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Geht dem Kapitalismus die Arbeit aus? (Teil 1)

Verfallene Autofabrik in Detroit, wo die Verwertung ins Stocken geraten ist (Foto von Albert duce, CC-BY-SA, URL: http://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Abandoned_Packard_Automobile_Factory_Detroit_200.jpg) [1]Eine erste empirische Annäherung

In den an Karl Marx orientierten Theorien gibt es einige, die als wertkritisch bezeichnet werden können, weil sie das Kernproblem des Kapitalismus nicht lediglich in der Aufteilung des Mehrwerts sehen, sondern in der Tatsache, dass der Wert vermittelndes Moment des Produktionsprozesses ist. Daraus ergibt sich, dass eine Wert- und Warenproduktion „unter sozialistischen Vorzeichen“ (wie sie etwa in der DDR angestrebt wurde) als unmöglich erkannt wird. Ein konsequenter Bruch mit dem Kapitalismus würde vielmehr auch die Aufhebung der Wertform – und des Geldes als seiner allgemeinsten Form – erfordern.

Jenseits dieser Gemeinsamkeit gibt es unterschiedliche Einschätzungen dazu, was die „Zukunftsfähigkeit“ des Kapitalismus angeht. Lohoff und Trenkle (2012) sehen ihn in einem unauflösbaren Widerspruch gefangen, indem die Dynamik der Produktivkraftentwicklung ihm mehr und mehr seine essenzielle Grundlage entzieht, nämlich die Verwertung menschlicher Arbeit. Heinrich (2007) dagegen sieht trotz zyklischer Krisenhaftigkeit „Tendenzen zur Ausdehnung […] des Kapitalismus, die noch längst nicht an ihr Ende gekommen sind.“

Einig dürften sich beide Seiten darin sein, dass das Ziel aller kapitalistischen Produktion die Geldvermehrung ist: Geld wird eingesetzt (investiert, verwertet), um am Ende mehr Geld zurückzuerhalten (vgl. Lohoff und Trenkle 2012: 22f). Da am temporären Ende jeder erfolgreichen Geldvermehrung mehr Geld steht, das wiederum verwertet werden will, ist dem Kapitalismus die Tendenz zum endlosen Wachstum inhärent. Zwar könnten die Kapitalistinnen (ich verwende in diesem Text weibliche und männliche Formen zufällig im Wechsel) ihren kompletten Neugewinn theoretisch auch konsumieren (für Yachten u.a. Luxusgüter ausgeben), doch dürfte ihnen in der Regel ein Teil des Gewinns dafür ausreichen (ebd.: 24f).

Geld ist im Kapitalismus die allgemeinste und wichtigste Form von Wert – von abstraktem Reichtum, der durch menschliche Arbeit entsteht. Wert ist das Ergebnis von Arbeit („tote Arbeit“), aber nur soweit und sofern diese Arbeit gesellschaftlich nötig ist. Wenn jemand weniger effizient arbeitet als andere (weil er langsamer ist oder über schlechtere Werkzeuge verfügt), produziert er damit nicht mehr Wert als diese, sondern (sofern er das gleiche Produkt herstellt) nur genauso viel (ebd.: 27ff).

Wenn immer mehr Geld verwertet werden muss, bedeutet dies im Regelfall also, dass immer mehr menschliche Arbeit produktiv und effizient eingesetzt werden muss, denn nur dann entsteht neuer Wert und die Geldvermehrung ist erfolgreich (ebd.: 28f). Gleichzeitig hat aber jedes Unternehmen (= jede Kapitalistin) ein Interesse daran, die zur Produktion seiner Waren benötigte Arbeitszeit zu senken. Denn um sich gegen die Konkurrenz durchsetzen, ist es gezwungen, mindestens ebenso effizient zu produzieren wie diese, besser aber effizienter. Schafft es das Unternehmen, mit weniger Arbeit die gleiche Warenmenge zu produzieren, oder (um denselben Sachverhalt auf andere Weise auszudrücken) mit gleichem Arbeitseinsatz mehr oder bessere Waren, kann es mehr Profit machen oder durch Preissenkungen den eigenen Marktanteil vergrößern. Zumindest zum Teil wird dies auf Kosten der Konkurrenz gehen. (Nur zum Teil, da der Markt auch vergrößert werden kann, wenn günstiger gewordene Waren von Menschen gekauft werden, die sie sich zuvor nicht leisten konnten.)

Um nicht auf der Strecke zu bleiben, sind die Konkurrenten gezwungen, nachzuziehen und die Effizienzsteigerungen zu übernehmen oder selbst noch bessere zu finden. Auch diese Dynamik ist tendenziell endlos. Zumindest solange die „vollautomatische Fabrik“ nicht komplett erreicht ist, also irgendwo im Produktionsprozess noch Menschenarbeit steckt, muss jedes Unternehmen auf immer neue Möglichkeiten lauern, diese zu reduzieren – da die Konkurrenz nicht schläft, sondern dasselbe tun muss (ebd.: 30f).

Diese Dynamik erschwert aber die Kapitalverwertung: Unter Einsatz einer bestimmten Menge Kapital (das so verwertet wurde) wurden zuvor jährlich z.B. 100.000 Fernseher hergestellt. Dank Effizienzsteigerung sind es hinterher vielleicht 120.000 Fernseher. Die zusätzlichen Fernseher müssen aber auch verkauft werden, damit die Kapitalmenge weiterhin verwertet werden kann. Was, wenn zwar 10.000 neue Fernseher Abnehmer finden (erleichtert durch den gesunkenen Preis), aber niemand die anderen 10.000 haben will? In diesem Fall kommt das Kapital in eine Verwertungskrise, die Fernseher müssen verschrottet oder weit „unter Wert“ zum Schnäppchenpreis verscherbeln werden. Die Investitionen müssen zum Teil abgeschrieben werden, die Kapitalistinnen erleiden Verluste – das Kapital hat sich verringert, statt sich zu vermehren (ebd.: 31f).

Dieser Verwertungskrise kann der einzelne Kapitalist entgehen, indem er rechtzeitig die Branche wechselt. Das TV-Unternehmen kann vielleicht rasch genug auf die drohende Absatzkrise reagieren, indem es einen Teil seiner Mitarbeiter entlässt und einen Teil seiner Produktionsanlagen verkauft oder auslaufen lässt (indem es veraltetes Equipment nicht mehr ersetzt). So wird ein Teil des zuvor gebundenen Kapitals freigesetzt, statt in der drohenden Verwertungskrise vernichtet zu werden.

Um das freigesetzte Kapital weiterhin verwerten zu können, müssen die Kapitalistinnen andere Waren herstellen – sie müssen die Branche wechseln. Statt in die Produktion von Fernsehern investieren sie es vielleicht in die von Spielkonsolen, Sportschuhen oder was sonst gerade „in“ ist. Gesamtgesellschaftlich kann dies gut gehen, solange es zumindest einige Wachstumsmärkte gibt, in die zusätzliches Kapital fließen kann, ohne nur bereits gebundenes Kapital zu verdrängen.

Aber gibt es solche Wachstumsmärkte immer in ausreichendem Umfang, um (a) das durch Effizienzsteigerungen freigesetzte Kapital und (b) das durch erfolgreiche Verwertungsprozesse neu entstandene Kapital aufzunehmen? Lohoff und Trenkle bezweifeln dies. Ihrer Ansicht nach war die fordistische „Wirtschaftswunderzeit“ nach dem Zweiten Weltkrieg die letzte Epoche, wo dies geklappt hat, seitdem wird durch Rationalisierung mehr Kapital freigesetzt als durch Erschließung neuer Märkte gebunden werden kann (32f). Heinrich (2007) sieht dagegen keine Probleme – er verweist auf den wachsenden Konsum in Entwicklungs- und Schwellenländern sowie neue Anlagesphären als Auswege.

Auf einer rein theoretischen Ebene lässt sich meiner Ansicht nach nicht entscheiden, wer recht hat. Dass das Kapital sich unfreiwillig immer wieder die eigene Verwertungsgrundlage ein Stück weit entzieht, ist zweifellos richtig; dass neue und wachsende Märkte dies grundsätzlich ausgleichen können, auch. Dagegen gibt es keinen Mechanismus, der dafür sorgen würde, dass das verfügbare Kapital jederzeit immer Verwertungsmöglichkeiten findet. Dies lässt sich für bestimmte Zeiten und Orte nur empirisch klären. Dieser Text ist ein erster Versuch, eine solche Klärung vorzunehmen.

Die Fragestellung: Die Entwicklung der produktiven Arbeit weltweit

Zur Grundlegung dieser Untersuchung ist es unumgänglich, auf Marx’ Begriff der produktiven Arbeit im Kapitalismus einzugehen. Wert entsteht für Marx aus Arbeit, soweit sie (a) zum Zwecke der Verwertung geleistet wird (es wird eine Ware produziert) und (b) gesellschaftlich nötig ist. Jede Ware muss Gebrauchswert haben (von jemand als brauchbar erachtet werden), sonst wird sie keine Käuferin finden. Wert entsteht nur dann, wenn die Ware erfolgreich verkauft wird und nur soweit ihr Herstellungsprozess dem Stand der Technik entspricht (unnötige Mehrarbeit etwa aufgrund veralteter Maschinen schafft keinen zusätzlichen Wert).

Marx fragt sich, was produktiv für den Kapitalverwertungsprozess ist – wertproduktiv oder kapitalproduktiv wäre daher ein genauerer Begriff. Arbeit, bei der kein Kapital verwertet wird, scheidet also als produktive aus. Das betrifft alle Arbeit für den Eigenbedarf, die eigene Familie oder Freunde ebenso wie ehrenamtliche Aktivitäten und private Hausangestellte. Wenn eine wohlhabende Familie einen Koch oder eine Hauslehrerin beschäftigt, gibt sie Geld aus, verwertet aber kein Kapital. Die Angestellte verdient sich damit ihren Lebensunterhalt, verwertet aber ebenfalls kein Kapital. Diese Arbeit ist also nicht produktiv. Anders ist es, wenn der Koch statt bei einem Privathaushalt bei einem Unternehmen angestellt ist, das ihn gegen Bezahlung an Haushalte vermittelt – in diesem Fall wird das Kapital des vermittelnden Unternehmens vermehrt, die Arbeit ist also produktiv. Nicht der Inhalt der Arbeit, sondern die Form, in der sie geleistet wird, ist für die Frage der Produktivität ausschlaggebend.

Staaten arbeiten in der Regel nicht renditeorientiert. Sie können zwar als „ideelle Gesamtkapitalisten“ betrachtet werden, die für optimale Verwertungsbedingungen auf ihrem Staatsgebiet sorgen wollen, aber selbst Profite zu machen und sich dabei gegen andere Kapitalisten durchzusetzen, ist in aller Regel nicht ihr Ziel. Staatsangestellte sind daher nicht produktiv. Dasselbe gilt für Beschäftige in zwischenstaatlichen Organisationen und im Non-Profit-Sektor.

Aber auch Arbeit, die für kapitalistische Unternehmen geleistet wird und zum erfolgreichen Verkauf von Waren beiträgt, ist nicht in allen Fällen produktiv. Hier wird es etwas haarig, zumal Marx dazu selbst nur verstreute Hinweise hinterlassen hat. Meine Rekonstruktion ist: Arbeit ist auch dann nicht produktiv, wenn sie nur dazu dient, den Verwertungsprozess des Kapitals aufrecht zu erhalten, den „Händewechsel“ zwischen Geld- und Warenbesitzern zu vermitteln oder unfreiwillige „Händewechsel“ zu verhindern.

Der Erleichterung des „Händewechsels“ dient der gesamte Handel: Waren müssen verkauft werden, sonst scheitert der Verwertungsprozess. Doch an dem Gebrauchswert der gekauften Zahnbürste ändert sich durch die Tatsache, dass ich einer Verkäuferin Geld geben muss, um sie nutzen zu dürfen, kein Stück, deshalb leistet die Verkäuferin auch keine produktive Arbeit. Dasselbe gilt für Werbung: sie sorgt dafür, dass Waren verkauft werden können, ohne aber an deren Gebrauchswert – ihrer sinnlich-stofflichen Nützlichkeit – etwas zu ändern.

Der „Händewechsel“ im Kapitalismus ist dann gewollt, wenn er in Form eines (Äquivalenten-)Tausches stattfindet, auf den sich beide Beteiligten einigen können. Ungewollt ist er dagegen, wenn sich jemand Dinge aneignet, ohne sich mit deren bisherigen Besitzer auf eine Gegenleistung geeinigt zu haben. Wachschützer und Sicherheitsdienste existieren, um solche ungewollten Händewechsel (Diebstahl, Raub) zu verhindern. Sie sorgen dafür, dass Gebrauchswerte bei ihren „legitimen“ (im Sinne der kapitalistischen Rechtsordnung) Eigentümerinnen verbleiben, ohne aber den Gebrauchswerten selbst etwas hinzuzusetzen. Sie leisten keine produktive Arbeit.

Verkäufer und Wachschützerinnen dienen zwar der individuellen Kapitalverwertung, indem sie die Eigner des Supermarktes und des Sicherheitsdienstes reicher machen. Doch diese Kapitalvermehrung geht auf Kosten anderer Kapitalistinnen, die dafür einen Teil des Mehrwerts, den sie andernfalls hätten verdienen können, abtreten müssen. Zur gesamtgesellschaftlichen Kapitalvermehrung tragen sie daher nicht bei.

Auch in der Finanzsphäre wird keine produktive Arbeit erbracht. Wer ein „gutes Händchen“ hat und es schafft, die richtigen Aktien zu kaufen und im richtigen Moment wieder zu verkaufen, hat zwar das eigene Vermögen vermehrt, aber den auf der Welt existierenden Reichtümern nichts hinzugefügt und daher nicht produktiv gearbeitet. Dasselbe gilt, wenn man derartiges als Dienstleistung für andere macht, ihnen Vermögenstipps gibt oder bei der Steuerberatung hilft.

Generell handelt es sich bei nichtproduktiven, aber im Kapitalismus nötigen Arbeiten um Nebenkosten der kapitalistischen Produktion. Sie müssen aus dem von produktiven Arbeitern erwirtschafteten Mehrwert bezahlt werden, mehren aber den gesellschaftlichen Reichtum nicht. Dem Kapital eröffnen sie daher nur dann neue Anlagemöglichkeiten, wenn zugleich die Menge produktiver Arbeit steigt: Eine kapitalistische Gesellschaft kann nicht dadurch reicher werden, dass sie mehr und mehr Werbung macht oder neue Supermärkte baut, ohne aber dadurch bzw. darin zusätzliche Produkte zu verkaufen.

Der zwischen Lohoff und Trenkle einerseits und Heinrich andererseits strittige Punkt lässt sich also auf die Frage herunterbrechen, ob die Masse produktiver Arbeit in der modernen kapitalistischen Gesellschaft tendenziell wächst oder fällt. Sinnvoll kann dies nur im weltweitem Rahmen untersucht werden, da das Kapital heutzutage global und mobil ist. Wenn die produktive Arbeit in einem einzelnen Staat fällt, bedeutet das nicht zwangsläufig, dass das Kapital in diesem Staat in der Krise ist – das aus dem Staat kommende Kapital kann ebenso gut in andere Länder ausgewichen sein, weil es dort bessere Verwertungsbedingungen vorfindet.

Datenbasis

Zur Untersuchung der Fragestellung wurden Arbeitsmarktstatistiken der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) herangezogen (ILO 2013). Mein Plan war eigentlich, die Entwicklung der produktiven Arbeit seit ungefähr 1970 zu untersuchen, d.h. seit dem Ende der fordistisch-keynesianistischen Periode (1971 wurde die Goldbindung des US-Dollars aufgehoben). Die von der ILO veröffentlichten Statistiken gehen allerdings nicht weit genug zurück, sondern beginnen in den meisten Fällen erst 1980, für manche Länder auch erst später. Das durchschnittliche Anfangsjahr der ausgewerteten Statistiken ist 1983. Die verfügbaren Daten enden meist 2010 oder 2011, gelegentlich auch einige Jahre früher – im Durchschnitt 2010.

Die wichtigste verwendete Statistik ist KILM 4, das die Beschäftigtenzahlen eines Landes nach verschiedenen Branchen aufgeschlüsselt enthält. Eine Schwierigkeit der Analyse ergibt sich dabei daraus, dass die genaue Abgrenzung zwischen „produktiver“ und „unproduktiver“ Arbeit schon innerhalb der marxistischen Theoriebildung umstritten ist und sich in den (vermutlich nicht von Marxistinnen erstellten) ILO-Statistiken überhaupt nicht wiederfindet. Selbst wenn das anders wäre, wäre eine exakte Unterscheidung wohl schon deshalb unmöglich, weil eine Firma sowohl produktive (z.B. Facharbeiter, Ingenieure) als auch unproduktive (z.B. Werbefachleute) Beschäftige haben kann. Die in KILM 4 genannten Branchen lassen sich daher nur grob als „eher produktiv“ oder „eher unproduktiv“ einordnen.

Verschärft wird dieses Problem dadurch, dass die verwendete Brancheneinteilung im Lauf der Zeit mehrmals geändert wurde. In den meisten der untersuchten Länder wurde um 1980 die Version 2 der „International Standard Industrial Classification“ (ISIC) der Vereinten Nationen verwendet, um 2010 dagegen die heute aktuelle Version 4 (UN Statistics Division 2008). In einigen Ländern wurde zum Ende des Untersuchungszeitraums noch Version 3 verwendet. Jede dieser Versionen hat die Branchengliederung gegenüber der vorigen Fassung verändert und verfeinert.

Für meine Untersuchung habe ich die folgenden Sektoren in ISIC Revision 4 als (überwiegend) produktiv eingestuft:

Die folgenden Sektoren wurden als (überwiegend) unproduktiv betrachtet:

Als unproduktiv wurden von privaten Haushalten (T), Staaten (O) und zwischenstaatlichen Organisation (U) bezahlte Beschäftigungsverhältnisse eingestuft, da hier kein Kapital verwertet wird. Ebenso der Handel (G), der selbst keinen neuen Wert generiert, sondern nur den „Händewechsel“ zwischen Geld- und Warenbesitzern organisiert sowie Branchen, in denen vorhandene Werte gemanagt, aber kein neuer Wert produziert wird (K und L).

Besonders problematisch ist die Zuordnung der restlichen Sektoren, da hier sowohl Branchen einsortiert werden, die ich als überwiegend produktiv einstufen würde, als auch überwiegend unproduktive. Da die Daten keine weitere Aufschlüsselung ermöglichen, habe ich diese Sektoren als „halbproduktiv“ gewertet, d.h. 50 Prozent der dort angesiedelten Arbeitszeiten werden als produktiv gezählt. Dies gilt für folgende Sektoren:

Sofern eine Tätigkeit zur Entstehung eines Gebrauchswerts beiträgt, hängt ihre Wertproduktivität davon ab, ob sie für ein Privatunternehmen erbracht wird oder nicht:

[S]o ist ein Schulmeister produktiver Arbeiter, wenn er nicht nur Kinderköpfe bearbeitet, sondern sich selbst abarbeitet zur Bereicherung des Unternehmers. Daß letztrer sein Kapital in einer Lehrfabrik angelegt hat, statt in einer Wurstfabrik, ändert nichts an dem Verhältnis. (MEW 23: 532)

Da in den genannten Sektoren (insbesondere P, Q und S) sowohl staatliche als auch privatwirtschaftliche Unternehmen verbreitet sind (z.B. öffentliche und private Schulen und Bildungsinstitute), werden sie von mir als „halbproduktiv“ betrachtet. Eine genauere Aufschlüsselung, die den Umfang der privatwirtschaftlich organisierten (und damit wertproduktiven) Tätigkeiten genauer erfasst, wäre wünschenswert, kann aber auf Basis des vorliegenden Zahlenmaterials nicht erbracht werden.

In den Sektoren M und N sind sowohl produktive (z.B. in M: Architekten und Ingenieure; in N: Reinigung und Verpackung) als auch unproduktive Tätigkeiten (z.B. in M: Steuerberatung und Marketing; in N: Arbeitsämter und -vermittler, Vermietung und Leasing) zusammengefasst. Der Sektor X scheint gelegentlich als „Restkategorie“ für nicht anderweitig zugeordnete Tätigkeiten verwendet zu werden (in vielen Ländern ist er leer), weshalb keine Einstufung als „produktiv“ oder „unproduktiv“ möglich ist.

In ISIC Revision 3, der bis 2008 verwendeten vorigen Version des Standards, habe ich die folgenden Sektoren als produktiv eingestuft (in Klammern jeweils der entsprechende Sektor in Rev. 4):

Als nichtproduktiv gelten:

Als halbproduktiv gelten:

In der bis 2002 genutzten Revision 2 werden noch weniger Sektoren unterschieden, die mit Nummern statt Buchstaben bezeichnet werden (in Klammern jeweils der entsprechende Sektor in Rev. 4). Als überwiegend produktiv betrachte ich dabei:

Überwiegend unproduktiv:

Halbproduktiv:

Die ILO stellt Statistiken für mehr als 200 Staaten bereit, doch alle diese Daten auszuwerten wäre unpraktisch gewesen. Deshalb habe ich mich auf die 40 Länder mit dem größten Bruttoinlandsprodukt beschränkt (nach Wikipedia 2014a; verwendet wurde die Liste der Vereinten Nationen für 2012). Zusammen haben diese Staaten 90,2 Prozent des Bruttoweltprodukts erwirtschaftet (im Jahr 2012). Meine Annahme ist dabei, dass diese 90 Prozent ausreichen, um einen guten Einblick in die weltweite Entwicklung zu nehmen.

Entwicklung der Beschäftigtenzahlen

Die folgende Tabelle zeigt, wie sich die Zahl der produktiv und unproduktiv Beschäftigten zwischen dem jeweils ersten und letzten Jahr der Statistik entwickelt hat.

(1) Anzahl der produktiv und unproduktiv Beschäftigten (in Tausend)
Land Jahr Produk­tiv Halb­prod. Unprod. Summe Prod. Delta Prod.
Ägypten 1980 6623,0 3049,0 126,8 8147,5
2008 14322,0 3225,0 4960,0 15934,5 195,6%
Argentinien 1996 2672,0 1345,0 3353,0 3344,5
2011 2567,0 2538,0 4033,0 3836,0 114,7%
Australien 1980 2813,0 2945,0 517,7 4285,5
2009 3111,0 3614,0 2881,5 4918,0 114,8%
Belgien 1980 1660,0 1814,0 226,0 2567,0
2011 1026,0 1523,0 1250,0 1787,5 69,6%
Brasilien 1981 26293,0 17949,0 1223,0 35267,5
2009 44266,0 12812,0 35611,0 50672,0 143,7%
Chile 1980 1513,0 1643,0 101,1 2334,5
2010 2916,0 3641,0 573,3 4736,5 202,9%
China 1987 448420,0 77320,0 2090,0 487080,0
2002 476190,0 256630,0 4580,0 604505,0 124,1%
Dänemark 1981 1033,0 1178,0 157,4 1622,0
2011 621,0 1040,0 659,0 1141,0 70,3%
Deutschland 1991 18955,0 15697,0 2796,0 26803,5
2011 8541,0 12617,0 9986,0 14849,5 55,4%
Frankreich 1980 10857,5 9247,0 1642,5 15481,0
2011 6088,0 8296,0 7576,0 10236,0 66,1%
Griechenland 1981 2380,0 1034,0 116,7 2897,0
2011 1375,0 925,0 1309,5 1837,5 63,4%
Groß­britannien 1980 11660,0 11802,0 1865,0 17561,0
2011 7226,0 11069,0 7435,0 12760,5 72,7%
Indien 1994 233029,0 20929,0 35875,0 243493,5
2010 297104,0 20364,0 56817,0 307286,0 126,2%
Indonesien 1980 37319,0 13931,0 304,0 44284,5
2008 70840,0 8341,0 23371,0 75010,5 169,4%
Iran 1982 2080,0 2865,0 80,0 3512,5
2008 13233,0 2129,0 5138,0 14297,5 407,0%
Italien 1980 11733,0 8419,0 522,0 15942,5
2011 5822,0 6238,0 6215,0 8941,0 56,1%
Japan 1980 28830,0 23350,0 3170,0 40505,0
2008 27390,0 13170,0 23270,0 33975,0 83,9%
Kanada 1980 4420,0 5269,0 1018,0 7054,5
2008 6314,0 3963,0 6912,0 8295,5 117,6%
Kolumbien 1980 7770,0 7884,0 843,4 11712,0
2010 8067,0 8078,0 1350,3 12106,0 103,4%
Malaysia 1980 3145,0 1643,0 0,0 3966,5
2010 4086,0 1817,0 3179,0 4994,5 125,9%
Mexiko 1988 15144,0 12590,0 395,0 21439,0
2008 21888,0 5381,0 16597,0 24578,5 114,6%
Niederlande 1981 2165,0 2533,0 410,0 3431,5
2011 1833,0 3766,0 1924,0 3716,0 108,3%
Nigeria 1983 12029,0 15531,0 215,0 19794,5
2004 24122,0 16714,0 146,0 32479,0 164,1%
Norwegen 1980 890,0 916,0 101,0 1348,0
2011 608,0 1033,0 566,0 1124,5 83,4%
Österreich 1983 1744,0 1240,5 173,6 2364,3
2011 1214,0 1106,0 1110,0 1767,0 74,7%
Philippinen 1980 12254,0 4592,0 308,0 14550,0
2011 21682,0 2566,0 12905,0 22965,0 157,8%
Polen 1981 14004,0 4130,0 371,5 16069,0
2011 5130,0 3359,0 4026,0 6809,5 42,4%
Russland 1990 46565,5 12802,0 15740,0 52966,5
2009 31767,0 13247,0 21943,0 38390,5 72,5%
Saudi-Arabien 1999 1899,0 1063,0 2631,0 2430,5
2009 2614,0 1387,0 4146,0 3307,5 136,1%
Schweden 1980 1895,0 2054,0 283,0 2922,0
2011 1090,0 1932,0 1006,0 2056,0 70,4%
Schweiz 1980 1425,0 1741,0 0,0 2295,5
2011 968,0 1610,0 1137,0 1773,0 77,2%
Singapur 1980 518,0 471,0 79,1 753,5
2008 607,0 267,0 665,0 740,5 98,3%
Spanien 1980 7045,0 4115,0 397,2 9102,5
2011 5248,0 4713,0 5588,0 7604,5 83,5%
Südafrika 2000 5199,0 5822,0 923,3 8110,0
2011 4593,5 6961,0 1710,5 8074,0 99,6%
Südkorea 1980 9239,0 4114,0 332,0 11296,0
2008 11493,0 4408,0 7677,0 13697,0 121,3%
Thailand 1980 18720,0 3803,0 0,0 20621,5
2011 26448,0 2902,0 9114,0 27899,0 135,3%
Türkei 1982 2471,0 2629,0 228,0 3785,5
2011 9992,0 3600,0 5805,0 11792,0 311,5%
USA 1980 39190,0 51760,0 8351,0 65070,0
2010 34096,0 54084,0 36072,0 61138,0 94,0%
Venezuela 1980 2114,0 1944,0 186,9 3086,0
2011 4780,5 6732,0 684,3 8146,5 264,0%
Ver. Arab. Emirate 1995 685,0 114,0 513,0 742,0
2008 733,0 195,5 918,0 830,8 112,0%
Summe Anfangsjahr 1240039,8
Endjahr 1471008,8 118,6%

Insgesamt ist die Zahl der produktiv Beschäftigen um knapp 19 Prozent gestiegen, von 1240 auf 1471 Millionen (Beschäftige aus „halbproduktiven“ Sektoren wurden dabei wie erläutert zu 50 Prozent gezählt).

Im Vergleich zur Gesamtzahl aller Beschäftigen fällt dieser Anstieg allerdings vergleichsweise schwach aus. Dieser beträgt 37,2 Prozent, von 1509 auf 2071 Millionen.

Ein auffälliger Unterschied ergibt sich in der Tendenz der Entwicklung zwischen den hochentwickelten Industriestaaten Europas und den USA einerseits (wo die Zahl der produktiv Beschäftigen generell gefallen ist), und der asiatischen, afrikanischen und südamerikanischen Staaten andererseits (wo sie gestiegen oder zumindest nahezu unverändert geblieben ist). Nicht in dieses Schema passen allerdings die hochentwickelten Industriestaaten Kanada und Australien, die ebenfalls eine steigende Tendenz aufweisen.

[Teil 2 [2] – dort ist auch das Literaturverzeichnis [3] zu finden.]