Wert und produktive Arbeit

Fischmarkt in Washington, D.C. (Foto von Bien Stephenson, CC-BY, URL: http://en.wikipedia.org/wiki/File:Wash_fish_market.jpg – zum Vergrößern klicken)[Update: siehe Produktive Arbeit auf dem Prüfstand]

Zu meinen Artikeln zur Verwertungskrise (1, 2) habe ich Feedback und Kritik erhalten. Ein besonders umstrittener Punkt, zu dem es Zustimmung, aber auch sowohl grundsätzliche wie Detail-Kritik gab, war die Abgrenzung der „produktiven Arbeit“, die zur Kapitalverwertung beiträgt, von anderer Arbeit, die zwar auch eindeutig für die Verwertung notwendig ist, aber gemäß der Marx’schen Konzeption nicht als produktiv gilt.

Die radikalste Kritik kam dabei von einem Kommentator namens ricardo (z.B. 1, 2), der den Unterschied zwischen produktiver und notwendiger Arbeit komplett bestreitet – er betrachtet alle vom Kapital bezahlte und für die Kapitalverwertung notwendige Arbeit als produktiv. Da ich früher selbst mit dieser Konzeption geliebäugelt habe, hat mich das veranlasst, den Unterschied zwischen „produktiv“ und „notwendig für die Kapitalverwertung“ nochmal kritisch zu prüfen. Im Ergebnis bin ich zu dem Schluss gekommen, dass dieser von Marx gemachte Unterschied zu Recht besteht und will im Folgenden darlegen, warum.

Marx argumentiert, dass es keinen Wert ohne Gebrauchswert gibt (niemand kauft eine Ware, die sie für „unbrauchbar“ hält) und dass deshalb Arbeit, die nicht zur Produktion von Gebrauchswerten beiträgt, auch nicht wertproduktiv sein könne. Das betrifft insbesondere den Handel, in dem bereits existierende Waren lediglich den Besitzer wechseln, ohne dass sich ihr Gebrauchswert dadurch ändert. Oder Dinge wie Buchhaltung und Geldmanagement, die lediglich schon vorhandene Wert- bzw. Gebrauchswertmengen erfassen und verwalten, ohne ihnen selbst etwas hinzuzufügen.

Das Jäger-Fischer-Beispiel

Wolfram Pfreundschuh hat den Kern von Marx’ Argumentation durch ein Zitat aus dessen Grundrissen von 1857/58 verdeutlicht:

Denkt man sich 2 Arbeiter, die austauschen; einen Fischer und einen Jäger; so würde die Zeit, die beide im Austausch verlieren, weder Fische noch Wild schaffen, sondern wäre ein Abzug an der Zeit, worin beide Werte schaffen, der eine fischen, der andere jagen kann, ihre Arbeitszeit vergegenständlichen in einem Gebrauchswert. Wollte der Fischer sich für diesen Verlust an dem Jäger entschädigen; mehr Wild verlangen oder weniger Fische geben, so dieser dasselbe Recht. Der Verlust wäre für sie gemeinsam. Diese Zirkulationskosten, Austauschkosten, könnten nur als Abzug der Gesamtproduktion und Wertschöpfung der beiden erscheinen. […] (MEW 42: 532f)

Wirklich nachvollziehbar wird das an diesem Beispiel, das statt vom Kapitalismus von einer fiktiven Gesellschaft „einfacher Warenproduzentinnen“ ausgeht, meiner Ansicht nach nicht. Denn Kapitalverwertung setzt Kapital voraus, und das existiert in dem Beispiel gar nicht! Dennoch kann es nützlich sein, dieses einfache Beispiel als Ausgangspunkt zu nehmen und von da Schritt für Schritt zu einer realistischeren Darstellung kapitalistischer Verhältnisse zu kommen.

Starten wir also mit einer vorgestellten Gesellschaft nichtkapitalistischer Produzenten, die mittels ihrer eigenen Arbeitskraft Waren herstellen, die sie sich gegenseitig verkaufen. Dabei muss man sich klar machen, dass eine solche Gesellschaft reine Fiktion ist, historisch gab es sie nie (vgl. Rakowitz 2003). Für Gedankenexperimente kann sie dennoch nützlich sein.

Es gibt in unserem Gedankenexperiment also Jäger und Fischer (oder, allgemeiner gesagt, Herstellerinnen verschiedener Warenarten), die sich gegenseitig ihre Beute (die hergestellten Waren) verkaufen. Nun nimmt man mit Marx an, dass diese Gesellschaft so funktioniert, wie der Kapitalismus dies gemäß seinen Selbstverständnis zumindest in seinen besseren Momenten tut, nämlich in perfekter Konkurrenz. Alle sind also in ihrer Berufswahl frei und können selbst den verlangten Preis der von ihnen hergestellten Waren festlegen. Dies würde dazu führen, dass sich im Schnitt Äquivalente austauschen, d.h. der Ertrag einer Stunde Jagdaufwand gegen den Ertrag einer Stunde Angleraufwand ausgetauscht wird.

Dies gilt jedenfalls dann, wenn die Menschen keinen besonderen Grund haben, die eine Tätigkeit der anderen vorzuziehen. Dann wird ein ungleiches Verhältnis – eine Stunde jagen gegen anderthalb Stunden fischen – dazu führen, dass neue Berufseinsteiger aus Bequemlichkeit lieber Jäger werden, auch wenn sie aufgrund der wachsenden Konkurrenz anderer Jäger mit dem Preis heruntergehen und z.B. den Ertrag von 80 statt 90 Minuten Fischerei als Gegenwert für eine ihrer Stunden akzeptieren müssen. Diese Präferenzentscheidungen werden sich solange fortsetzen, bis die Ungleichheit verschwunden ist und sich Stunde gegen Stunde austauscht.

Dieser „gleichmacherische“ Effekt der Konkurrenz ist die Grundlage dessen, was Marx den „Wert“ nennt – bei perfekter Konkurrenz wird der Ertrag einer Arbeitsstunde im Wesentlichen so viel „wert“ sein wie der Ertrag jeder anderen Arbeitsstunde, sofern sie sich auf dem Stand der Technik bewegt. (Wer jedoch statt mit Gewehr noch mit Pfeil und Bogen auf Jagd geht und deshalb weniger Wild erbeutet, wird sich mit einem geringeren Stundensatz zufriedengeben müssen, da den Käuferinnen die Details seiner Ausstattung reichlich egal sind.)

In dieser fiktiven Gesellschaft gibt es allerdings überhaupt keine Kapitalisten, die Geld in mehr Geld verwandeln könnten. Es gibt keinen systematischen Profit, sondern eventuellen Gewinnen des einen stehen zwangsläufig ebenso hohe Verluste der anderen gegenüber – immer dann, wenn es zu Abweichungen vom Äquivalenzprinzip kommt. Schafft es eine Fischerin, den in sechs Stunden gemachten Fang gegen die Jagdbeute von sieben Stunden einzutauschen, hat sie einen Gewinn im Umfang einer Arbeitsstunde gemacht, dem jedoch ein ebenso hoher Verlust aufseiten des Jägers entgegensteht. (Sie hat den Ertrag einer Stunde erhalten, ohne etwas dafür tun zu müssen, er hat eine Stunde umsonst gearbeitet.)

Vorstellbar ist, dass es in der fiktiven Gesellschaft schon Geld gibt und der Ertrag einer Stunde Arbeit im Schnitt für z.B. 10 Euro verkauft wird (oder auch mehr oder weniger, das spielt keine Rolle, aber ein bestimmtes Äquivalenzverhältnis zwischen Währungseinheit und Arbeitsstunden wird sich zwangsläufig herausbilden). Dann hätte die Fischerin 10 € Gewinn gemacht, der Jäger 10 € Verlust. Da jede Markttransaktion ein Nullsummenspiel ist, ist die gesamtgesellschaftliche „Profitrate“ (sofern man von einer solchen reden will) zwangsläufig 0.

Da die Marktkonkurrenz dafür sorgt, dass im Schnitt Äquivalente ausgetauscht werden, spielt es eigentlich keine Rolle, ob die geleistete Arbeit von Marx als „produktiv“ oder „unproduktiv“ eingestuft wird. Vielleicht müssen die Jäger und Fischer jeweils nach sechs Stunden Tagewerk noch eine Stunde auf dem Markt sitzen, bis sie die Beute verkauft haben. Oder sie müssen eine halbe Stunde Verkaufsarbeit leisten und eine weitere halbe Stunde ebenfalls unproduktive Buchhaltung, denn die Bürokratie schläft ja auch in fiktiven Gesellschaften nicht. Auch dann würden weiterhin im Schnitt Äquivalente gegeneinander getauscht, nur braucht es jetzt eben sieben Stunden Arbeitseinsatz, von denen nur sechs Stunden Jagen bzw. Fischen sind – der Rest ist „Overhead“.

Dass eine analytische Unterscheidung zwischen produktiver und unproduktiver Arbeit sinnvoll ist, lässt sich an diesem zu einfach gestrickten Beispiel meiner Ansicht nach nicht zeigen. Das ändert sich allerdings, wenn die Kapitalistinnen ins Spiel kommen.

Die Kapitalisten kommen ins Spiel

Lassen wir also die fiktive Welt der „einfachen Warenproduzentinnen“ hinter uns und nähern uns zumindest ein Stückchen weiter an die komplexe kapitalistische Realität an. Statt dass sich jeder Fischer und jeder Jäger als selbständige „Ich-AG“ betätigt, gibt es nun Kapitalisten, die die Fischer- und Jägerinnen als Lohnarbeiterinnen anstellen. Die Kapitalisten kaufen und bezahlen auch die benötigen Produktionsmittel, z.B. Fischerboote und Netze, Jagdgewehre und Munition. Diese Produktionsmittel kosten Geld und schmälern damit den Profit der Kapitalistinnen, doch der Einfachheit halber können wir für unsere Modellrechnungen davon absehen und unterstellen, sie wären in der Lage, sich die Produktionsmittel umsonst anzueignen.

Anders als bei der „einfachen Warenproduktion“ gibt es in dieser Gesellschaft Profit als systematische und nicht bloß zufällige Kategorie. Dies ergibt sich daraus, dass die Kapitalisten den Lohnarbeiterinnen deren Arbeitskraft abkaufen und nicht deren Erträge. Als Gegenwert für die Arbeitskraft zahlen sie so viel, wie zur Reproduktion der Arbeitskraft nötig ist – also mindestens so viel, um sicherzustellen, dass die Arbeiterin nicht verhungert oder erfriert. Außerdem muss sie zumindest noch ein bis zwei Kinder mitversorgen können, sonst wäre die Arbeiterschaft nach einer Generation ausgestorben – zum Bedauern der Kapitalisten, die damit um ihren Profit gebracht würden. Gegebenenfalls kriegt die Arbeiterin auch noch mehr Gegenwert für ihre Arbeitskraft, womöglich sogar genug, um sich ein kleines Häuschen, ein Auto, eine Rente und gelegentliche Urlaubsreisen leisten zu können. Ob und wie viel sie über die bloße Überlebenssicherung hinaus kriegt, lässt sich nicht pauschal sagen, sondern ist Ergebnis sozialer Kämpfe.

Sicher ist aber, dass die Reproduktion des Arbeitslohns weniger Arbeitszeit erfordert als der Arbeiter als Gegenleistung abliefern muss. Denn nur dann macht die Kapitalistin Profit, und eine Kapitalistin, die keine Profite erwartet, wird erst gar keine Arbeiter einstellen. In Abwandlung des obigen Beispiels können wir etwa annehmen, das sich jede Arbeiterin für ihren Tageslohn den Ertrag von sechs Stunden Jagen oder Fischen kaufen kann. Gearbeitet wird aber, wie im modernen Kapitalismus üblich, acht Stunden pro Tag. Der Ertrag der restlichen zwei Stunden verbleibt als Mehrwert bzw. Profit bei der Kapitalistin, die sich davon selbst Fische, Wild oder was immer sonst der Markt hergibt kaufen kann – je mehr Arbeiter sie beschäftigt, desto mehr.

Hat sie zehn Fischer angestellt, erhält sie täglich das Äquivalent von 20 Arbeitsstunden als Mehrwert. In Geld betrachtet, wenn man wiederum den „Wechselkurs“ von 10 € = 1 Arbeitsstunde ansetzt, muss sie jedem Arbeiter einen Tageslohn von 60 € auszahlen (insgesamt 600 €/Tag), verdient aber 800 € am Verkauf der im Lauf des Tages gefangenen Fische. Ihr Tagesgewinn beträgt somit 800–600 = 200 €, ihre Profitrate 200/600 = 33,3 Prozent. (Letzteres natürlich nur unter der vereinfachenden Annahme, dass die Produktionsmittel sie nichts kosten – in Wirklichkeit ist das anders, was die Profitrate senkt.)

Sie kann diesen Profit von täglich 200 € selbst in Konsumgüter umsetzen und verzehren, sie kann aber auch einen Teil davon „akkumulieren“, d.h. zur Ausweitung der Produktion nutzen, indem sie weitere Arbeiter anstellt und die für deren Arbeitsalltag nötigen Produktionsmittel kauft. In der Regel wird sie letzteres machen und einen Teils des gemachten Gewinnes neu investieren – allein schon, weil ihr das private „Aufessen“ des gesamten Gewinns wahrscheinlich irgendwann schlicht zu viel wird.

Wenden wir uns wieder der unproduktiven Arbeit zu: Irgendwann hat die Kapitalistin keine Lust mehr, sich selbst täglich auf den Markt zu setzen und den Fang zu verkaufen, deshalb stellt sie einen Verkäufer an, der das übernimmt. Außerdem muss sie noch eine Buchhalterin anstellen, weil sie langsam die Übersicht darüber verliert, welchen ihrer Arbeiter sie noch wie viel Lohn schuldet, und weil der Staat sich beschwert, dass sie keine Abrechnungen vorlegen kann. Die beiden produzieren keinen Fisch, beharren aber ebenfalls auf dem üblichen Tageslohn von 60 €, von dem sie sich die zum Überleben nötigen Konsumgüter kaufen (zumindest Fisch und Wild, aber vermutlich gibt es ja noch andere Warenarten).

Die Fischerei erzeugt (da keine produktiven Arbeiterinnen hinzugekommen sind), weiterhin Fische im Wert von 800 € pro Tag, doch die Lohnkosten für die insgesamt 12 Arbeiter sind auf 12×60 = 720 € gestiegen. Die Kapitalistin macht somit nur noch 80 € Gewinn, ihre Profitrate fällt auf 80/720 = 11,1 Prozent. Stofflich ausgedrückt, landete zuvor ein Viertel der produzierten Waren als Mehrwert bei der Kapitalistin (die sie selbst verzehren oder zur Akkumulation einsetzen konnte). Nun sind es nur noch 10 Prozent, da die zusätzlichen Arbeiterinnen ja auch von etwas leben müssen und den Rest verzehren.

Nur falsch gerechnet?

Nun mag man einwenden, dass das Beispiel falsch gerechnet ist. Aus der plausiblen Annahme, dass der Fischereibetrieb nicht weniger effektiv ist als die Konkurrenz, kann man schließen, dass alle anderen Betriebe auf einen ähnlichen Overhead an unproduktiver Arbeit kommen. Kann man diesen Overhead von 20 Prozent zusätzlicher Arbeit also nicht einfach auf den Verkaufspreis der Waren aufschlagen? Dann geht der (stofflich unveränderte) Tagesertrag der Fischerei für 960 € statt für 800 € über den Tresen.

Leider rettet das die Profitrate der Kapitalistin nicht, da es eine rein nominelle Änderung wäre. Ein Euro entspricht jetzt weniger Fisch, es gab also Inflation. Doch die Arbeiter sind ja nicht bedürfnisloser geworden – wenn sie zuvor den Ertrag von sechs Stunden Arbeit einer Fischer- oder Jägerin als Tageslohn verlangt und bekommen haben, werden sie das auch weiterhin tun. Da sich dieser Ertrag aber durch die Preisanpassung um 20 Prozent verteuert hat, muss auch ihr Lohn um 20 Prozent steigen, damit sie ihn sich weiterhin leisten können. Jeder Arbeiter erhält nun also 72 € Lohn, die täglichen Lohnkosten der Fischerei steigen auf 12×72 = 864 €. Als Gewinn bleiben also nur 96 €, die Profitrate liegt unverändert bei 96/864 = 11,1 Prozent. Das Geld ist nun weniger wert, doch stofflich geändert hat sich durch diese andere Rechenart gar nichts.

Die Konsequenzen unproduktiver Arbeit

Unproduktive Kapitalangestellte tragen also nicht zur Kapitalverwertung bei, da sie die von den Kapitalisten erwerbbaren Gebrauchswerte nicht vermehren. Nominell zirkuliert vielleicht mehr Geld, aber die Menge der hergestellten Güter vermehrt sich nicht, weshalb sich die Kapitalisten von ihrem Gewinn nicht mehr kaufen können also zuvor.

Andererseits beziehen die unproduktiven Kapitalangestellten auch Lohn, für den sie sich Konsumgüter kaufen. Diese zusätzlichen Löhne gehen ab von der Summe, die andernfalls als Mehrwert/Profit bei den Kapitalisten bliebe, und reduzieren sie dadurch. Das gilt finanziell (die als Profit verfügbare Geldmenge schrumpft) ebenso wie stofflich (die vom Profit käufliche Warenmenge schrumpft). Auf den Punkt, dass unproduktive Arbeit gegebenenfalls von den Kapitalerträgen abgezogen werden muss und eine Zunahme der unproduktiven beim Gleichbleiben der produktiven Arbeit die Kapitalverwertung ausbremst, hatte Peter Samol schon hingewiesen. Das gilt jedenfalls für die unproduktiven Kapitalangestellten, also die unproduktiven Arbeiter, die direkt bei einem kapitalistischen Unternehmen angestellt sind und von diesem bezahlt werden, ob als Verkäuferinnen, Buchhalter, Wachschützerinnen, Werber o.a. Diese erhöhen die Lohnquote, nicht aber die Produktenmenge, und senken damit den Profit.

Dass dies in keinster Weise die „Schuld“ der unproduktiven Kapitalangestellten ist und dass diese für die Kapitalverwertung ebenso nötig sind wie alle anderen Kapitalangestellten, ist aber klar und wird durch diese Überlegungen nicht in Frage gestellt. Im Gegenteil, wäre die von Verkäuferinnen und Buchhaltern geleistete Arbeit unnötig, würde sie schnell aus dem Verwertungsprozess verschwinden, dafür sorgt die Konkurrenz. Ein Stück weit passiert das ja auch, wenn etwa Verkäufer durch Online-Shops und Buchhalterinnen durch Finanzsoftware ersetzt werden. Doch diese Rationalisierungstendenzen, die das Kapital immer und überall anhalten, seine Kosten durch zunehmende Automatisierung möglichst weit abzusenken, gibt es auch bei allen anderen Tätigkeiten, ganz egal ob sie produktiv oder unproduktiv sind.

Die unproduktiven Kapitalangestellten sind also für den Verwertungsprozess genauso nötig wie alle anderen Angestellten. Gleichzeitig bremsen sie diesen Prozess jedoch aus, indem sie Gebrauchswerte konsumieren, nicht aber produzieren und so die Gebrauchswertmenge, die sich die Kapitalistinnen als Mehrwert aneignen können, reduzieren.

Wie unterschiedlich sich produktive und unproduktive Arbeit im Verwertungsprozess auswirken, merkt man auch, wenn sich ihr Umfang unabhängig voneinander verändert. Nehmen wir an, der Fischereibetrieb war so erfolgreich, dass er die Anzahl der beschäftigten Fischer von zehn auf 20 verdoppelt kann. Der Tagesertrag verdoppelt sich ebenfalls, da diese Fischer nun insgesamt 160 Arbeitsstunden pro Tag beschäftigt sind.

Durch geschicktes Management gelingt es der Firma, weiterhin mit einem Verkäufer und einer Buchhalterin auszukommen. Die nun insgesamt 22 Angestellten konsumieren pro Arbeitstag den Ertrag von 22×6 = 132 Std. produktiver Arbeit. Der restliche Ertrag im Umfang von 28 Arbeitsstunden geht als Mehrwert an die Kapitalistin. Wiederum in Geld umgerechnet, zahlt sie 1320 € Lohnkosten und macht 280 € Gewinn, ihre Profitrate steigt also von 11,1 auf 21,2 Prozent.

Berechnen wir nun den umgekehrten Fall: Die Zahl der produktiven Angestellten bleibt bei zehn, die der unproduktiven wird von zwei auf vier verdoppelt. Das könnte etwa nötig sein, wenn aufgrund steigender bürokratischer Anforderungen ein zusätzlicher Buchhalter gebraucht wird und wenn zudem eine Werbefachfrau ins Team geholt wird, um mit den stark gestiegenen Marketinganstrengungen der Konkurrenz mithalten zu können. Alternativ wäre es denkbar, dass die Anzahl der Diebstähle und Raubüberfälle in der Gegend zugenommen hat und die Fischerei deshalb zwei Wachschützer einstellen muss, um das Lager und den Verkaufsstand zu bewachen.

Der Tagesertrag an Fischen entspricht weiterhin dem, was in 80 Arbeitsstunden eben gefangen werden kann. Doch – oh Schreck! – die nun 14 Angestellten konsumieren pro Arbeitstag den Ertrag von 14×6 = 84 Std. produktiver Arbeit. Nicht nur, dass die Kapitalistin verhungern müsste, wenn sie das länger mitmacht, da für sie schlichtweg keine Fische übrig bleiben – sie müsste außerdem pro Tag noch den Ertrag von 4 Std. Arbeit bzw. 40 € aus ihren (hoffentlich vorhandenen) Reserven zuschießen, um den Betrieb aufrechtzuerhalten. Dass sie das lange mitmachen würde, ist zweifelhaft, aber spätestens, wenn ihre Reserven aufgebraucht wären, wäre definitiv Schluss.

Der Unterschied zwischen produktiver und unproduktiver Arbeit existiert also nicht nur auf dem Papier bzw. in den Theorien von Marx – er ist sehr real.

[Update: siehe Produktive Arbeit auf dem Prüfstand]

Literatur

  • Marx, Karl und Friedrich Engels (1956–1990): Werke. 43 Bände. Berlin: Dietz. Abgekürzt als MEW <Bandnummer>.
  • Rakowitz, Nadja (2003): Einfache Warenproduktion. Ideal und Ideologie. Freiburg: ça ira.

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