Commons-Diskurs: Individuum und Gesellschaft

commons-jvmus-200Eine siebenteilige Serie mit Fragen an den Artikel Grundrisse einer freien Gesellschaft. Bisher erschienen: Freie Gesellschaft.

2. Individuum und Gesellschaft

Frage: Was hält diese neue Gesellschaft zusammen? Zum einen feierst Du den Individualismus des Einzelnen (der Nerd, der sich in seinen selbst gewählten Aufgaben entfaltet). Zum anderen soll die Gesellschaft von „positiver Reziprozität“ geprägt sein, in der Rücksicht auf die Bedürfnisse der anderen genommen werden soll. Es fehlt die mittlere Ebene der erlebten Gemeinschaft, in der auch Gesellschaftlichkeit steckt, die in den Menschen keimhaft auch immer schon vorhanden ist.

Du schreibst: „Gibt es genug unterschiedliche Menschen, so findet sich für jede Aufgabe ein Nerd, der/die sich ihrer annimmt.“ Die Frage ist aber, ob es genug Nerds mit ungewöhnlichen Präferenzen gibt, um alle Aufgaben zu bewältigen, die für die meisten Menschen unattraktiv und trotzdem für die Bedürfnisbefriedigung aller notwendig sind. Worin genau besteht in einer Peer-Commons-Gesellschaft der Anreiz, sich auch für intrinsisch unattraktive Aufgaben zu engagieren? Oder mit welchen Mechanismen werden diese Aufgaben dann vergeben?

Auf Kooperation aufbauende Gesellschaften sind darauf angewiesen, dass alle innerhalb der Gesellschaft einen gemeinsamen Zweck verfolgen. Peer-Commons setzen deshalb die Identität des individuellen und des kollektiven Interesses voraus. Ist das – nicht nur in einer neoliberal geprägten Gesellschaft – realistisch und generell gewünscht? Ist das ein wünschenswertes Ziel, dass alle Individuen unter das kollektive Ziel gestellt werden?

Antwort

Der Neoliberalismus ist die strukturell selbstfeindliche Form, Individualismus zu leben. Er ist die kapitalistische Antwort auf die Forderungen der 1968er Studierendenbewegung nach Entfaltung von mehr individueller Freiheit. Er befreit die Exklusionslogik, nach der die individuelle Entfaltung immer auf Kosten von anderen geht, von „überflüssigen Einschränkungen“. Diese Logik ist selbstfeindlich, da ich für andere der Andere bin und auch selbst immer wieder genauso unter die Räder komme. Ich reproduziere eine Form der Entfaltung, die meine eigene Entfaltung einschränkt, da ich die Bedingungen und Handlungsstrukturen reproduziere, die sich auch gegen mich wenden. Bleibe ich in dieser Logik, muss ich „nur“ der/die Stärkere sein, der/die obenauf bleibt. Im Alltag kennen wir alle das „ich zuerst, die anderen sind mir egal“ sehr gut. Der konsequente affirmative Ausdruck der Exklusionslogik sind die regressiven Bewegungen von Pegida, AfD und Co.

Und nun feiere ich den Individualismus? Ja, das tue ich. Der Gegensatz zum Individualismus ist nicht der Kollektivismus, ist nicht die kollektive Unterstellung aller Individuen unter ein Ziel – welches dann notwendigerweise immer andere vorgeben. Das ist eine realsozialistische Denkfigur. Der Gegensatz zum Individualismus, der sich in der Exklusionslogik des Kapitalismus strukturell stets auf Kosten anderer entfaltet, ist der Individualismus, der in der Inklusionslogik der Commons die anderen als Bedingung der eigenen Entfaltung versteht; der die anderen nicht „altruistisch“ einbezieht, sondern bewusst erkennt, dass ich mich nur entfalten kann, wenn meine Entfaltung die Entfaltung der anderen nicht hemmt, sondern durch positiv-reziproke Beziehungen unterstützt. Entfaltung ist nur gesellschaftlich mit anderen möglich, nicht gegen sie. Diese ist jedoch kein Willensakt „moralisch richtigen“ Verhaltens, sondern eine strukturelle Voraussetzung, die bewusst geschaffen werden muss. Die Inklusionslogik zeigt sich zwar interpersonal, ist aber selbst eine Handlungsmatrix, eine Strukturvoraussetzung des Handelns, in der Kooperation funktional und Konkurrenz dysfunktional ist. Es gilt auf die Handlungsbedingungen zu schauen, nicht auf die Handlungen, es gilt die Strukturen zu gestalten, nicht die Menschen.

Aus diesen Gründen teile ich auch nicht die Auffassung, „auf Kooperation aufbauende Gesellschaften …(seien) darauf angewiesen, dass alle innerhalb der Gesellschaft einen gemeinsamen Zweck verfolgen“. Das ist wieder die realsozialistische Denkfigur. Zunächst ist es so, dass alle Gesellschaften auf Kooperation basieren, auch der Kapitalismus. Die Frage ist also nicht, ob kooperiert wird, sondern allein wie. Dann ist es keineswegs so, dass alle einen gemeinsamen Zweck verfolgen müssten – welcher sollte das sein? Der Witz einer freien Gesellschaft ist doch gerade, dass sie auch frei ist davon ist, einen einheitlichen Zweck – Verwertung des Werts im Kapitalismus oder den Vorgaben einer Planbehörde im Sozialismus – verfolgen zu müssen, um existieren zu können. Sie basiert gerade darauf, dass alle ihre eigenen Zwecke verfolgen und sich die zusammentun, die das Gleiche wollen. Ich werde nicht mehr zu- oder untergeordnet, sondern ich ordne mich entsprechend meiner Bedürfnisse dort zu, wo ich mich entfalten kann. Das ist das stigmergische Prinzip: die Selbstauswahl (dazu kommt noch eine Frage). Es gibt also in einer solchen freien Gesellschaft annähernd so viele Zwecke, wie es Bedürfnisse gibt.

In diesem Sinne gibt es auch kein „kollektives Interesse“ – mal von der Problematik des Interessenbegriffs abgesehen (kommt bei einer weiteren Frage). Trotzdem – und ich vermute das ist auch einen Hintergrund eurer Fragen – stellt sich eine gesellschaftliche Allgemeinheit her, die diese „neue Gesellschaft zusammen“ hält, wie ihr schreibt. Es ist jedoch keine gleichmachende abstrakte Allgemeinheit wie im Kapitalismus durch die Vergesellschaftung über Wert und Geld, sondern eine das Besondere (die je eigenen Bedürfnisse) umfassende konkrete Allgemeinheit. Das Allgemeine ist die Bedürfnisbefriedigung aller, das Konkrete die Weise in der das geschieht – nämlich fast immer auf verschiedenen Wegen.

Was die Gesellschaft zusammenhält, was für ihre Kohärenz sorgt, ist eine Frage der Vermittlung. Die eigentliche Frage lautet: Wie muss eine gesellschaftliche Vermittlung beschaffen sein, dass sich Kohärenz durch Differenz herstellt? Die kapitalistische Antwort, nach der jede Differenz in der Reduzierung auf den Wert verschwinden muss, um die Vermittlung zu leisten, scheidet aus. Die commonistische Antwort ist, dass die Differenz unreduziert und damit auch ohne Umweg (der Markt ist eine Indirektion, ein Umweg von der Produktion zum Gebrauch) die Vermittlung herstellt. Ich gehe bei einer weiteren Frage ausführlicher darauf ein.

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