Vorzüge und Abwandlungen des Freiwilligenspiels

Freiwillige beim Spielen(Voriger Artikel: Das Freiwilligenspiel)

Das vorgeschlagene Freiwilligenspiel zur selbstorganisierten Arbeitsaufteilung vermeidet weitgehend die Nachteile eines ganz informellen Modells der reinen Freiwilligkeit. Reine Freiwilligkeit kann zu einer äußerst unausgewogenen Lastenverteilung führen: Einzelne übernehmen möglicherweise viel mehr oder viel undankbarere (auch für ihr eigenes Empfinden) Aufgaben als andere, um zu verhindern, dass sie sonst womöglich liegen bleiben. Auch Verantwortungsgefühl gegenüber der Community kann dazu führen, das manche immer mehr Aufgaben übernehmen, da es kein Feedback dazu gibt, was von einer erwartet wird und wann man genug getan hat. Beim Freiwilligenspiel kann sich zwar jeder nach eigenem Ermessen stärker oder weniger stark engagieren, doch weiß man dabei immer, wie man relativ zum Durchschnittsbeitrag steht.

Bei reiner Freiwilligkeit droht auch, dass die Bedürfnisse derer, die etwas nicht selbst erledigen können, womöglich auf der Strecke bleiben, wenn sich niemand anders hinreichend motiviert fühlt, sich darum zu kümmern. Beim Freiwilligenspiel werden alle für die Organisation der umfassenden Quasi-Flatrate nötigen Aufgaben aufgeteilt und jede Freiwillige trägt ihren Anteil dazu bei. Das Raymond’sche „scratching an itch“ – etwas machen, dessen Ergebnisse einem selber wichtig sind (Raymond 2001) – ist hier als Motivator also weniger bedeutend. Ich kann ohne Weiteres Dinge machen, die mir liegen und die anderen zugute kommen und zugleich darauf vertrauen, dass sich andere um die für mich wichtigen Dinge kümmern.

Dass als wichtig empfundene Aufgaben womöglich liegen bleiben, weil alle lieber anderes machen, kann zwar nicht ganz ausgeschlossen werden, doch können die Syndikate dem zumindest entgegen wirken durch das Höhergewichten von „unbeliebten“ Aufgaben, für die es an Freiwilligen fehlt. Reine Freiwilligkeit kann auch langfristige Planung und Großprojekte schwierig machen, weil unklar ist, ob die interessierten Freiwilligen lange genug dabei bleiben und ob sich andernfalls motivierte Nachfolger für sie finden. Im Freiwilligenspiel ist das einfacher: Hat sich die Gesellschaft zur Durchführung eines Projekts entschlossen, werden alle dafür nötigen Aufgaben aufgeteilt und kommen potenziell für alle, die ihren Teil zur gesellschaftlichen Reproduktion beitragen wollen, in Frage.

Die problematischen Aspekte der Arbeitsteilung in traditionellen Commons sollten ebenfalls nicht auftreten. In traditionellen Commons hat die Einzelne kaum Wahlmöglichkeiten in Bezug auf die zu leistenden Aufgaben. Beim Freiwilligenspiel suchen sich alle gezielt die Tätigkeiten aus, die sie erledigen möchten, weil sie Lust darauf haben oder gut darin sind. Deshalb (und weil Aufgaben bei Bedarf hochgewichtet werden können) eignet sich das Spiel auch für die Organisation komplexer arbeitsteiliger Prozesse mit Dutzenden oder Hunderten unterschiedlicher Aufgaben, die verschiedene Talente und Qualifikationen erfordern. In traditionellen Commons werden dagegen meist nur relativ gleichförmige Arbeitspakete aufgeteilt. Alle müssen alles machen können oder Traditionen diktiert den Einzelnen, was sie zu tun haben, etwa in Form unterschiedlicher Geschlechterrollen.

In traditionellen Commons besteht in der Regel zudem eine Beitragspflicht. Ein individuelles Opt-out ist schwierig und muss von der Community akzeptiert werden. Im Freiwilligenspiel wird die Entscheidung zur Beteiligung und ihr genauer Umfang dagegen von den Einzelnen getroffen und muss nicht begründet werden.

„Trittbrettfahrer“-Risiko und Beitragspflicht

Dass alle diese Entscheidung individuell treffen, führt allerdings auch zu dem Risiko, dass das Spiel mangels Freiwilliger kollabieren könnte. Jede Einzelne hat die Möglichkeit, sich als Freiwillige zu beteiligen oder nicht, kann aber in jedem Fall die produzierten Güter nutzen. Je mehr Menschen sich also nicht oder nur in geringem Maße beteiligen, desto höher wird die Arbeitsbelastung für die verbleibenden Freiwilligen.

Eine sinkende aktive Beteiligung könnte so zu einem Teufelskreis führen: Die noch Aktiven haben einerseits immer mehr zu tun und sehen andererseits immer mehr „Trittbrettfahrer“, die es sich auf ihre Kosten gut gehen lassen. Das könnte weitere Freiwillige zum Ausstieg bewegen und so bald das völlige Scheitern des Spiels bewirken. Dann hätten auch die Trittbrettfahrerinnen Pech gehabt; eine andere Lösung zur Aufteilung der anfallenden Tätigkeiten müsste gefunden werden.

In diesem Fall wäre eine Beitragspflicht nach dem Modell der traditionellen Commons die naheliegende Lösung. Die Erbringung des Durchschnittsbeitrags wäre dann nicht länger freiwillig, sondern für alle arbeitsfähigen Erwachsenen (z.B. zwischen 18 und 63) verpflichtend, sofern sie die per Quasiflat hergestellten Güter im vollem Umfang nutzen wollen. Individuell gewünschte Befreiungen von der Beitragspflicht wären zwar möglich, müssten aber beantragt und begründet werden. Die Koregion müsste ein Gremium einsetzen (z.B. per Los oder Wahl), das über solche Befreiungen entscheidet.

Verweigert man die eigenen Beteiligung, ohne dafür Gründe vorzubringen, die das Gremium akzeptiert, wären Sanktionen die unvermeidliche Konsequenz (andernfalls bestünde die Beitragspflicht nur auf dem Papier). Der Zugang zu bestimmten per Quasiflat zugänglich gemachten Gütern könnte verweigert oder eingeschränkt werden. Allerdings dürften die drohenden Sanktionen meiner Meinung nach nicht so gravierend sein, dass sie das Leben oder die Gesundheit der betroffenen Person gefährden könnten, da niemand das Recht hat, über Leben und Tod anderer Menschen zu entscheiden. Zumindest die Befriedigung lebenswichtiger Grundbedürfnisse müsste also weiterhin möglich sein.

Die Aufteilung der notwendigen Arbeiten würde durch die Beitragspflicht bürokratischer werden. Die Motivation vieler Beteiligter würde wahrscheinlich ein Stück weit sinken, weil sie nicht mehr freiwillig beitragen, sondern ihren Pflichtanteil erfüllen müssen. Dennoch würde sich auch diese Version der Quasiflat deutlich vom kapitalistischen Modell unterscheiden: Die Menschen würden die Erledigung der nötigen Aufgaben weiterhin unter sich aufteilen und so gemeinsam für die Befriedigung der Bedürfnisse aller arbeiten. Niemand müsste sich in Konkurrenz mit ungewissem Ausgang gegen andere durchsetzen.

Allerdings ist das Risiko, dass aufgrund zu vieler „Trittbrettfahrer“ eine Beitragspflicht nötig wird, meiner Einschätzung nach viel geringer als es heute scheinen mag. Menschen haben nicht nur konsumtive, sondern auch produktive Bedürfnisse – jahrein, jahraus nur bequem am Strand zu liegen oder Internetvideos zu gucken, würde wahrscheinlich die wenigsten dauerhaft glücklich machen. Gleichzeitig würde ein Trittbrettfahrerverhalten zur psychologisch unbefriedigenden Situation einer einseitigen Abhängigkeit führen. Man ist von anderen abhängig, ohne deren Aktivitäten man nicht überleben könnte (das gilt für alle Menschen in jeder Gesellschaft), gleichzeitig tut man aber nichts für andere, was die einseitige in eine gegenseitige Abhängigkeit auflösen würde. Auch die eventuell von Freundinnen oder Bekannten gezeigte Irritation oder Missbilligung, wenn man im Gegensatz zu ihnen nichts beiträgt, könnte eine abschreckende Wirkung entfalten.

Und nicht zuletzt ist das Freiwilligenspiel so konzipiert, dass es der Einzelnen leicht zugängliche Informationen dazu bietet, in welchem Umfang und auf welche Weisen sie sich an der allgemeinen gesellschaftlichen Vorsorge beteiligen kann. Dieses Feedback verpflichtet zwar zu nichts, dürfte aber den Effekt haben, dass man die eigene Rolle im gesellschaftlichen Prozess überdenkt und sich entsprechend verhält.

„Entbürokratisierung“ zur reinen Freiwilligkeit

Auch wenn es niemand formelle Pflichten auferlegt, ist das Freiwilligenspiel immer noch mit einer gewissen Bürokratie verbunden. Das wäre unnötig, wenn die Menschen die anfallenden Tätigkeiten spontan unter sich aufteilen würden, ohne auf die Feedbackmechanismen des Freiwilligenspiels angewiesen zu sein. Es dürfte auch dann noch Listen der zu erledigenden Aufgaben und der auszufüllenden Tätigkeitsfelder geben, doch alle würden spontan im eigenen Ermessen entscheiden, ob und in welchem Umfang sie sich einbringen. Wenn sich dies als ausreichend erweist, um für alle gewünschten Tätigkeiten jemand zu finden, der sie zum richtigen Zeitpunkt erledigt, würden die Bieterrunden und die Zeiterfassung des Freiwilligenspiels überflüssig.

Dies kann insbesondere dann der Fall sein, wenn der Wunsch vieler Menschen, sich auf sinnvolle und für andere nützliche Weise zu betätigen, groß genug ist, um alle zu erledigenden Aufgaben abzudecken (und potenziell noch mehr). Eine Annäherung an diesen Zustand kann von zwei Seiten aus erfolgen. Einerseits dadurch, dass der Umfang der benötigten Aufgaben – insbesondere von solchen, auf die wenige Lust haben – aufgrund von höherer Automatisierung und verbesserter gesellschaftlicher Organisation zusammenschrumpft. Und andererseits dadurch, dass sich die Haltung der Menschen zur Arbeit dahingehend entwickelt, diese – zumindest in begrenztem Umfang und in ihrer selbstbestimmten und selbstorganisierten Variante – nicht mehr als lästige Notwendigkeit anzusehen, sondern als befriedigenden Teil des Lebens.

Ein völliger Verzicht auf die Feedbackmechanismen des Freiwilligenspiels ist allerdings nur dann empfehlenswert, wenn sichergestellt ist, dass die Tücken der reinen Freiwilligkeit vermieden werden. Wenn also alle mit den übernommenen Aufgaben zufrieden sind, statt dass sich manche aus Verantwortungsgefühl abrackern, während andere nur tun, worauf sie Lust haben. Sofern Eigenarbeit verbreitet ist, sollte sie nicht dazu führen, dass Einzelne ausgeschlossen werden, weil sie diese Tätigkeiten nicht selbst übernehmen können oder wollen und es niemand gibt, die sie ihnen abnimmt.

Es ist gut möglich, dass die gesellschaftliche Entwicklung in einer cosyndikalistischen Gesellschaft in diese Richtung gehen wird. Die Aushandlungsprozesse des Freiwilligenspiels könnten sich mit der Zeit als unnötig formell erweisen und zugunsten reiner, spontaner Freiwilligkeit fallen gelassen werden.

Sollte diese Entwicklung nicht eintreten, sondern sich die Spielregeln des Freiwilligenspiels (wahrscheinlich in weiterentwickelter Form) weiterhin als sinnvoll erweisen, wäre das aus meiner Sicht aber auch kein Beinbruch.

Die am Schluss des letzten Teils aufgeworfene Frage nach dem Umgang mit schlecht delegierbaren Tätigkeiten (z.B. sich um die eigenen Kinder kümmern) ist noch offen geblieben, aber der nächste Artikel kommt bestimmt.

(Fortsetzung: Nicht-aufteilbare Arbeiten im Freiwilligenspiel)

Literatur

  • Raymond, Eric S. (2001): The Cathedral & the Bazaar. 2. Aufl. Sebastopol: O’Reilly.

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