Produktive Arbeit auf dem Prüfstand

Fliegenfischer in Slowenien (Foto von Ziga, gemeinfrei, URL: https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Flyfishing.jpg )In dem Artikel Wert und produktive Arbeit hatte ich versucht darzulegen, warum gemäß Marx’ Konzeption nicht alle vom Kapital bezahlte und für den Verwertungsprozess notwendige Arbeit auch als produktiv anzusehen ist. Das hat allerdings nur bedingt geklappt, wie die Diskussion gezeigt hat.

Der Abwechslung halber möchte ich für diesen Artikel daher die Gegenposition einnehmen und erklären, warum es doch sinnvoller sein dürfte, auf diese Unterscheidung zu verzichten. Demzufolge wäre alle für den Verwertungsprozess notwendige Arbeit auch produktiv – eine Position, die schon einige Kommentatoren vertreten haben. Ich freue mich über Feedback darüber, welche Argumentationslinie die überzeugendere ist!

Im vorigen Artikel hatte ich für die Unterscheidung von produktiver und unproduktiver Arbeit auf die Gebrauchswertebene verwiesen. Arbeit, die für die Herstellung eines bestimmten Gebrauchswerts „eigentlich“ nicht nötig ist, sondern nur aufgrund der Eigentümlichkeiten der kapitalistischen Produktionsweise anfällt (z.B. Verkauf oder Lohnbuchhaltung) ist demzufolge nicht produktiv. Das ist allerdings insofern problematisch, als man dann immer eine fiktive „Ideal-“ oder „Alternativgesellschaft“ dem Kapitalismus gegenüber stellen muss. Doch warum sollte es für die Analyse des Kapitalismus alternative Gesellschaften als Gedankenmodelle brauchen? Oder anders gesagt: Warum sollte es die Kapitalistinnen bei ihrer Jagd nach Geldvermehrung jucken, wie eine andere Gesellschaft eventuell verfasst sein könnte?

Ein weiterer Teil meiner Argumentation bezog sich auf die Menge der Gebrauchswerte, die sich die Kapitalisten vom erwirtschafteten Mehrwert kaufen können. Eine Zunahme der gesellschaftsformabhängigen Arbeiten (z.B. Werbung) kann dazu führen, dass die Arbeiterinnen bei stofflich gleichbleibendem Lebensstandard mehr Zeit für die Reproduktion der von ihnen selbst konsumierten Güter aufwenden müssen. Die Mehrarbeit, die in Form von Mehrwert/Profit an die Kapitalisten geht, schrumpft dadurch.

Problematisch an dieser Argumentation ist allerdings, dass auch andere Effekte zu einer sinkenden Ausbeutungs- und Profitrate führen können. Um beim Beispiel „Fischfang“ aus meinem vorigen Artikel zu bleiben: Auch eine Überfischung der Meere könnte dazu führen, dass sieben Stunden nötig sind, um so viel Fisch zu fangen wie zuvor in sechs. Nimmt man dann an (wie ich in dem Artikel), dass die Arbeiter weiterhin stofflich so viel Fisch bekommen wie bisher, würde die Profitrate ebenfalls sinken. Trotzdem leisten die Fischerinnen natürlich weiterhin eindeutig produktive Arbeit.

Was ist der Wert?

Gehen wir einen Schritt zurück: Was ist eigentlich Wert, und was ist das Geld als seine Maßeinheit? Der Wert einer Ware drückt laut Marx die durchschnittliche Arbeitszeit aus, die für die Herstellung gleichartiger Waren gesellschaftlich notwendig ist. Nicht auf den Herstellungsaufwand des einzelnen Artefakts, sondern auf den Durchschnitt kommt es dabei an.

Wert repräsentiert also Arbeitszeit, wenn auch gesellschaftlich vermittelt durch den Mechanismus der Konkurrenz, der dafür sorgt, dass gleichartige Waren im Normalfall auch zu ähnlichen Preisen verkauft werden. Und Geld repräsentiert eine bestimmte Menge Wert, gegen die es eingetauscht werden kann. Geld stellt also ein Anrecht auf die (Arbeits-)Zeit anderer Menschen bzw. auf deren Ergebnisse dar – über je mehr Geld man verfügt, desto mehr Arbeitszeit anderer kann man sich aneignen.

Normalerweise sorgt die Konkurrenz der Warenproduzenten dafür, dass die Austauschverhältnisse ungefähr äquivalent sind – ich kann mir die Ergebnisse der Arbeitszeit anderer aneignen, aber sie eignen sich im Gegenzug die Ergebnisse von ebenso viel meiner Arbeitszeit an. Anders sieht es bei Lohnarbeit aus, wenn eine Firma Menschen nicht ihre Arbeitsergebnisse abkauft, sondern sie vielmehr „anstellt“ und direkt für sich arbeiten lässt. Die Firma muss ihren Angestellten zwar einen Lohn zahlen, der sie befähigt, ihre Arbeitskraft zu reproduzieren, d.h. morgen wieder zur Arbeit zu kommen und auch Kinder in die Welt zu setzen und zu ernähren. Der Wert der Waren, die sich die Arbeiterinnen von ihrem Lohn kaufen können, wird dabei aber regelmäßig unter dem Wert liegen, den sie für die Firma produzieren. Das muss auch so sein, denn ohne diese Differenz würde die Firma keinen Profit machen, aber der Profit bzw. die Hoffnung darauf ist die Triebkraft der kapitalistischen Produktion und der einzige Grund, warum die Firma überhaupt Angestellte einstellt.

(Für eine etwas ausführlichere Darstellung siehe den vorigen Artikel.)

Die Differenz zwischen dem Lohn und dem Wert der von den Angestellten produzierten Waren ist der Mehrwert bzw. Profit. Dieser landet bei den Kapitalgebern, kurz Kapitalisten genannt. Die Angestellten einer Firma arbeiten vielleicht 40 Stunden pro Woche, die Produktion der Waren, die sie sich von ihrem Wochenlohn kaufen können, erfordert jedoch nur 30 Stunden. Der Mehrwert beträgt dann zehn Stunden pro Angestellter und Woche, d.h. zwei Stunden pro Tag.

Dieser Mehrwert landet bei den Kapitalisten, die ihn ihrerseits in Waren umtauschen können, entweder für ihren privaten Konsum oder zur Akkumulation, d.h. zur Ausweitung der Produktion. Ziel aller kapitalistischen Produktion ist die Aneignung von Mehrwert, also von Anspruch auf die Arbeitszeit anderer Menschen.

Kapital ist alles Geld, was zur Akkumulation eingesetzt wird, also vermehrt werden soll. Sobald ich Geld in eine Firma investiere, wird es zu Kapital.

Produktiv vs. unproduktiv neu betrachtet

Auf Basis dieser Begriffsklärung können wir uns nun der von Marx vorgenommenen Unterscheidung zwischen produktiver und unproduktiver Arbeit zuwenden. Produktiv im Marx’schen Sinne ist nur Arbeit, die zur Kapitalvermehrung beiträgt. Was ich zuvor sagte, gilt also nach wie vor:

Arbeit, bei der kein Kapital verwertet wird, scheidet also als produktive aus. Das betrifft alle Arbeit für den Eigenbedarf, die eigene Familie oder Freunde ebenso wie ehrenamtliche Aktivitäten und private Hausangestellte.

Auch die Angestellten von Organisationen, die nicht gewinnorientiert arbeiten, also nicht Geld in mehr Geld verwandeln, sind aus diesem Grund nicht produktiv – Staatsangestellte ebenso wie Mitarbeiter in zwischenstaatlichen Organisationen und im Non-Profit-Sektor.

Was aber ist mit Menschen, die zwar bei Privatunternehmen angestellt sind, aber nicht zum Gebrauchswert der hergestellten Waren beitragen, wie etwa Verkäuferinnen, Wachschützer und Werbefachleute? Deren Arbeit hatte ich – in Anlehnung an Marx – für unproduktiv erklärt aufgrund der Tatsache, dass sie „den gesellschaftlichen Reichtum nicht vermehren“, also keinen Gebrauchswert schaffen.

Gemäß der obigen Analyse kann der Wert zwar dafür genutzt werden, sich Gebrauchswerte anzueignen, aber unmittelbar stellt er etwas anderes dar: Anspruch auf die Arbeitszeit anderer Menschen. Für diese Umverteilung von Arbeitszeit sind im Grunde jedoch nur zwei Faktoren interessant: die Anzahl der Angestellten, die von kapitalistischen Unternehmen beschäftigt werden, und die Mehrwertmenge, die pro Angestellter im Schnitt anfällt. Was genau sie tun – ob sie Gebrauchswerte herstellen, verkaufen, bewachen oder bewerben – ist hingegen gleichgültig, sofern ihre Arbeit nur gesellschaftlich nötig ist, d.h. solange die Konkurrenz nicht unter Einsatz von weniger Arbeit die gleichen Ergebnisse erzielen kann.

Nehmen wir (wie im vorigen Artikel) wieder eine Fischerei als Beispiel: Entspricht der Tageslohn jedes Fischers sechs Stunden Arbeit, während er acht Stunden arbeitet, dann landet der Anspruch auf die Ergebnisse von zwei Stunden Arbeit pro Tag und Angestelltem bei der Eigentümerin der Fischerei. Je mehr Angestellte sie beschäftigt, desto mehr Arbeitszeit anderer kann sie sich aneignen – vorausgesetzt natürlich, dass der gefangene Fisch auch verkauft werden kann und dass die Fischerei (mindestens) ebenso effizient arbeitet wie die Konkurrenz.

Nun braucht aber eine große Fischerei, will sie effizient arbeiten, neben den unmittelbaren Fischfängern auch noch anderes Personal. Sie muss sich um den Verkauf kümmern und dafür entweder selbst Verkäufer beschäftigen (Direktvertrieb) oder aber diese Aufgabe an andere, darauf spezialisierte Unternehmen auslagern (Groß- und Einzelhandel), denen sie dafür einen Teil des Gewinns abtreten muss.

Gemäß der Marx’schen Argumentation ist das Verkaufen nicht produktiv, da die Ware ja schon vorher existiert, sie wechselt lediglich den Besitzer. Andererseits ist unter kapitalistischen Verhältnissen das Verkaufen ein absolut notwendiger Bestandteil der Warenproduktion. Es ist notwendig, um den Kapitalverwertungsprozess G – W – G’ (Geld wird zu verkaufbarer Ware wird zu mehr Geld) abzuschließen. Scheitert der Verkauf, scheitert auch die Kapitalvermehrung. Bedenkt man dies, ist die Argumentation, dass die Ware ja schon vor dem Verkauf existiert, falsch bzw. irrelevant. Denn die noch nicht verkaufte Ware verdankt ihre Existenz bloß dem geplanten Verkauf – dieser mag zwar scheitern, ist aber immer Teil der Kalkulation! Die Arbeit der Verkäuferinnen ist daher unter kapitalistischen Umständen genauso notwendig wie die der direkten Produzentinnen (ob Fischer oder Fabrikarbeiter), somit ist sie auch als genauso wertbildend anzusehen.

Dasselbe gilt für die Arbeit etwa der Lohnbuchhaltung, die bei Marx ebenfalls nicht als wertproduktiv gilt, da sie nur Wertbeträge hin- und herschiebt, aber selbst keine Waren erzeugt. Doch basiert der Verwertungsprozess generell auf dem Verkauf von Waren, wozu auch die besondere Ware Arbeitskraft gehört. Ohne Lohn würden die Arbeiterinnen im Kapitalismus keinen Finger krumm machen, weshalb die Warenproduktion auch ein gewisses Maß an Lohnbuchhaltung erfordert. Die Vorstellung, dass diese unnötig ist, basiert wiederum auf dem Vergleich mit einer anderen (z.B. kommunistischen) Gesellschaft, wo Geld und Lohn vielleicht überflüssig wären. Doch ist nicht einzusehen, warum denkbare andere Gesellschaften für die Analyse des Kapitalismus in irgendeiner Weise relevant sein sollten – diese muss vielmehr voll und ganz von den spezifisch kapitalistischen Umständen ausgehen.

Oder etwa die Werbung, die es Unternehmen ermöglichen kann, größere Stückzahlen abzusetzen und damit vielleicht, aufgrund von Skaleneffekten, den Produktionsaufwand jedes Einzelstücks zu verringern. Wechseln wir das Beispiel und nehmen etwa an, dass in die Produktion eines Bettes je zweieinhalb Stunden Arbeit fließen (entweder direkt als „lebendige Arbeit“ oder indirekt als anteiliger Herstellungsaufwand für Produktionsmittel und Vorprodukte – beides wird hier zusammengezählt). Ein Unternehmen wie Ikea, das viel in Werbung investiert, kann deshalb sehr große Stückzahlen absetzen und sich somit effizientere Großtechnik leisten, mittels derer vielleicht nur noch zwei Stunden Arbeit pro Bett nötig sind. Dazu kommt aber noch die Arbeit der Werber (Kreative, Plakatedrucker und -kleber, Flyerverteiler etc.), die umgerechnet pro Bett vielleicht 15 Minuten beträgt.

Die Konkurrenz muss jetzt mitziehen und ähnlich effizient werden, sofern sie nicht auf der Strecke bleiben will. Die gesellschaftlich nötige Arbeit (= der Wert) ist also pro Bett von 2,5 Stunden auf 2,25 Stunden gefallen. Oder sollte der Wert eines Bettes noch weiter gefallen sein, auf nur 2 Stunden, da die Werbearbeit nicht wertbildend ist? Das ist nicht plausibel, da die Konkurrenz, um denselben Skaleneffekt zu erzielen, ja ebenfalls Werbung machen muss. Auch diese Arbeit ist also gesellschaftlich notwendig, denn ohne sie geht es im Kapitalismus nicht.

Alle Kapitalangestellten produzieren Mehrwert (außer sie sind zu teuer)

Diese Überlegung, dass alle für den Kapitalverwertungsprozess notwendigen Arbeiten auch wertproduktiv sind, also Wert und (unter normalen Umständen) Mehrwert produzieren, kann man auch anhand der Ergebnisse des Arbeitsprozesses durchspielen. Oben hatte ich gesagt, dass Geld (oder abstrakter: Wert) ein Anrecht auf die (Arbeits-)Zeit anderer Menschen bzw. auf deren Ergebnisse darstellt.

Vorgerechnet hatte ich das im letzten Artikel schon anhand der Arbeit eindeutig „produktiver“ Arbeiterinnen wie etwa Fischerinnen. Diese arbeiten etwa 40 Stunden pro Woche (acht pro Arbeitstag), doch von ihrem Wochenlohn können sie sich im Durchschnitt nur Waren kaufen, deren Herstellungsaufwand (= Wert) 30 Stunden (sechs pro Arbeitstag) beträgt. Jeder Fischer produziert pro Woche also zehn Stunden Mehrwert, der bei der Eigentümerin der Fischerei landet. Geht man (wiederum wie im letzten Artikel) davon aus, dass der Ertrag einer Stunde Arbeit im Schnitt für 10 Euro verkauft wird, kann man das Ganze auch in Geld umrechnen: Der in 40 Arbeitsstunden hergestellte Fisch wird für 400 € verkauft, wovon 300 € als Lohn an den Fischer gehen und 100 € als Gewinn bei der Kapitalistin verbleiben. Je mehr Fischer sie für sich arbeiten lässt, desto reicher wird die Kapitalistin also – immer vorausgesetzt, dass sie die produzierte Ware auch verkaufen kann.

Wie ist es nun mit den Verkäufern? Auch diese erhalten ja ihren Lohn. Sagen wir, sie werden so gut bezahlt wie die Fischer, ebenfalls 300 € pro Woche. Geht man nun davon aus, dass alle für die Produktion einer Ware notwendigen Arbeiten wertproduktiv sind, heißt das, dass die Verkäufer ebenfalls 400 € Wert pro Woche produzieren, sprich auch sie erzeugen 100 € Mehrwert für die Kapitalisten.

Von ihren 300 € Wochenlohn können sich die verschiedenen Lohnarbeiterinnen jeweils Waren im Wert von 30 Arbeitsstunden kaufen – wobei diese 30 Arbeitsstunden alle gesellschaftliche notwendigen Tätigkeiten umfassen, neben der direkten Herstellung also auch den Verkauf, Lohnbuchhaltung, Werbung etc. Ist dem so, dann werden die Kapitalisten aufgrund jeder zusätzlich eingestellten Lohnarbeiterin reicher, weil jede Mehrwert produziert. Jede arbeitet pro Woche zehn Stunden länger, als zur Reproduktion ihrer eigenen Lebensweise unter kapitalistischen Umständen nötig wäre. Diese zehn Stunden landen als Geld – als Anspruch auf die Arbeitszeit anderer Menschen – bei den Kapitalisten.

Vorausgesetzt wird dabei lediglich, dass die Lohnarbeiter (auf welche Weise auch immer) ihren Teil zur Produktion von Waren leisten, die sich als verkaufbar erweisen. Und dass das Unternehmen auf dem Stand der Technik produziert und sich keine (oder nur wenige) Ineffizienzen leistet. Verkauft ein Supermarkt mit 40 Verkäuferinnen etwa nur so viele Waren wie andere mit 20, dann ist die halbe Arbeitszeit der Verkäuferinnen gesellschaftlich unnötig gewesen. Sie haben also jeweils nur Wert im Umfang von 20 Stunden pro Woche produziert, weniger als die 30 Arbeitsstunden, deren Wert sie als Lohn erhalten haben (sofern sie so gut bezahlt werden wie alle anderen auch). Ihre Arbeit war für die verantwortlichen Kapitalisten ein Verlustgeschäft.

Generell müssen die Kapitalistinnen also bei der Ausweitung der Produktion auf die Verkaufbarkeit der hergestellten Waren achten und darauf, dass sie niemand für unnötige Arbeit bezahlen. In vielen Fällen wird das heißen, dass zusätzliche Arbeitskräfte aller relevanten Berufe angeheuert werden müssen – mehr Fischerinnen, Buchhalter, Werberinnen etc. In anderen Fällen können Skaleneffekte dazu führen, dass in bestimmten Bereichen Arbeit eingespart und in anderen ausgeweitet wird. Aber wenn die Verhältnisse passen, also die zusätzlich eingestellten Arbeitskräfte auch zur Produktion weiterer verkaufbarer Waren führen, sind diese Arbeitskräfte generell als wertproduktiv anzusehen, ganz egal woraus ihr konkreter Beitrag zum Produktions- und Verwertungsprozess besteht.

Die Marx’sche Unterscheidung, wonach bestimmte für den Verwertungsprozess eindeutig notwendige Tätigkeiten dennoch nicht wertproduktiv sind, hat sich somit als Irrtum erwiesen.

Zur Vermeidung von Missverständnissen

Gemäß dieser Argumentation sind alle zum erfolgreichen Verwertungsprozess nötigen Arbeiten als produktiv anzusehen, ganz gleich ob sie unmittelbar zur Entstehung von Gebrauchswerten beitragen oder nicht. Die Angestellten eines Supermarktes produzieren zwar keine Gebrauchswerte, sondern veräußern diese bloß. Mittelbar tragen sie unter kapitalistischen Verhältnissen aber auch zur Entstehung dieser Gebrauchswerte bei, denn ohne die Möglichkeit der Veräußerung würde die Produktion gar nicht erst anlaufen. Nicht mehr plausibel erscheint mir deshalb auch die in meiner ursprünglichen Artikelreihe geäußerte Argumentation, dass der „Händewechsel“, in dem Ware und im Gegenzug Geld die Eigentümerinnen wechseln, als unproduktiv aufzufassen sei.

Gebrauchswertmäßig stimmt es natürlich, dass beim „Händewechsel“ nur vorhandene Gebrauchswerte getauscht, aber keine neuen erschaffen werden. Doch wertmäßig ist zumindest ein einmaliger Händewechsel notwendiger Bestandteil des Verwertungsprozesses und von diesem nicht zu trennen. Es gibt eine ganze Reihe von Aktivitäten, die für die dauerhafte Durchführung des Produktions- und Verwertungsprozesses nötig sind, aber nicht unmittelbar zur Herstellung der zu verkaufenden Ware beitragen: die regelmäßige Reinigung der Fabrik, der Transport der Ware von der Fabrik zur Verkaufsstätte oder direkt zum Kunden, der Verkauf im Laden oder Online-Shop.

Nach meiner früheren Argumentation hatte ich Reinigung und Transport als produktiv angesehen (weil sie unabhängig von Verwertungsprozess auch für den physischen Produktionsprozess nötig sind), den Verkauf jedoch nicht (weil er nur den „Händewechsel“ vollzieht bzw. nur für den Verwertungsprozess nötig, also Kapitalismus-spezifisch ist). In dieser Unterscheidung schimmert aber wieder der Vergleich mit einer nichtkapitalistischen Alternativgesellschaft durch. Verzichtet man auf einen solchen gedanklichen Vergleich, scheint mir der postulierte Sonderstatus des „Händewechsels“ nicht mehr plausibel, da Verwertungsprozess und physischer Produktionsprozess im Kapitalismus nun mal zusammenfallen und der eine ohne den anderen nicht zu haben ist.

Das bedeutet natürlich nicht, dass man mehr Wert schaffen kann, indem man die Ware fünfmal weiterverkauft, also zusätzliche Händewechsel einführt. Genauso wenig, wie man mehr Wert schaffen kann, indem man die Waren dreimal um die Welt schickt statt sie auf direktem Wege von der Produktionsstätte zum Zielort zu befördern. Für diese Arbeiten gilt vielmehr dasselbe wie für alle anderen: Wertproduktiv sind sie nur, soweit sie gesellschaftlich nötig sind. Alle aufgrund versehentlicher oder auch beabsichtigter Ineffizienzen darüber hinaus geleistete Arbeit schafft nur zusätzliche Kosten, aber keinen zusätzlichen Wert.

Ganz unabdingbar ist aber zumindest ein einmaliger Händewechsel, vom Produzenten zum Kunden, denn dieser ist in der Bewegung G – W – G’ direkt erkennbar. In vielen Fällen gibt es heute stattdessen zwei oder drei Händewechsel, bevor die Waren beim Endkunden, für den sie tatsächlich einen Gebrauchswert darstellt, angekommen ist – weil noch Einzelhandel und ggf. Großhandel dazwischen geschaltet sind. Hier gilt, was im Kapitalismus generell gilt: Produktiv ist die anfallende Arbeit nur im gesellschaftlich notwendigen Umfang, d.h. nur solange die Konkurrenz nicht mit weniger Arbeit dieselben Resultate erzielen kann.

Groß- und Einzelhandel werden sich also nur unter zwei Umständen gegen das Alternativmodell des Direktvertriebs (bloß einmaliger Händewechsel) durchsetzen: Wenn sie entweder die für den Warenverkauf notwendige Arbeit unterm Strich reduzieren oder den Gebrauchswert erhöhen. Und zum Gebrauchswert gehört auch, dass die Ware dort ist, wo die Kundin sie gebrauchen kann, oder jedenfalls in gut erreichbarer Nähe.

Das dürfte der wichtigste Vorteil des Einzelhandels gewesen sein: Für praktisch jede Firma dürfte es sehr viel günstiger sein, alle Supermärkte eines Landes zu beliefern, als ein vergleichbar dichtes Netz an eigenen Verkaufsstellen aufzubauen. Letzteres würde viel unnötige Arbeit erfordern, weil die eigenen Verkaufsstellen sehr viel weniger Kundenverkehr erreichen würden als die Supermärkte (die ja noch viele andere Waren verkaufen) und sich die Verkäuferinnen deshalb relativ oft nur langweilen würden. Während die Alternative, auf ein dichtes Netz an Verkaufsstellen zu verzichten und nur ein Factory-Outlet oder einige wenige Verkaufsstellen in Großstädten zu betreiben, zwar die Kosten senken würde, jedoch auch den Gebrauchswert der angebotenen Waren.

Durch den Internethandel hat sich das allerdings geändert, wodurch der traditionelle Einzel- und Großhandel zunehmend unter Druck gerät, weil er nicht mehr die kostengünstigste (= arbeitssparendste) Variante ist, die Ware auf komfortable Weise an die Kundin zu bringen.

Auch Werbung ist nur insofern produktiv, als sie gesellschaftlich nötig ist. Oben hatte ich argumentiert, dass sie dazu führen kann, dass das werbende Unternehmen mehr Produkte verkauft und aufgrund von Skaleneffekten die pro Einzelstück aufzuwendende Arbeit insgesamt sinkt – und zwar auch dann, wenn man die Werbearbeit mitrechnet. In diesem Fall ist Werbung ein Mittel zur Produktivkraftsteigerung.

Schwieriger wird es für das Unternehmen, wenn es keine Skaleneffekte gibt, die Werbearbeit das Produkt also verteuert (oder, bei gleichbleibendem Preis, den Profit reduziert). Hat die Kundin die Wahl zwischen zwei ihr als gleichwertig erscheinenden Produkten, wird sie im Regelfall wohl das billigere nehmen, nicht das besser beworbene. In diesem Falle wäre die Werbung also nur rausgeschmissenes Geld und hätte keinen Wert gebildet.

Anders sieht es aus, wenn es der Firma gelingt, durch Werbung den „gefühlten Gebrauchswert“ ihres Produkts zu steigern – so konkurrieren im Kapitalismus billige No-Name-Produkte gegen teurere, aber nicht unbedingt hochwertigere Markenartikel. Die Hersteller der letzteren setzen auf Werbung, um ihr Produkt als qualitativ besser, verlässlicher, cooler oder sexyer als Konkurrenzprodukte erscheinen zu lassen. Objektiv messbar mag da nichts dran sein, doch der „gefühlte Gebrauchswert“ wird gesteigert, weshalb die Kundschaft höhere Preise akzeptiert. Werbung ist also unter zwei Bedingungen wertproduktiv: Wenn sie dank Skaleneffekten den Herstellungsaufwand senkt, oder wenn sie den gefühlten Gebrauchswert erhöht.

Auch die bloße Kenntnis eines Namens kann unbewusst zum „gefühlten Gebrauchswert“ beitragen – hat die Kundin die Wahl zwischen zwei gleich teuren und ihr als gleich gut erscheinenden Produkten, wird sie sich vermutlich für dasjenige entscheiden, dessen Markennamen sie kennt. Dies dürfte damit zusammenhängen, dass Bekanntheit unbewusst als Zeichen für Verlässlichkeit interpretiert wird. Ein Produkt, dessen Namen man schon einmal gehört hat, ohne damit Schlechtes zu assoziieren, wird einem als vertrauenerweckender und tendenziell besser erscheinen als eins, das einem völlig unbekannt ist.

Das kann für Unternehmen zu einem Werbezwang führen: Macht Unternehmen A Werbung, muss Konkurrenzunternehmen B entweder den Preis senken oder ebenfalls Werbung machen, um nicht den Anschluss zu verlieren. Machen beide Werbung, können beide vielleicht ihren Marktanteil halten – unterm Strich hat sich also nichts verändert, außer dass nun beide Geld für Werbung ausgeben müssen. Ist diese objektiv unnötige, aber unter kapitalistischen Umständen trotzdem erforderliche Werbearbeit wertbildend oder vielmehr nur „Abzug vom Mehrwert“?

Ich würde sagen, dass auch sie wertbildend ist. Früher oder später werden beide Unternehmen ihre Preise erhöhen, um die eigenen Gewinne wieder der gesellschaftlich üblichen Profitrate anzupassen – andernfalls drohte der Abgang der Kapitalgeber (z.B. Aktionäre), die ihr Geld dann lieber in profitablere Firmen stecken würden. Dies deutet darauf hin, dass der Wert der Produkte gestiegen ist, was (aufgrund von Konkurrenzmechanismen allerdings erst mit Verzögerung) auch zu steigenden Preisen führt. Zugleich ist durch die Werbung aber auch der „gefühlte Gebrauchswert“ der Produkte gestiegen, weil sie den Kunden nun bekannt sind.

Ein drittes Unternehmen könnte hingegen auf eine andere Strategie setzen – es könnte auf Werbung verzichten und No-Name-Produkte zum ursprünglichen Preis, also nun billiger als die Konkurrenz, auf den Markt werfen. Aufgrund des Preisvorteils kann auch diese Strategie erfolgreich sein. Dank des Werbeverzichts haben seine Produkte einen geringeren Wert, aber auch einen geringeren „gefühlten Gebrauchswert“ als die der „bekannten“ Konkurrenz.

Fazit

Sollte diese Analyse stimmen, dann dürfte sich auch die Krisis/Exit-Argumentation einer „schrumpfenden Wertmasse“, der ich im Artikel Geht dem Kapitalismus die Arbeit aus? zumindest relativ zur Entwicklung der Weltbevölkerung zugestimmt hatte, als unhaltbar erweisen. Denn für sie ist die vermeintliche Unproduktivität bestimmter kapitalistisch organisierter Sektoren wie Handel, Werbung und Finanzdienstleistungen essenziell. Geht man aber davon aus, dass alle Kapitalangestellten, egal aus welcher Branche, im Regelfall auch Mehrwert erwirtschaften (nur vorausgesetzt, dass die sie beschäftigende Firma effizient und erfolgreich produziert), kann von einem „Ende der Arbeit“ bzw. auch nur einem Schrumpfen der wertproduktiven Arbeitsmenge wohl keine Rede sein.

Meinungen?

(Ich danke Martin Siefkes und Holger Weiß für ihr Feedback zu einem Entwurf dieses Artikels.)

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