Martinus-Interview

Die Kirchenzeitung der Diözese Eisenstadt (Österreich) martinus hatte mich vor dem Kongress Solidarische Ökonomie in Wien interviewt. Leider ist das Interview nicht mehr auf der Website zu finden. Da mich schon einige Leute nach dem Interview gefragt haben, veröffentliche ich hier die (ungekürzte) Fassung.

Martinus: Etwa 1.000 Teilnehmer werden in der kommenden Woche zum Kongress »Solidarische Ökonomie« in Wien erwartet. Ein Haufen Idealisten?

Stefan Meretz: Ein Haufen besorgter Menschen, die den Schritt aus der Passivität heraus gewagt haben, würde ich sagen. Sie wollen gemeinsam beraten, was getan werden kann und was schon getan wird, damit sich in der Gesellschaft etwas ändert.

Was sind die Grundsätze solidarischer Ökonomie?

Es gibt keine feste Definition. Ganz allgemein kann man sagen, dass es um eine Weise der Schöpfung unserer Lebensbedingungen geht, die die menschlichen Bedürfnisse zur Grundlage hat. Wie man das erreichen kann, ist Thema des Kongresses.

Wie unterscheidet sich solidarische Ökonomie zur sozialen Marktwirtschaft?

In der Marktwirtschaft sind Bedürfnisse und ihre Befriedigung kein Ziel, sondern nur ein Mittel für etwas Drittes: aus Geld mehr Geld machen. Die Bedürfnisbefriedigung ist nur »Nebeneffekt« der selbstzweckhaften Geldvermehrung. Wenn kein Geld mehr vermehrt werden kann, wenn Betriebe stillgelegt werden, dann werden auch keine Produkte mehr hergestellt, obwohl die Menschen sie brauchen. In krasser Form sehen wir das derzeit in Griechenland, wo Kinder vor Entkräftung in der Schule von den Stühlen fallen, weil sie kein Frühstück hatten.

Wir sind alle mit den Gesetzen der Marktwirtschaft groß geworden. Diese Gesetze beherrschen mittlerweile aber nicht nur Wirtschaft, sondern unser gesamtes soziales Gefüge. Ist ein Systemwechsel überhaupt möglich? Unter welchen Bedingungen?

Wir dürfen nicht vergessen, dass wir es sind, die diese Bedingungen herstellen. Also können wir sie auch verändern. Das ist allerdings nicht leicht, denn das System Marktwirtschaft erscheint vielen als natürlich und alternativlos. Das ist aber Ideologie, die uns täglich verkündet wird. Ein Systemwechsel ist möglich, allerdings nicht nach den Rezepten der Vergangenheit. Die Alternative zur Privatwirtschaft ist nicht die Staatswirtschaft, sondern gemeinschaftliche Produktion der Dinge, die wir für unser Leben brauchen. Dieser Ansatz ist mit dem Begriff der Commons, der Gemeingüter, verbunden. Moderne Commons sind heute etwa Wikipedia, der Firefox-Browser oder das Linux-Betriebssystem. Sie werden nicht für den Profit gemacht, sondern für die Befriedigung von Bedürfnissen – nach Wissen, sicherer Internetnutzung oder überwachungsfreien Computeranwendungen.

Ein zentraler Unterschied zwischen Commons und Markt-Waren ist die Frage, wie Produzenten wissen, was sie produzieren sollen, und wie Konsumenten das bekommen, was sie brauchen. Privatproduzenten müssen spekulieren, dass ihre Produkte ein zahlungsfähiges Bedürfnis treffen. Der Abgleich zwischen Produktion und Bedarf findet im Nachhinein über den Markt statt, wenn er klappt. Das ist bei Commons anders. Dort wird im Vorhinein geklärt, was überhaupt benötigt wird. Dieser Abgleich im Vorhinein hat einen enormen Vorteil: Unterschiedliche Bedürfnisse können jetzt ebenfalls vorher abgeglichen werden. Das gibt es bei Markt-Waren nicht, denn die befriedigen immer genau ein Bedürfnis. Alle Nebeneffekte werden externalisiert, wie die Ökonomen das nennen. Entsteht also etwa bei der Produktion Dreck, dann wird mit dem Produkt vielleicht ein Bedürfnis von uns befriedigt, mit dem Dreck aber ein anderes beschädigt. Viele externe Effekte sind unsichtbar, aber sie sind da. Häufig werden sie jedoch exportiert, damit wir sie nicht sehen. Der Reichtum bei uns ist die Armut anderswo, Der Handykauf bei uns ist die Sklavenarbeit in den Coltan-Minen im Kongo. Bei den Commons sind solche Fragen vorher Thema: Was wollen wir produzieren? Wie wollen wir produzieren? Wir sind eine Welt, und das muss sich auch in der Produktion zeigen.

Als Vortragender am Kongress »Solidarische Ökonomie« werden Sie ein Modell einer »Welt ohne Geld« vorstellen. Wie kann ich in dieser Welt meine für das tägliche Leben notwendigen Produkte und Dienstleistungen »erwerben«?

Wenn man den Ansatz der Commons weiterdenkt, dann kommt man zu der Frage, ob eine ganze Gesellschaft danach funktionieren kann, ob also alle Güter als Commons hergestellt werden können. Ich meine, es geht, aber nur wenn wir uns von Fetischen verabschieden, die unser Leben bestimmen. Dazu gehört das Geld. Reichtum ist nicht Geld, sondern ein gutes Leben zu haben. Das Geld vermittelt eine trügerische Sicherheit. Die Krisen schaukeln sich immer mehr auf, und schon beim nächsten Crash kann das Geld wertlos sein, denn Geld kann man nicht essen, und mit elektronischem Geld kann man noch nicht einmal den Ofen heizen.

Kann man aber auch materielle Güter in Commons-Produktion gemeinschaftlich herstellen? Bedeutet das nicht ein Zurück zu alten Zeiten kleinteiliger Subsistenz? Das sind typische Fragen, die mir gestellt werden, wenn ich über die neuen Möglichkeiten berichte. Ich will zeigen, wie heute bereits Maschinen in Commons-Produktion entstehen, wie aus den Keimformen mehr wird bis hin zu einer »Welt ohne Geld«, in der Geben und Nehmen nicht mehr aneinander gekoppelt sind. In so einer Welt bekomme ich die Mittel zum guten Leben ohne sie zu erwerben. Einfach, weil ich ein Mensch in einer Menschengemeinschaft bin. Christen ist diese Idee durchaus vertraut, teilte Jesus doch das, was er hatte, ohne dafür eine Gegenleistung zu verlangen. Das Teilen ist ein Kerngedanke der Commons.

Werden aber nicht alle auf der faulen Haut liegen, wenn sich niemand mehr zur Arbeit gezwungen sieht? Das ist Teil der Ideologie, von der ich vorher sprach. Das wird behauptet, aber so sind die Menschen doch nicht! Jede und jeder hat nicht nur konsumtive, sondern auch produktive Bedürfnisse, will etwas in die Welt setzen, kreativ sein, kooperieren. Wenn sowohl produktive wie konsumtive Bedürfnisse nicht mehr durch das Geld aneinander gekoppelt sind, dann lassen sie sich frei entfalten. Und wenn dann auch die unterschiedlichen Bedürfnisse vor der Produktion abgeglichen werden, dann endet das nicht in einem »immer mehr«, sondern führt zu einem klareren Bewusstsein darüber, was wir wirklich brauchen, um glücklich zu sein. Ja, und das in der ganzen Gesellschaft. Warum sollen wir uns nicht täglich mit dem guten Leben anstatt dem letzten Sonderangebot beschäftigen?

Ganz ehrlich, wie realistisch halten Sie die Umsetzung dieses Modells? Werden Sie und ich noch eine Welt ohne Geld erleben?

Ganz ehrlich: Ich hoffe es nicht, denn im Moment kann ich es mir nur als Zusammenbruch vorstellen. Dann haben wir eine Welt ohne Geld, aber keine funktionierende Alternative einer Produktion, die die Lebensbedingungen für alle Menschen schöpft. Stattdessen will ich heute anfangen darüber nachzudenken, wie wir uns aus den Verhängnissen der Vergangenheit, die uns keine Zukunft bieten, herauskommen. Dazu brauchen wir neue Konzepte, Utopien, Ideen, auch wenn die sicher nicht morgen umgesetzt werden können. Manchmal gehen Veränderungen auch sehr schnell, Mauerfall und arabischen Frühling hat niemand vorausgesehen.

Wir Christen handeln oft nach dem Grundsatz der »vielen kleinen Schritte«. In welcher Form können sich Menschen an Projekten solidarischer Ökonomie beteiligen, ohne aus ihrer bisherigen Verknüpfung im ökonomischen Gefüge gleich ganz »auszusteigen«?

Kleine Schritte sind der richtige Ansatz. Die Ausgangsfrage sollte sein: »Was will ich wirklich, wirklich tun?« Dann kann ich schauen, ob ich Gleichgesinnte finde, die das gleiche Bedürfnis haben. Und dann einfach machen. In den USA gibt es ein schönes Projekt der Hacker-Moms, also von Müttern (und wenigen Vätern), die zwei Dinge kombinieren: Kinderbetreuung und Bauen von Dingen und Geräten, von Kleidung bis zu 3D-Druckern. Einfach machen, sich trauen und Vertrauen haben, dass es geht – vor allem mit anderen zusammen.

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