Pro und Contra Stigmergie

Die Debatten um die Konturen einer neuen Gesellschaftlichkeit jenseits von Ware und Geld intensivieren sich; wir erkennen klar, dass wir uns trotz aller vereinzelten Commons-Praktiken und trotz aller Werkzeuge, die uns das komplexe Resultat unserer gesellschaftlichen Beziehungen zu antizipieren helfen, noch immer aut theoretischem Neuland befinden und versuchen müssen, die Muster eines „Vereins freier Individuen“ in ihrem Zusammenwirken zu verstehen.

Ich beziehe mich im folgenden insbesondere auf diesen Beitrag von Stefan Meretz.

Ein wegweisender Beitrag, gibt aber doch zu einigen Fragen Anlass. Die neue Form der gesellschaftlichen Vermittlung ohne Ware, Preis und Geld soll sich ganz prominent über die je einzelne stigmergische Selbstbeauftragung der Individuen (oder Kollektive) vollziehen. Simplifiziert ausgedrückt: Was alle (oder die große Zahl) tun wollen, ist gesellschaftliches Bedürfnis. Es bedarf also keines expliziten zentralen gesellschaftlichen Reflexionsprozesses (oder dessen algorithmischen Äquivalent) um zu einer validen Information über die Bedürfnisse zu kommen.

„Stigmergie ist ein Konzept zur Beschreibung einer besonderen Form der Koordination von Kommunikation in einem dezentral organisierten System, das eine große Anzahl von Individuen umfasst. Dabei kommunizieren die Individuen des Systems nicht unmittelbar, sondern nur indirekt miteinander, indem sie ihre lokale Umgebung modifizieren. Das gemeinsam Erstellte wird gleichsam zum Auslöser (vergl. Emergenz) von Anschlussaktivitäten und zur allgemeinen Anleitung dafür, wie mit dessen Erstellung fortzufahren ist.“ (Wikipedia)

Auffällig ist dass sich dieses Konzept aus Naturbeobachtung ableitet, also bei großen Schwärmen oder Populationen von Tieren.

„Unterschieden wird die sematektonische von der markerbasierten Stigmergie. Bei der sematektonischen Stigmergie beeinflusst der augenblickliche Zustand der Aufgabenerfüllung (zum Beispiel der Stand und die Merkmale des Nestbaus) das Verhalten der miteinander kommunizierenden Individuen; bei der markerbasierten Stigmergie sind es hingegen aufgabenunabhängige Marker (zum Beispiel Geruchs- und andere Botenstoffe), die in der Umwelt platziert wurden.“ (ebenda)

Das Moment der bewussten Gestaltung und Koordination durch gemeinschaftlich organisierte (und auch jederzeit zur Nichtkooperation fähige) Menschen fällt in dieser Begrifflichkeit unter den Tisch – und dennoch sollen die Resultate dieser autopoetischen Relation die Leistungen des Geldes punkto Information und Koordination bei weitem übertreffen:

„Während jedoch die signalisierte Information beim Geld eindimensional und nur quantitativ ist (“Es rechnet sich – nicht”), ist sie bei der Stigmergie multidimensional und qualitativ. Ihre Vermittlungspotenz ist also wesentlich umfassender, einzelne Vermittlungen können wesentlich spezifischer gestaltet werden.“ (https://keimform.de/2014/grundrisse-einer-freien-gesellschaft/)

Zugleich wird aber postuliert, dass es Commons der Koordination braucht, um dafür zu sorgen dass relevante Information und auch ihre handlungsmäßigen Kompetenzen lokal verfügbar sind. Dies steht in einem gewissen Widerspruch zur Ausgangsthese dass das Wissen lokal sei.

Wollen wir nicht einen zugleich vollkommen freien und dennoch oder gerade darin auf eine Notwendigkeit des Gemeinwohls orientierten „neuen“ Menschen postulieren, dann müssen wir uns Rechenschaft darüber ablegen, dass wir schon aus der Erfahrung der freien Softwareentwicklung auch gewaltige Defizite kennen, die vielleicht im Bereich der Informationsproduktion nicht so auffällig ins Gewicht fallen, die wir uns aber grosso modo nicht leisten können.

  • Redundanz: Damit ist gemeint dass Aufgaben x-fach angegangen werden, wobei es dann zu einer explosionsartigen Vermehrung von Komplexität, Kompatibilitätsproblemen etc. kommen kann.
  • Irrelevanz: Damit ist gemeint dass einerseits dringende gesellschaftliche Bedürfnisse nicht sichtbar oder zu schwer in den Griff zu bekommen sind, während das leicht zu tuende und raschen Erfolg Garantierende die Mitarbeiter magisch anzieht.
  • Inkohärenz: Damit ist gemeint, dass verschiedene Teilprozesse durchaus zu gegenläufigen Resultaten oder unerwünschten Effekten im Gesamtsystem führen können. Bekannt ist das Beispiel der Automobilität, die in ihrem Gesamteffekt immer schwerer beherrschbar wird und zum Verkehrsinfarkt führt.

Vielleicht wäre es wirklich notwendig, sich die Vermittlungsketten und Zwischenglieder eines komplexen Produktionsprozesses einmal genau anzusehen, und das Element des Bewusstseins von unmittelbaren Handlungsnotwendigkeiten und deren Stellenwert im System der gesellschaftlichen Arbeit an konkreten Beispielen zu erfassen. Wir müssen davon ausgehen, dass das kapitalistisch geprägte Technologiesystem (plus die Herrschaftssysteme davor) uns eine riesige Hinterlassenschaft an struktureller Irrationalität beschert hat, die noch der Aufarbeitung harren. Daran ohne eine Technologie- und Wissenschaftskritik anknüpfen zu wollen und die Hoffnung in die Unmittelbarkeit der Wahrnehmung des Einzelnen vor Ort zu setzen, ist eine zu schwache Basis  für eine Alternative.

Einige Hinweise, die vielleicht ohnehin mitgemeint sind:

1. Man kann ein derart komplexes System wie die kapitalistische Produktion/Reproduktion nicht von einem Tag zum anderen durch ein anderes System ersetzen. Wesentlich erscheinen partielle Auskopplungen, „Inseln der Gebrauchswertorientierung“, kommunale und lokale (autonome) Strukturen  in denen andere Kreisläufe geprobt, entwickelt und gelebt und weitergegeben werden können. Wesentlich erscheinen gerade dort Werkzeuge, die uns in die Lage versetzen, Handlungsalternativen oder Präferenzen ex ante in ihren Auswirkungen testen zu können, simulativ und erfahrbar machen wie sich das Verhalten des Einzelnen (des Kollektives) und die gesellschaftliche Auswirkung jeweils darstellen.

2. Dabei ist spannend, dass im kapitalistischen System selbst solche Mechanismen der eigenverantwortlichen Entscheidung, Selbststeuerung und dezentralen Zielfindung immer stärker eingefordert und zugleich dem irrationalen Imperativ der Konkurrenz und Verwertung unterworfen werden. Das könnte auch, wie zum Beispiel Dieter  Sauer meint, ein systemsprengendes Potential enthalten. (Siehe Artikel in den „Grundrissen“)

3. In einem rationalen System der Zweck-Mittelverfolgung unter arbeitsteiligen Bedingungen wäre an den jeweils einzelnen Kettengliedern zu zeigen, dass ohne eine intensive Kommunikation zwischen „aktivem“ (der der liefert) und „passiven“ Teil (der, der beliefert wird) ständig genau jener systemische Überschuss der Verantwortungslosigkeit entsteht, der im Artikel explizit angesprochen ist. Diese Verantwortwortungslosigkeit lässt sich an keiner bestimmten Stelle des Produktion/Reproduktionsprozesses aufbrechen, sondern nur durch eine „Kaskade der Reflexion“ über den Gesamtprozess. Es ist damit nicht gemeint, dass die Güter nicht in der bestellten Qualität geliefert werden (das passiert sehr wohl), sondern welche systemischen Reibungsverluste und „Nebenwirkungen“ durch diese mangelnde aktiv-passiv Abstimmung entstehen. Im Nachvollzug einer rationellen Kommunikation lässt sich viel über die möglichen Formen einer freien Gesellschaft lernen.

Wenn auch die Rede von einer „Übergangsgesellschaft“ in der Vergangenheit schematisch und spekulativ, an einem unausgewiesenen Phasenmodell und fiktiver historischer Notwendigkeit orientiert war, so ergibt sich umso mehr die Aufgabe, Übergangsstrukturen historisch konkret zu denken, zu entwickeln und umzusetzen. Dabei kommen sowohl Prozessen im Zentrum des Systems als auch solchen der ganz bewussten Abkopplung und Neukonstruktion gleichermaßen Bedeutung zu. „Muster der Demonetarisierung“ werden mit großer Wahrscheinlichkeit an beiden Orten aufzufinden und aufeinander zu beziehen sein. Die Kenntnis dieser Muster wird uns ebenso wie die der beschriebenen Anti-Muster bei der Beurteilung lokaler Problemlösungen hilfreich sein.

 

(Der Beitrag entstand in Diskussion mit Heiner Harbach bei Vorbereitungsgesprächen für eine Konferenz „Muster der Demonetarisierung“ in Wien)

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