sowie Pools von Fahrzeugen (z.B. Lastenräder oder Kleinbusse), die man sich bei Bedarf ausleiht.

In einem einzelnen Artikel können die Möglichkeiten und Herausforderungen einer Gesellschaft nach dem Kapitalismus und nach dem Geld nur skizzenhaft dargestellt werden. Wer mehr wissen will, ist eingeladen, auf dem Gemeinschaftsblog keimform.de weiterzulesen und gerne auch mitzudiskutieren.

Literatur

Habermann, Friederike (2016): Ecommony: UmCARE zum Miteinander, Sulzbach.

Meretz, Stefan (2015): Commonismus statt Sozialismus. In: Marxistische Abendschule Hamburg (Hg.): Aufhebung des Kapitalismus. Die Ökonomie einer Übergangsgesellschaft, Hamburg, 259–277. Online unter: https://keimform.de/2015/commonismus-statt-sozialismus

Nuss, Sabine (2015): Die stigmergische Zukunft. In: neues deutschland vom 11.04.2015. Online unter: https://keimform.de/2015/die-stigmergische-zukunft/

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