Elemente einer künftigen Ethik: Keine Ausnutzung von Zwangslagen

Ein Holzschnitt von Albrecht Dürer stellt den bis heute strafbaren "Wucher" dar (gemeinfrei, Quelle: http://commons.wikimedia.org/wiki/File:UsuryDurer.jpg)(Voriger Artikel: Vorüberlegungen zu einer künftigen Ethik)

Nach den allgemeinen Vorüberlegungen wird es nun um die Frage gehen, welche ethischen Überzeugungen in einer peercommonistischen Gesellschaft verbreitet sein dürften. Dabei wird es wohl nicht zu einen absoluten Bruch mit der heutigen (bürgerlich-kapitalistisch) Ethik kommen, sondern vielmehr zu deren „Aufhebung“ im Hegel’schen Sinne. Bestimmte Elemente werden auf eine höhere Ebene „gehoben“, also konsequent weiter ausgebaut, wo die heutige aus Sicht der künftigen Ethik inkonsequent ist. Manche aus künftiger Sicht inakzeptabel gewordenen Vorstellungen werden aufgegeben, während andere ziemlich unverändert von der heutigen in die künftige Ethik wandern werden.

Schon heute ist es in gewissen Fällen verpönt, es zum eigenen Vorteil ausnutzen, wenn andere sich in einer Zwangs- oder Notlage befinden, in der sie nicht frei entscheiden können, was sie tun oder nicht tun wollen. So verbietet es das deutsche Strafgesetzbuch, jemand unter Ausnutzung einer Zwangslage zur Prostitution zu nötigen (§ 232) oder Minderjährige in einer Zwangslage zu sexuellen Handlungen zu drängen (§ 182). Strafbar ist auch „Menschenhandel zum Zweck der Ausbeutung der Arbeitskraft“ (§ 233), wobei hier auffällig ist, dass die Ausnutzung einer Zwangslage nicht generell sanktioniert wird, sondern nur dann, wenn ein „auffälliges Missverhältnis“ zwischen den Arbeitsbedingungen des Betroffenen und anderen, die vergleichbare Tätigkeit ausüben, besteht. Dasselbe gilt für den „Wucher“ (§ 291): mit jemand in einer Zwangslage einen Kredit- oder sonstigen Vertrag auszuhandeln, ist nur dann strafbar, wenn ein „auffälliges Missverhältnis“ zwischen Leistung und Gegenleistung besteht.

Das Strafgesetzbuch macht hier unfreiwillig deutlich, dass das Ausnutzen von Notlagen anderer zu den Grundprinzipien des Kapitalismus gehört: Ob Menschen ihre Arbeitskraft verkaufen („Arbeit suchen“) oder nicht, entscheiden sie in aller Regel nicht aus freien Stücken, sondern sie müssen es tun, weil ihnen kaum eine andere Alternative bleibt. In Deutschland drohen einem zwar – anders als in vielen anderen kapitalistischen Ländern – nicht gleich Obdachlosigkeit und Hungertod, wenn man längere Zeit „arbeitslos“ bleibt, da der Staat einspringt und eine geringe Grundsicherung zahlt (das (Arbeitslosengeld II, meist „Hartz IV“ genannt). Diese befreit eine aber keineswegs aus der Zwangslage, im Gegenteil: Anspruch auf diese Hilfe hat nur, wer aktiv nach einer „zumutbaren Arbeit“ sucht und dies gegenüber dem Arbeitsamt auch nachweist, wobei fast jede Arbeit als „zumutbar“ gilt.

Während eine bedingungslose Grundsicherung, die hoch genug wäre, um das Überleben und die gesellschaftliche Teilhabe gemäß den üblichen Standards zu ermöglichen, die Zwangslage aufheben würde, trägt der Staat so aktiv zu ihrer Aufrechterhaltung bei. Wer nicht gewillt ist, die eigene Arbeitskraft anderen zur Ausbeutung zur Verfügung zu stellen, dem drohen Kürzungen des Arbeitslosengelds, die schnell existenzbedrohend werden können.

Die Inkonsequenz der heutigen Ethik schlägt sich in den halbherzigen Formulierungen des Strafgesetzbuchs nieder: Andere unter Ausnutzung der Zwangslage, ihr Überleben sichern zu müssen, auszubeuten, gilt als völlig normal und keineswegs verwerflich – außer man übertreibt es dabei. In der künftigen Ethik dürfte diese Inkonsequenz verschwinden, das Ausnutzen von Notlagen anderer zum eigenen Vorteil oder zum Vorteil dritter dürfte generell als inakzeptabel gelten. Was heute ganz normal ist – nämlich dass fast alle gezwungen sind, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, um über die Runden zu kommen, und so Firmen zu Profiten verhelfen – wird den Menschen im Rückblick äußerst unethisch erscheinen, so wie wir frühere Gesellschaften, die auf Sklaverei oder Leibeigenschaft aufbauten, als unethisch empfinden.

Das Abschließen von Tauschgeschäften – Leistung gegen Gegenleistung bzw. Gabe gegen Gegengabe – wird auch in Zukunft noch akzeptabel sein, aber nur unter der Voraussetzung, dass keiner der Beteiligten in Not gerät, wenn dieses oder ein ähnliches Tauschgeschäft nicht zustande kommt. Alle müssen also auch ohne den Abschluss von Tauschgeschäften in der Lage sein, gemäß den gesellschaftlich üblichen Standards gut zu leben. Das bloße Überleben reicht dabei nicht aus, da eine Zwangslage auch dann entsteht, wenn der Einzelnen andernfalls etwas fehlen würde, was ihre Bekannten und Freundinnen haben und als wesentlich ansehen. Wenn alle meine Freunde per Handy kommunizieren, bin ich gezwungen, mir selbst ein Handy zu besorgen, wenn ich nicht den Anschluss verlieren will. Auch solche gesellschaftlich bedingten Standards müssen allen Menschen ohne den Zwang zu Tauschgeschäften zugänglich sein, um das ethisch Inakzeptable – das Ausnutzen von Zwangslagen anderer zum eigenen Vorteil – abzuwenden.

Die Gesellschaft so zu organisieren, dass dies jederzeit und überall der Fall ist, ist also eine allgemeine Herausforderung, der sich die Menschen in einer peercommonistischen Gesellschaft werden stellen müssen. Denn wenn Menschen mangels Alternativen gezwungen wären, sich zu verkaufen oder anderweitig ausnutzen zu lassen, würden sie das natürlich auch weiterhin tun. Ein rein ethisches Postulat, das aufgrund der gesellschaftlichen Realitäten regelmäßig ignoriert wird, wäre aber witzlos und würde bald wieder verschwinden.

(Fortsetzung: Ausschluss höchstens zur Sicherung der eigenen Gebrauchsrechte)

Literatur

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