Commons-Diskurs: Abstimmungsprozesse

commons-jvmus-200Eine siebenteilige Serie mit Fragen an den Artikel Grundrisse einer freien Gesellschaft. Bisher erschienen: Freie Gesellschaft, Individuum und Gesellschaft, Konflikte.

4. Abstimmungsprozesse

Frage: Wie bringt man die Leute dazu, dass die Verabredungen in einem Commons-Netzwerk tatsächlich stattfinden?

Wie können Menschen in einem selbstorganisierten Projektgeflecht sich in nennenswertem Umfang dazu entschließen, ihre Bedürfnisse und die zu deren Erfüllung nötigen Tätigkeiten als ihren gemeinsamen wirklichen Lebensprozess einander in dem gewünschten Maße näher zu bringen? Dazu bedarf es Gesprächszeiten in kleinen und größeren Gruppen, die von Beteiligten getragen und lebendig gestaltet werden müssten. Menschen die sich im Kapitalismus groß geworden sind, wollen erfahrungsgemäß an den Zeiten dieser direkten menschlichen Verständigungsprozesse „sparen“.  Wie können sie das überwinden?

Die in der heutigen Gesellschaft immer stärker sichtbar werdenden Verhaltensmuster wie allseitige Konkurrenz untereinander, die (Selbst-)Kommerzialisierung privater Erlebnisse via Facebook oder der Gastfreundschaft über AirBnB stellen u. E. ein ernsthaftes Hindernis für den Bildung von größeren Gemeinschaften, die aus sich selbst heraus und quasi altruistisch, produzieren wollen.

Antwort

Ich denke, dass eine Vorstellung, nach der „man Leute zu etwas bringen“ muss, nicht angemessen ist. Sie erinnert sehr an den verblichenen Realsozialismus, der das Beste für „die Menschen“ wollte, aber praktisch nicht mit dem warenförmigen Denken und Handeln gebrochen hatte. Darin steckt der Gedanke, dass die Menschen das Tun im Sinne aller selbst gar nicht wollen, weswegen sie erst dazu gebracht werden müssen. Wo aber kommt das her? Wo kommt die Sicht her, nach der Notwendigkeiten und Bedürfnisse individuell nicht nur nicht übereinstimmen können, sondern als Gegensatz auftreten?

Warenproduktion heißt getrennte Privatproduktion. In das Produkt fließt nur ein, was es verkaufbar macht, alles andere wird als zu vermeidende Kosten externalisiert – umso mehr, je weniger Gesetze das einschränken. Doch nicht nur die Produzent*innen sind voneinander getrennt, sondern auch die abhängig Beschäftigten. Im Betrieb wird kooperiert, nach außen konkurriert. Im Betrieb kann das vorhandene Wissen genutzt, nach außen muss es verschwiegen werden. Die Produktion auf gesellschaftlicher Ebene wird damit total undurchschaubar. Das Fairphone-Projekt etwa stieß auf extreme Schwierigkeiten bei dem Versuch die Lieferketten aufzuklären.

Das bedeutet, dass für den Einzelnen der Zusammenhang von Notwendigkeiten und eigenen Bedürfnissen real nicht einsichtig ist und damit auch nicht erlebt werden kann. Bedürfnisse werden durch Konsum befriedigt, also Kaufen von Waren und Dienstleistungen. Der einzige Bezug meiner Bedürfnisse zu den Notwendigkeiten, die mit dem Produkt verbunden sind, ist das Geld – sofern ich es habe. Wie diese Produkte entstehen und welche Folgen das ggf. für andere hat, ist intransparent. In der Lohnarbeit oder der Tätigkeit als Unternehmer*in kann ich nicht anders, als in den Strukturen eben jene Ex-Prost-Produktion zu betreiben, die die Konsequenzen und Zusammenhänge ausblendet. Die kosteneffiziente Zeitsparlogik sorgt dafür, dass nur die Tätigkeiten getan werden, die unbedingt getan werden müssen.

Nun fragt ihr, wie überwunden werden kann, dass die Menschen diese Zeitsparlogik auch in die Projekte tragen. Die Antwort lautet: In dem wir eine Zeitverausgabungslogik etablieren. Die Zeit, die wir miteinander verbringen – beim Produzieren, Diskutieren, Planen, Schweigen, Kooperieren usw. – ist Lebenszeit. Sie ist kein Mittel zu einem anderen, gar fremden Zweck, sondern sie ist einfach gelebte Zeit. Sie gilt es zu gestalten, so befriedigend wie es nur irgend geht. Wenn menschliche Verständigungsprozesse als quälend (und also einzusparend) erlebt werden, dann ist das instrumentelle Mittel-Fremdzweck-Verhältnis immer noch dominant. Die Commonslogik gründet auf eigenen Zwecken, die die Bedürfnisse ausdrücken. Sie basiert nicht auf altruistischen, aufopfernden, sondern auf einer bedürfnisorientierten Haltung gegenüber anderen Menschen und den Handlungsnotwendigkeiten. Diese Bedürfnisorientierung ist keine, die ihre Befriedigung auf Kosten anderer Menschen erreicht, sondern die die anderen und ihre Bedürfnisse als Bedingung für die eigene Entwicklung und Bedürfnisbefriedigung versteht.

Allerdings, und jetzt kommt das große „aber“, leben wir nicht getrennt von der kapitalistisch-instrumentellen Zeitsparlogik, in der permanent die Tätigkeiten zeitlich verdichtet werden. Sie geht durch uns hindurch, schließt uns ein, macht uns fertig, und wir nehmen sie mit in unsere Projekte. Es gibt keine andere Möglichkeit, als mit den auftretenden Widersprüchen möglichst bewusst umzugehen, sie also nicht zu personalisieren („ich bin Schuld“ oder „du bist Schuld“) und auch nicht an das Abstraktum der Strukturen („die Gesellschaft ist Schuld“) zu verweisen. Sondern konkret zu schauen, wie wir in einem Prozess der kollektiven Selbstverständigung gemeinsam mehr Handlungsmöglichkeiten und Lebensqualität gewinnen können (vgl. den Text zur kollektiven Selbstverständigung).

Um der im Einleitungsbeitrag angeprochenen Diskursvermischung zu entgehen, möchte ich eure Fragen entsprechend der beiden Diskurse reformulieren. Zum einen fragt ihr implizit, ob eine freie Gesellschaft überhaupt menschenmöglich ist oder etwa basalen menschlichen Eigentümlichkeiten widerspricht. Zu anderen fragt ihr, wie wir auf dem Weg dorthin mit unseren verinnerlichten und im Kapitalismus funktionalen Formen des Denkens, Handelns und Fühlens so umgehen können, dass wir schrittweise Kapitalismus verlernen.

Die erste Frage lässt sich nicht einfach mit einem kräftigen Argument positiv beantworten. Ich verweise hier auf die Erkenntnisse der Kritischen Psychologie, die die Werdensprozesse der gesellschaftlichen Natur des Menschen historisch-empirisch rekonstruiert hat. Danach sind „menschliche Eigenschaften“ stets Widerspiegelungen der historisch bestimmten Art und Weise, die gesellschaftlichen Lebensbedingungen herzustellen. Anders ausgedrückt: Es gibt keine begründbare überhistorische Vorprägung menschlichen Seins, sondern Menschen schaffen sich selbst in der Weise wie sie ihre Existenz erhalten. Alle Beobachtungen, die meinen, dass es sich bei bestimmten u.U. auch massenhaft auftretenden gleichen oder ähnlichen Verhaltensweisen um genuin menschliche, also überhistorische Seinseigenschaften „des Menschen“ handelten, gehen aus Perspektive der Kritischen Psychologie fehl. Sie ontologisieren historisch-spezifisches (und damit vergehendes) Sein.

Zur Beantwortung der zweiten Frage des Weges aus dem Kapitalismus heraus müssen wir annehmen, dass wir grundsätzlich die menschliche Freiheit der Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse besitzen. Wie aber gewinnen wir diese Freiheit angesichts der Fremdbestimmung unseres Denkens, Handelns und Fühlens unter kapitalistischen Bedingungen, angesichts der Verhaltensmuster, die wir jeden Tag aufs Neue reproduzieren? In dem wir uns schrittweise aus diesen Verhaltensmustern, diesem Denken, Handeln und Fühlen herauswühlen. Das ist nichts, was nur per kluger Einsicht gewonnen werden könnte, nichts, was einfach nur getan werden müsste, und nichts was wir einfach nur durch Erleuchtung willkürlich empfinden könnten – sondern es ist der Prozess aus allen drei Aspekten: reflektierter Einsichten, tätiger Praxis und emotionalen Erfahrungen. Deswegen sind gute Theorien so wichtig, sind geeignete Projekte so wichtig, sind gute und schlechte Erfahrungen so wichtig: Es geht um das Verlernen des Kapitalismus – und das Erlernen des Commonismus als individueller und kollektiver Prozess der Emanzipation. Und wie geht das? In dem wir schrittweise unsere Commons-Praxis entwickeln, sie reflektieren und dabei uns und unsere Gefühle als Quellen von Erkenntnis ernst nehmen – womit wir wieder bei der oben genannten Kollektiven Selbstverständigung wären.

Doch welche Abstimmungsprozesse können denn nun funktionieren? Darauf gehe ich in einer späteren Frage ein 🙂

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