Wie kommt das Neue in die Welt?

Sturm auf die Tuilerien (königliche Residenz) 1792 während der Französischen Revolution (Gemälde von Jean Duplessi-Bertaux, gemeinfrei, URL: http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Jacques_Bertaux_-_Prise_du_palais_des_Tuileries_-_1793.jpg)(Voriger Artikel: Was muss sich ändern, damit alles anders werden kann?)

Eine umfassende Kritik der kapitalistischen Logik sieht sich zwangsläufig mit einer doppelten Frage konfrontiert:

  1. Was wäre die Alternative?
  2. Wie kann sich diese Alternative durchsetzen?

Die Frage nach der Alternative …

Von der an Marx orientierten Kritik wird gerne schon die erste Frage zurückgewiesen mit einem Argument, das die Gruppe [pæris] (2010) wie folgt zusammengefasst hat:

Wir wissen doch von Adorno, dass man sich von der befreiten Gesellschaft kein Bild machen soll: Über die Negation des Negativen hinauszugehen bedeutet, den Kommunismus in Vorstellungen zu kleiden, die durch das bestehende Negative (Kapitalismus usw.) bedingt sind.

Schon Marx selbst hat sich lieber auf die Kritik beschränkt und über die möglichen Alternativen fast nichts gesagt. Und Adorno argumentiert, dass ausgemalte Utopien notwendigerweise „schief“ (Adorno 1966: 343) sind, da sie sich immer an der Gegenwart und den heute verbreiteten Denkmodellen orientieren müssen – die es aber gerade zu überwunden gilt.

Zweifellos ist dies insofern richtig, als dass es hinterher in jedem Fall nochmal anders kommen wird als man sich heute vorstellen kann. Da unsere Gedanken von der existierenden Gesellschaft geprägt sind und sich – bei aller Kritik – nicht vollständig von dieser lösen können, ist ein „fehlerfreies“ Ausmalen einer anderen Gesellschaft und ihrer Logik tatsächlich nicht möglich. Dieser Begrenzung muss man sich beim Nachdenken über Alternativen immer bewusst sein.

Dennoch ist es meiner Ansicht nach ein Irrtum, daraus zu schließen, dass dieses Nachdenken überhaupt keinen Sinn mache. Eine Kritik, die sich der Frage nach der Alternative verweigert, bleibt notwendigerweise steril, weil sie nicht einmal gedanklich einen Ausweg aus dem Bestehenden eröffnen kann. Um aber eine Chance auf Realisierung zu haben, muss die neue Logik zumindest in ihren Grundzügen bereits in der alten Gesellschaft vorstellbar sein. Und es muss Menschen geben, die sie sich tatsächlich vorstellen und eine Entwicklung in diese Richtung anstreben. Denn andernfalls kann sich die Gesellschaft überhaupt nicht in Richtung der neuen Logik entwickeln, außer vielleicht „aus Versehen“. Aber eine gesellschaftliche Entwicklung, die sich ungeplant und nur versehentlich vollzieht, würde wohl kaum zu besonders wünschenswerten Ergebnissen führen.

Es gibt also gute Gründe dafür, die erste Frage – wie könnte eine gesellschaftliche Alternative aussehen und funktionieren? – so gut es geht zu beantworten versuchen. Auch wenn man dabei im Hinterkopf behalten sollte, dass es immer wesentliche Unterschiede zwischen der vorgestellten Möglichkeit und dessen späterer eventueller Realisierung geben wird.

… und ihrer Erreichbarkeit

Was ist nun mit der zweite Frage, der Frage nach dem Weg dorthin? Zumindest theoretisch muss es einen solchen Weg geben, wenn die Alternative eines Tages Realität werden soll. Denn wenn es nicht einmal theoretisch einen Weg von der heutigen in die vorgestellte Gesellschaft gibt, bleibt diese Vorstellung zwangsläufig eine bloße Utopie – hier im wörtlichen Sinne eines unerreichbaren „Nicht-Orts“ verwendet.

Wenn man sich eine andere gesellschaftliche Logik vorstellen kann und sie auch theoretisch für erreichbar hält, heißt das allerdings noch nicht, dass man den Weg dorthin auch ohne Weiteres angeben kann. Auch wenn man dies nicht kann, sind Utopien einer ganz anderem Logik legitim und wichtig, schon um dem heute vorherrschenden TINA-Denken („There is no alternative“) etwas entgegensetzen zu können.

Allerdings ist das insofern unbefriedigend, als sich daraus keine strategische Perspektive ergibt. Was könnte man tun, um zur Verbreitung und Durchsetzung der gewünschten Alternative beizutragen? Diese Frage bleibt dann zwangsläufig offen oder kann nur mit vagen Allgemeinplätzen beantwortet werden.

Die andere Logik nicht nur als Zielvorstellung skizzieren zu können, sondern darüber hinaus auch noch einen möglichen Weg dorthin – oder mehrere mögliche Wege – umreißen zu können, ist also aus zwei Gründen wünschenswert. Zu einem, um Befürchtungen entgegentreten zu können, dass die andere Logik grundsätzlich unerreichbar, ein unmöglicher Nicht-Ort ist. Und zum anderen, um Antworten auf die strategische Frage „Was tun?“ zu haben.

Verändern Revolutionen die gesellschaftliche Logik?

Die Gesellschaft wird von Menschen gemacht, kann also durch menschliches Tun verändert werden. Das passiert auch ständig, jedoch bleiben die meisten gesellschaftlichen Veränderungen im Rahmen der gerade herrschenden gesellschaftlichen Logik. Ein substanzieller gesellschaftlicher Umbruch erfordert aber eine Veränderung der Logik selbst.

Die klassische linke Antwort darauf, wie sich eine solche Veränderung der Logik vollziehen kann, lautet „Revolution“ oder auch gleich „Weltrevolution“. Daneben gibt es den „Reformismus“, der aus radikalerer Perspektive als zu gemäßigt kritisiert wird. Meiner Ansicht nach können aber weder Revolution noch Reform das Herzstück eines gesellschaftlichen Transformationsprozesses von einer Logik hin zu einer anderen darstellen. Beide können Elemente eines länger andauernden und zugleich radikaleren Prozesses sein, sie können diesen Prozess aber nicht ersetzen.

Revolutionen sind nichts besonders Seltenes, doch historisch gesehen haben die meisten Revolutionen die herrschende gesellschaftliche Logik nicht in Frage gestellt, sondern nur ein politisches Regime durch ein anderes ersetzt. So führten die Revolutionen in Ägypten 2011 und in Tunesien 2010/11 jeweils zum Sturz der zuvor herrschenden autoritären Regierungen. In der Ukraine wurde durch die Orange Revolution 2004 sowie den Euromaidan 2013/14 jeweils eine russlandfreundliche durch eine prowestliche Regierung ersetzt. Die kapitalistische Verfasstheit dieser Staaten wurde durch diese Revolutionen aber nicht einmal in Frage gestellt.

Manchmal entsteht aus einer Revolution ein neuer Staat, so bei der Amerikanischen Revolution in den 1770er Jahren. Oder die Regierungsform eines Landes ändert sich, etwa bei der Xinhai-Revolution 1911 in China und der Novemberrevolution 1918/19 in Deutschland, die jeweils ein Kaiserreich durch eine parlamentarische Demokratie ersetzten. Das hat durchaus mit der gesellschaftlichen Logik zu tun. Unabhängige Staaten sind im kapitalistischen Weltsystem in einer besseren Position als Kolonien, und der Sturz der alten Kaiserherrschaften hing wohl auch damit zusammen, dass diese mit den Komplexitäten einer kapitalistischen Gesellschaft nicht mehr angemessen umgehen konnten. Auch solche Revolutionen stellen die bereits herrschende oder zur Vorherrschaft drängende Logik also nicht in Frage, sondern tragen im Gegenteil zur Durchsetzung von Verhältnissen bei, die ihr besser entsprechen.

Noch deutlicher wird dies bei eindeutig „bürgerlichen“ Revolutionen wie der Glorious Revolution 1688/89 in Großbritannien, wo der königliche Absolutismus zugunsten eines parlamentarischen Regierungssystem eingeschätzt wurde. Damit wurden den wohlhabenden Bürgern, also im Wesentlichen den Kapitalisten und den zunehmend zu Kapitalisten werdenden Grundherren, politische Mitspracherechte gegeben (alle anderen waren vom Wahlrecht ausgeschlossen). Zugleich wurde das bisherige Vorrecht des Königs aufgehoben, nach Belieben Steuern zu erheben und Richter ein- oder abzusetzen, da solche Willkürverhältnisse zu Unsicherheiten führen, die die Kapitalverwertung erschweren.

Auch die Französische Revolution von 1789 bis 1799 und die Liberale Revolution in Portugal 1821/22 bedeuteten in diesen Länder das Ende des Absolutismus und sorgten damit für „berechenbare“ Verhältnisse, die den Bedürfnissen kapitalistischer Unternehmungen besser entsprachen.

Diese Revolution hingen also klarerweise mit der Veränderung der gesellschaftlichen Logik vom Feudalismus bzw. Absolutismus hin zum Kapitalismus zusammen, doch damit waren sie lediglich ein wichtiges Element eines längeren gesellschaftlichen Transformationsprozesses, der in diesen Ländern jeweils längst vorher begonnen hatte. In Stefans Fünf-Schritt-Modell (Meretz 2014), dürften sie sich in Schritt 4 (Dominanzwechsel) oder 5 (Umstrukturierung) einordnen lassen. Sie waren nicht der Auslöser einer gesellschaftlichen Transformation, sondern Teil eines längeren Prozesses, der lange vorher begonnen hatte und damit noch längst nicht abgeschlossen war.

Auch rascher wirtschaftlich-technischer Wandel wird manchmal als „Revolution“ bezeichnet, nämlich als „industrielle Revolution“. Die eigentliche (oder erste) „industrielle Revolution“ begann in England im späten 18. Jahrhundert mit Erfindungen wie der Spinning Jenny (1764), der Watt’schen Dampfmaschine (1769), dem mechanischen Webstuhl (1784) sowie neuen Metallverarbeitungstechniken wie dem Walzen (1783). Bis sich diese neuen Techniken im großen Stil durchsetzen, vergingen allerdings noch Jahrzehnte.

Die „industrielle Revolution“ entspricht daher nicht dem üblichen Bild von Revolution als abruptem Einzelereignis, das sich im Lauf weniger Tage, Wochen oder maximal Jahre vollzieht. Sie war ein wirtschaftlich-gesellschaftlicher Umbauprozess, der sich über Jahrzehnte hinzog, keine politisch-kämpferischer Prozess der Umwerfung der herrschenden Verhältnisse innerhalb kurzer Zeit.

Vor allem aber war auch die „industrielle Revolution“ nicht Auslöser des gesellschaftlichen Transformationsprozesses hin zum Kapitalismus (wie manche denken). Dieser Prozess hatte vielmehr schon im 16. Jahrhundert begonnen, wie Ellen Wood (2002) betont (vgl. Siefkes 2014). Die „industrielle Revolution“ war sowohl Konsequenz als auch wesentlicher Bestandteil dieses insgesamt noch sehr viel länger dauernden Transformationsprozesses.

Tatsächlich war die langwierige Durchsetzung der kapitalistischen Logik die bislang letzte wesentliche Veränderung der gesellschaftlichen Logik. Alle seitdem stattgefunden Revolution waren entweder selbst Teil dieses Transformationsprozesses oder haben die nun herrschende Logik der Kapitalverwertung zumindest nicht in Frage gestellt.

Oktoberrevolution als Ausnahme?

Aber war nicht die russische Oktoberrevolution die große Ausnahme? Wurde dort eine Veränderung der gesellschaftlichen Logik nicht zumindest angestrebt und zeitweilig auch erreicht?

Zunächst ist hier auf das Offensichtliche hinzuweisen, nämlich dass diese Veränderung nicht nachhaltig war. Heute herrscht in Russland und den anderen zwischenzeitlich „sozialistischen“ Ländern die kapitalistische Produktionsweise wieder unangefochten (auch wenn sie in China „sozialistische Marktwirtschaft“ heißt). Die eine Ausnahme, in der das sozialistisch-planwirtschaftliche Modell noch eine größere Rolle spielt, ist Kuba. Doch auch dort ist der privatwirtschaftliche Sektor in den letzten Jahrzehnten immer größer geworden und weitere „Normalisierungen“ in Richtung einer kapitalistischen Marktwirtschaft sind zu erwarten.

Als noch schwerer wiegender Einwand ist festzustellen, dass die Oktoberrevolution gerade zeigt, dass eine „freischwebende“ Revolution, die nicht Teil und Folge eines längeren Transformationsprozesses ist, zu einer tiefgreifenden Veränderung der gesellschaftlichen Logik gar nicht in der Lage ist.

Während Marx die Warenproduktion insgesamt kritisierte, störte sich Lenin lediglich an der privaten Aneignung des Mehrwerts. Die von ihm für die sozialistische Gesellschaft propagierte Zielsetzung bestand darin, die Produktion weiterhin analog zu kapitalistischen Organisationsprinzipien und Effizienzkriterien zu organisieren, jedoch mit dem Staat anstelle privater Kapitalisten als alleinigem Eigentümer aller Firmen (vgl. Lueer 2013: 112f). „Die von Marx kritisierten Kategorien abstrakten tauschwertbezogenen Reichtums sollten dabei über einen im sozialistischen Eigentumsverhältnis geänderten Charakter in Form von regulierten Warenpreisen, gerechten Löhnen und angemessenen Gewinnen wie im Kapitalismus die Produktivkräfte entfesseln – nur besser“ (ebd.: 114).

Unter Lenins „Neuer Ökonomische Politik“ wurde auch das nicht konsequent umgesetzt, stattdessen fand ein Großteil der Produktion weiterhin in privaten, auf Kapitalvermehrung ausgerichteten Betrieben statt. Der Staat versuchte lediglich über Steuern einen Teil der Gewinne abzuschöpfen – ganz wie im Kapitalismus (ebd.: 115).

Erst unter Stalin wurden die Produktionsmittel konsequent verstaatlicht. An den Prinzipien des Kaufens und Verkaufens wurde dabei allerdings festgehalten, nur dass die Preise von den staatlichen Planungsbehörden nun „rational berechnet“ werden sollten. Die Betriebe sollten weiterhin Gewinne machen, die allerdings an den Staat abzuführen waren (ebd.: 118).

„Dort, wo es Waren und Warenproduktion gibt, muss es auch das Wertgesetz geben … Ist das gut? Es ist nicht schlecht“, schrieb Stalin (zitiert ebd.: 119). Diese Position war nicht unumstritten, doch diejenigen, die meinten, „die Partei hätte damals gleich die Warenproduktion beseitigen müssen […] irren sich gründlich“ (Stalin, zitiert ebd.: 120). Stalin behauptete, dass „unsere Warenproduktion keine gewöhnliche Warenproduktion dar[stellt], sondern eine Warenproduktion besonderer Art, eine Warenproduktion ohne Kapitalisten“ (zitiert ebd.: 121), die deshalb auch für die sozialistische Gesellschaft jedenfalls in ihrer damaligen Epoche angemessen wäre.

Die Vermutung, der aus einer Revolution hervorgegangen Sowjetunion wäre es gelungen, die kapitalistische Logik durch eine ganz andere zu ersetzen, entpuppt sich somit als falsch. Tatsächlich wurde das nicht einmal ernsthaft versucht, sondern die gewinnorientierte und effizienzmaximierende Warenproduktion sollte weiterhin das die Produktion bestimmte Paradigma bleiben, nun allerdings mit einer Verstaatlichung der Gewinne. Das Ergebnis war eine Zwitterlogik, die nie richtig funktionierte und auch nicht funktionieren konnte.

Man kann die Schuld dafür Lenin zuweisen, der die „sozialistische Warenproduktion“ als Zielvorstellung entwickelt hatte. Doch damit macht man es sich zu einfach. Lenin und die Bolschewiki kannten schlichtweg keine andere gesellschaftliche Praxis, an der sie sich hätten orientieren können. Sie mussten mit dem arbeiten, was sie kannten, und das war eben einerseits die Warenproduktion und andererseits die staatliche Steuerung, wie es sie auch in kapitalistischen Staaten gibt. Beide repräsentierten die alte gesellschaftliche Logik, doch eine neue konnten sie nicht über Nacht aus dem Hut zaubern.

Revolutionen können sehr wohl ihren Beitrag zur Veränderung der gesellschaftlichen Logik leisten, doch nur als Teil eines längeren gesellschaftlichen Transformationsprozesses, in dem sie nicht der erste und schon gar nicht der einzige Schritt sein können. Die link(sradikal)e Hoffnung auf eine Revolution, nach der plötzlich auf einen Schlag alles anders ist, ist also ein Trugbild, ein Ding der Unmöglichkeit.

Literatur

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