André Gorz und der Wissenskommunismus

kraemer-gorz-kongress-doku[Beitrag in der Dokumentation zum Kongress über die Ideen von André Gorz, 15./16.2.2013 in Saarbrücken.]

In seiner letzten Lebensetappe setzte sich André Gorz intensiv mit der Wissensökonomie als Kern des „kognitiven Kapitalismus“ auseinander. Wissen sei einerseits zur wichtigsten Produktivkraft geworden, andererseits stelle die Entfaltung der Wissensgesellschaft zentrale Kategorien des Kapitalismus infrage. Er forschte den Ursachen dieses Widerspruchs nach und konnte dabei an frühere Überlegungen einer kategorialen Kritik des Kapitalismus anschließen. Die Begegnung mit der theoretischen Strömung der „Wertkritik“ ermöglichte ihm eine Zuspitzung seiner Untersuchungen. Dies zeigt sich zum Beispiel deutlich in den Unterschieden zwischen der französischen Ausgabe von „L’Immatériel“ (2003) und der ein Jahr später unter dem Titel „Wissen, Wert und Kapital“ (2004) publizierten deutschen Ausgabe[1]. In diese Zeit fällt eine von 2003 bis zu seinem Tod 2007 andauernde briefliche Konversation mit dem Autor dieses Essays. In seiner emphatischen Art bekannte Gorz: „Das Vorwort schrieb ich 2 Jahre nach der ursprünglichen franz. Fassung. Im Laufe dieser 2 Jahre kam ich mit dir in Verbindung, las ich Postone, die Streifzüge u. ein paar Bücher von R. Kurz u. ‚bekehrte‘ mich zum wertkritischen Denken“ (Briefe 2005). Die wertkritische Analyse wurde für Gorz (wie für mich) immer wichtiger, er bedauerte, sie erst so spät entdeckt zu haben.

Franz Schandl hat in seinem Beitrag die Verbindungslinien von der Gorzschen frühen Kritik, die „Notwendigkeit“ und „Paradies“ noch „dual“ dachte, hin zu einer kategorialen Kritik, die sich nunmehr „Auswege aus dem Kapitalismus“ (2009) nur noch durch Aufhebung von Warenproduktion und warenförmiger Arbeit vorstellen konnte, nachgezeichnet. Ich möchte in diesem Beitrag ausführlicher auf den Begriff des Wissenskommunismus bei André Gorz eingehen.

Wissenkommunismus ist in der bürgerlich-aufgeklärten Welt durchaus kein Schreckwort. Es wurde von Robert K. Merton (1942) eingeführt und auf die Wissenschaft bezogen, die sich nicht Partialinteressen unterordnen dürfe und ihre Funktion nur als allgemeine erfüllen könne. Gorz jedoch denkt weiter, ihm geht es um eine Wissensgesellschaft. Er ist der Auffassung, dass der „Wissenskapitalismus … zu keiner Wissensgesellschaft“ (2001) führt[2], sondern eine „authentische Wissensökonomie wäre ein Wissenskommunismus“ (2004, 11), und dieser ist der Einstieg in einen Kommunismus sui generis.

Schon lange setzte sich André Gorz mit der Wissensökonomie auseinander, der Artikel „The Hi-Tech Gift Economy“ von Richard Barbrook (1998) gab den Anlass. Seither taucht das Barbrook-Zitat der „realexistierenden anarchokommunistischen Ökonomie des Gebens“ bei Gorz immer wieder auf. Doch erst langsam füllt er das Zitat für sich mit Inhalt. 2001 formuliert er für eine Tagung der Heinrich-Böll-Stiftung drei Thesen (Titel von mir):

  1. Selbstwiderspruch-These: Der Kapitalismus kann den Widerspruch zwischen der Tatsache, dass Wissen die entscheidende Produktivkraft geworden ist, er diese aber nicht in eigener Logik entwickeln kann, nicht lösen.
  2. Eigentums-These: Wissen kann daher nicht Privateigentum, sondern muss Gemeingut sein.
  3. Selbstentwicklungs-These: Wissen als Gemeingut kann nur von freien Menschen in einer Kulturgesellschaft entwickelt werden.

Die drei Thesen arbeitet Gorz in der Folge in immer wieder neuer Weise aus, wobei er zunehmend „wertkritisches Denken“ nutzt. In das Buch „Wissen, Wert und Kapital“ in der deutschen Fassung von 2004 bringt Gorz viele der neuen Gedanken ein und spitzt frühere Aussagen zu. Gleichwohl betrachtet Gorz das Buch selbstkritisch als „analytisch wage, begrifflich unklar, untheoretisch, … ‚journalistisch‘“ (Briefe 2005).

In der Selbstwiderspruch-These geht es um den unauflösbaren Gegensatz der Notwendigkeit der Verwertung lebendiger Arbeit bei gleichzeitiger Minimierung eben jener Arbeit in der kapitalistischen Warenproduktion. Gorz fragt sich und uns: „Wie kann eine Warengesellschaft weiterbestehen, wenn die Produktion von Waren immer weniger Arbeit verwertet…?“ (2004, 48). Wissen sei die „entscheidende Produktivkraft“ (2001, 2) geworden, doch gerade der „Wert der diversen Formen von Wissen ist mit den üblichen Maßstäben nicht messbar“ (ebd., 3). Damit gerieten die Grundkategorien kapitalistischer Verwertung in die Krise. Eine kapitalistisch zugerichtete Wissensökonomie sei der Versuch des Kapitals „das Markt- und Wertgesetz zu umgehen…, um immaterielles, nach keinem Maßstab messbares Wissen als Kapital und Quelle des ‚Wertes‘ funktionieren zu lassen“ (2004, 49). Mit der Nichtmessbarkeit scheint hier ein Motiv in der Gorzschen Argumentation auf, das immer wieder Gegenstand unseres Briefwechsels war, dazu später mehr. Drei Strategien des Kapitals macht André Gorz aus, um den Selbstwiderspruch zu umgehen und dabei gleichzeitig zu verschärfen:

  1. Extra-Mehrwert: Gelingt es einem Produzenten durch technische oder andere Innovationen die gesellschaftlich maßgebliche Produktivität zu übertreffen, so kann sich dieser einen relativ größeren Teil des gesellschaftlich produzierten Werts aneignen. In der Konkurrenz müssen die anderen Produzenten folgen, so dass die frühere Spitzenproduktivität zum neuen Normalmaß wird. Gesellschaftlich hat sich die vernutzte Arbeitskraft und damit das Wertvolumen reduziert und der Selbstwiderspruch verschärft: „Wir haben also das offenkundige Paradox, dass die Produktivität, je stärker sie zunimmt, noch weiter zunehmen muss, damit vermieden wird, dass das Profitvolumen abnimmt“ (2009, 18).
  2. Renteneinkommen: Durch Reklamation des „geistigen Eigentums“ (Copyright, Patente, Markennamen, Geschmacksmuster etc.) an Produkten bilden sich Wissensmonopole heraus. Das „immaterielle Kapital“ (2004, 42ff) kann sich einen überproportionalen Anteil des gesellschaftlichen Wertvolumens als Monopolrente aneignen. Investitionen solcher „symbolischen Monopole“ (ebd., 49ff) fließen vorwiegend in die Schaffung und Sicherung ihrer Wissensmonopole sowie in Werbung und Marketing, die aus der Perspektive des Gesamtkapitals jedoch unproduktive Ausgaben darstellen und keinen zusätzlichen Wert schaffen: „Der Anteil der Rente am Preis einer Ware kann zehn-, zwanzig- oder fünfzigmal höher sein als ihre Herstellungskosten“ (2009, 23). Nur innerhalb des gesellschaftlich produzierten Wertvolumens findet eine sektorale und geografische Umverteilung statt.
  3. Zukunftsverwertung: Der Boom der Finanzsphäre „spiegelt in erster Linie die erhofften künftigen Gewinne. Die Immaterialität des intellektuellen Kapitals eignet sich am besten dazu, als Versprechen unbegrenzter künftiger Märkte für nicht schätzbare Waren zu funktionieren“ (2004, 47). Die „Masse der fiktiven Kapitale“ ist „von der Realökonomie losgelöst“ (ebd.) und „hält sich mit substanzloser Geldvermehrung über Wasser“ (ebd., 48). Die fortwährende Schöpfung fiktiven immateriellen Kapitals durch Schaffung neuer Finanzprodukte bedeutet faktisch einen Zugriff auf zukünftige (erhoffte) Wertproduktion.[3] Die Umverteilung des gesellschaftlichen Wertvolumens besitzt also nicht nur eine sektorale und geografische, sondern auch eine zeitliche Dimension. Der vorzeitige Zugriff auf zukünftige Verwertung bedeutet tatsächlich Akkumulation von Krisenpotenzial: „Gigantische Finanzblasen können sich auf dieser Grundlage schnell aufblähen und ebenso schnell zerbersten“ (2001, 4).

Mit der Eigentums-These verfolgt Gorz die Frage, ob Wissen nicht qua Natur Gemeingut sein müsse und sich daher der Verwertung und dem Privateigentum entziehe. So einfach ist es jedoch nicht, stellt Gorz fest. Er unterscheidet „instrumentelles Wissen“, das die Produktivkraft der Arbeit steigert und insofern zur Wertproduktion beiträgt (auch wenn der Wert dadurch absolut sinkt, vgl. erste These), von „Wahrheitswissen, Schönheitswissen und Weisheitswissen“ (2004, 62), das keinen Wert schaffe, aber einen „Eigenwert“[4] besitze. So sei das wertschöpfende instrumentelle Wissen Quelle von Reichtum und Mittel zur Profitproduktion, während das eigenwertige Wissen als solches Reichtum und somit Selbstzweck darstelle. Nur ersteres habe seine Funktion im Rahmen des Privateigentums, während letzteres dazu tendiere, Gemeingut sein zu wollen. Gleichzeitig müsse das Kapital danach streben, das selbstzweckhafte Wissen seinem eigenen Zwecken unterzuordnen. So entstehe ein weiterer Widerspruch: „Wissen … gehört genauso wie die anderen menschlichen Fähigkeiten und wie Gesundheit, Leben und Natur … zu den nicht messbaren Reichtümern, die für das Warenproduktionssystem unabdingbar sind, aber nicht gemäß seiner Logik und seinen Methoden produziert werden können“ (ebd., 63). Das Kapital eignet sich das eigenwertige Wissen an, das es nicht selbst schöpfen kann: „Die Ware verkleidet sich in einen Eigenwert, um sich dem Wettbewerb zu entziehen und dem Verfall ihres Tauschwertes, ihrer Wertsubstanz. Sie bemächtigt sich eines gratis zur Verfügung stehenden wertlosen Reichtums. Und indem sie ihn geldlich verwertet entwertet sie seinen Eigenwert.“ (Briefe 2004). Gorz schließt nun umgekehrt: „Eine authentische Wissensökonomie wäre ein Wissenskommunismus, in dem sich Tausch- und Geldbeziehungen erübrigen“ (2004, 11).

Mit der Selbstentwicklungs-These versucht Gorz die subjektiven Momente des Wissenskommunismus zu begreifen. Er unterscheidet zwei Ökonomien, die der „Produktion von [abstraktem] Reichtum“ (ebd., 69), und eine zweite unsichtbare Ökonomie, „die untauschbaren, unbesitzbaren, unteilbaren, unverbrauchbaren Lebensreichtum“ (ebd., 64) schöpft und proklamiert: „Allein in dieser anderen Ökonomie, die auch das Andere der Ökonomie ist, lernen wir uns gegenseitig selbst zu humanisieren und eine Kultur des Gemeinsinns und Gemeinwesens hervorzubringen“ (ebd.). Während in der ersten Ökonomie das Verhältnis von Arbeit und abstraktem Reichtum instrumentell ist, weil es in der Tätigkeit nicht um die jeweils eigene Selbstentfaltung, sondern um einen fremden Zweck geht, existiert der Unterschied zwischen Tätigkeit und seinem intendierten Ziel in der zweiten Ökonomie nicht: „Die Entfaltung der menschlichen Fähigkeiten ist zugleich das Ziel der Handlungen und die Handlung selbst“ (ebd., 69). Folglich: „Der Unterschied zwischen produzieren und sich selbst produzieren bzw. an sich arbeiten verschwindet letztlich“ (ebd.). Diese Art der uninstrumentellen, selbstzweckhaften Tätigkeit könne dann auch nicht mehr als „Arbeit“ gelten. So definiere „Marx den Kommunismus als ›Beseitigung der Arbeit‹, die ›allen Schein der Selbstbetätigung verloren‹ hat und bei der die ›alles wirklichen Lebensinhalts beraubten‹ Individuen zu ›abstrakten Individuen‹ geworden sind“ (ebd., 22). Schließlich problematisiert Gorz auch den Ökonomiebegriff selbst und erkennt: „Die unsichtbare zweite Ökonomie, die eine Nicht-Ökonomie ist, greift über … in die sich mit Eigenwerten verkleidende erste Ökonomie.“ (Briefe 2005).

Alle drei Thesen sind aufeinander bezogen, und die zentrale verbindende Argumentationsfigur ist die der „Unmessbarkeit des Werts“ in der Wissensökonomie. Er argumentiert, dass „Wissen … nicht in einfache, abstrakte Einheiten übersetzt und nach solchen bemessen werden“ könne, was folglich zur „Krise des Wertbegriffs“ führe. Wissen umfasse verschiedenartige Fähigkeiten „ohne gemeinsamen Maßstab“ (2004, 31). Und weiter: „Die Unmessbarkeit der Arbeit führt unvermeidlich zur Unmessbarkeit des Wertes. (…) Und die Krise der Bemessung des Wertes stellt das Wesen des Wertes in Frage und folglich das System von Äquivalenzen, das den Warentausch regelt“ (ebd., 32).[5] Gorz verweist auf den Marx der Grundrisse, demzufolge „die Arbeitszeit … einziges Maß und Quelle des Reichtums“ (1858, 601) bleibt und interpretiert dabei „Maß“ in einem engen quantitativen Sinne. Empirisch fallen ganz offensichtlich die aufgewendete Arbeitszeit und der erzielte Gewinn für viele Waren beim Verkauf auseinander – Gorz denkt hier etwa an Softwareproduzenten wie Microsoft oder an Firmen wie Nike, die selbst gar nichts mehr produzieren, sondern nur noch eine Marke lizensieren. Gorz schließt, dass es sich bei den Erträgen um eine Monopolrente handeln müsse. Diese jedoch „entspricht nicht der Schöpfung eines Mehrwerts. Sie verteilt die Gesamtmasse des Werts um, zugunsten der rentenorientierten Unternehmen und auf Kosten der anderen, sie erhöht diese Masse nicht“ (2009, 23). Doch hat dieser Umverteilungseffekt mit der durch das Wissen aufgetretenen „Unmessbarkeit des Wertes“ zu tun? In gewisser Weise, jedoch anders als Gorz es interpretiert, denn Wert ist immer unmessbar.

Die Schwierigkeiten werden erklärbar, wenn man den Wert konsequent als „gesellschaftliches Verhältnis“ (Marx 1890, 71) begreift. Nicht das einzelne Unternehmen produziert „seinen Wert“, den es dann am Markt realisiert, sondern das einzelne Unternehmen produziert stets in Relation zu allen anderen Unternehmen und kann nur in Bezug auf das gesellschaftlich und somit objektiv gültige Produktivitätsniveau einen Anteil an der insgesamt verausgabten abstrakten Arbeit als Wert realisieren. Wäre es anders, müsste das Unternehmen einfach nur mehr Arbeit je Ware aufwenden, um mehr Wert zu realisieren. Genau das ist aber nicht der Fall, Maßstab ist nicht die Arbeitszeit der einzelbetrieblich produzierten Ware, sondern der gesellschaftliche Durchschnitt. Gelingt es hingegen die Produktivität über das gesellschaftliche Maß hinaus zu steigern und weniger Zeit je Ware aufzuwenden, dann kann bei gesunkenen Kosten und sonst gleich bleibenden Bedingungen trotzdem der Durchschnittswert realisiert werden, was sich als Extraprofit in der Bilanz niederschlägt – wie bereits in der ersten These erläutert. Kann Wissen nun genutzt werden, um eben jene Produktivitätssteigerung zu erreichen, so ist es gar nicht nötig, jenes eingebrachte Wissen zu messen, und es ist tatsächlich – da hat Gorz recht – auch gar nicht möglich. Doch Gorz besteht darauf: „Die kapitalistische Ökonomie ist als ‚Kalkülisierung‘ der gesellschaftlichen (Waren-)Verhältnisse auf die Welt gekommen. Alles muss berechenbar, mathematisierbar, quantifizierbar, in abstrakten Formeln, Gleichungen denkbar gemacht werden. Warenaustausch, Kommerz brauchen einen einheitlichen Maßstab für die Messung der Äquivalenzverhältnisse, zur Bestimmung der Gleichwertigkeit (Äquivalenzverhältnisse) verschiedener Mengen verschiedenwertiger Waren“ (Briefe 2004). Hier konnten wir uns nicht einig werden.

Sehr einig waren wir uns hingegen bei der Frage des überschießenden Moments und der Keimformen eines Neuen: „Der Wissenskapitalismus erzeugt in sich und aus sich heraus die Perspektive seiner möglichen Aufhebung. In seinem Innersten keimt ein kommunistischer Kern, eine ‚real existierende anarcho-kommunistische Ökonomie des Gebens‘, wie sie Richard Barbrook nannte“ (2004, 76). Als „Dissidenten des digitalen Kapitalismus“ (ebd., 70) erkennt Gorz die Freie Softwarebewegung und beschreibt ihre doppelte Funktionalität: „Es handelt sich um eine Praxis, die auf höchstem Niveau von Menschen entwickelt wird, ohne deren kreativen Kommunismus der Kapitalismus nicht mehr auskommen könnte.“ (ebd., 76). Nebeneinander und ineinander existieren sowohl das Moment des Teilens, Gebens und freien Kooperierens wie auch das Moment der kapitalistischen Instrumentalisierung, Aneignung und Verwertung der Resultate des Teilen, Gebens und Kooperierens. Jahre später hat David Graeber die These vom „elementaren Kommunismus als Rohstoff des Zusammenlebens“ (Graeber 2012, 105) und darauf aufbauendem Kapitalismus formuliert. Hier drückt sich ein anderes Verständnis historischer Transformationen aus als in der traditionellen Arbeiterbewegung, denn Kommunismus wird nicht als politische Form begriffen, die durch Eroberung der Macht erreicht werden könne, sondern als neue Produktionsweise, die in der kapitalistischen entsteht, sich dieser aber schließlich als überlegen erweist. Der Kapitalismus erzeugt die Voraussetzungen, die er in den eigenen Formen nicht mehr einlösen kann: „Der Kapitalismus ist … in der Entwicklung seiner Produktivkräfte an eine Grenze gestoßen, jenseits welcher er sich selbst überwinden müsste, um sein Potenzial auszunützen. Der potenzielle Akteur dieser Überwindung ist das ‚Humankapital‘ selbst, insofern es sich vom Kapital zu emanzipieren sucht“ (2004, 68).

Heute würde André Gorz über die commonsbasierte Peer-Produktion (Benkler 2006) sprechen, die die Prinzipien der Freien Softwarebewegung verallgemeinert hat und sich weltweit entfaltet. Christian Siefkes (2008) hat anschließend an Benkler drei Merkmale herausgearbeitet, die die Peer-Produktion von der Warenproduktion unterscheidet:

  1. Beitragen statt Tauschen: Warenproduktion erfolgt in getrennter Form auf Grundlage des Privateigentums, was notwendig den Warentausch (ex post) nach sich zieht. Commons-Produktion hingegen beruht auf Beiträgen der Menschen, denen der Erfolg des Projekts wichtig ist. Die Vermittlung unterschiedlicher Bedürfnisse findet vor (ex ante) der Produktion statt. Während Benkler das Potenzial auf den Bereich nicht-rivaler Informationsgüter beschränkt sieht, verallgemeinert Siefkes das Prinzip auch auf die Produktion stofflicher Güter. Die Entwicklung von Open Hardware bis hin zu Open Everything gibt Siefkes recht.
  2. Freie Kooperation statt Kommando: Der Gegensatz zur Konkurrenz ist nicht bloß die Kooperation, sondern die freie Kooperation, denn auch in der kapitalistischen Produktion wird kooperiert. Nur wird hier die Kooperation erzwungen – entweder personal durch den Chefbefehl oder durch das fremde Kommando des Marktes. In der freien Kooperation kann niemand zu einer Tätigkeit gezwungen und die Kooperation kann auch jederzeit verlassen werden. Dennoch gibt es sehr wohl Strukturen, die jedoch von den Beteiligten selbst festgelegten Regeln und Prinzipien der Selbstorganisation folgen.
  3. Besitz statt Eigentum: Die Exklusionslogik kapitalistischer Produktion – sich in der Konkurrenz auf Kosten anderer durchzusetzen – beruht auf dem Privateigentum. Die Inklusionslogik in der commonsbasierten Produktion – die anderen sind die Voraussetzung für die eigene Entfaltung und die Erreichung der Ziele – basiert auf der konkreten Verfügung über die relevanten Produktionsmittel. Diesen Unterschied von abstraktem Eigentum und konkretem Besitz kennt auch das bürgerliche Recht. Er ist die Grundlage dafür, dass nicht „erst enteignet und dann sozial produziert“ wird, wie es sich die traditionelle Arbeiterbewegung vorstellte, sondern umgekehrt soziale Peer-Produktion auch unter den Bedingungen des Privateigentums möglich ist – vorausgesetzt, die konkrete praktische Verfügung über die Mittel ist allen erlaubt. Diese Funktion haben etwa freie Lizenzen[6] oder andere Nutzungsverabredungen.

Die commonsbasierte Peer-Produktion konnte hier nur kurz angerissen werde. André Gorz hat nur die Anfänge erlebt und hätte sich mit großem Enthusiasmus auf die neuen Entwicklungen gestürzt, denn er hätte das Kapitalismus überschreitende Potenzial erkannt. Bereits 2001 schrieb Gorz: „Gegen den Wissenskapitalismus sind nicht blauäugige Utopisten ins Feld gezogen, sondern Angehörige der ‚Wissenselite‘, d.h. Leute, die über die wichtigsten Kenntnisse und Fähigkeiten verfügen. Ein radikal-libertärer Antikapitalismus kommt ‚von oben‘ her, ohne jeglichen Machtanspruch, von Inhabern des ‚Wissenskapitals‘, das sie im Namen der Freiheit dem Zugriff des Geldkapitals entziehen wollen. Sie verfolgen dasselbe Ziel, das früher im Klassenkampf erreicht werden sollte: nämlich ‚die kollektive Aneignung der Produktionsmittel‘, die Sozialisierung der Produktivkräfte. Sie säen die Samen eines neuen Links-Radikalismus, der selbstverständlich nur Grund gewinnen kann, wenn er – wie in Seattle[7] – alle diejenigen verbinden und verbünden kann, die gegen die vom globalen Finanzkapital betriebene Globalisierung einen globalen Kampf für eine alternative Globalisierung führen“ (2001, 24).

Literatur

Barbrook, Richard (1998), The Hi-Tech Gift Economy, in: New Times, London. Erneut veröffentlicht 2005 in First Monday.

Benkler, Yochai (2006), The Wealth of Networks, New Haven/London: Yale University Press.

Gorz, André (2001), Welches Wissen? Welche Gesellschaft? Textbeitrag zum Kongress „Gut zu Wissen“, in: Heinrich-Böll-Stiftung (2002, Hg.), Gut zu Wissen, Münster: Westfälisches Dampfboot.

Gorz, André (2003-2007), Briefe an Stefan Meretz, Veröffentlichung in Vorbereitung.

Gorz, André (2004), Wissen, Wert und Kapital. Zur Kritik der Wissensökonomie, Zürich: Rotpunkt.

Gorz, André (2009), Auswege aus dem Kapitalismus. Beiträge zur politischen Ökologie, Zürich: Rotpunkt.

Graeber, David (2012), Schulden. Die ersten 5000 Jahre, Stuttgart: Klett-Cotta.

Marx, Karl (1858), Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, in: MEW, Bd. 42 (1983), Berlin: Dietz, S. 15-770.

Marx, Karl (1890), Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band, von F. Engels in Hamburg herausgegebene Ausgabe, in: MEW, Bd. 23 (1983), Berlin: Dietz.

Merton, Robert K. (1942), Die normative Struktur der Wissenschaft. Aufsätze zur Wissenschaftssoziologie, in: Ders. (1985), Entwicklung und Wandel von Forschungsinteressen. Aufsätze zur Wissenschaftssoziologie, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 86–99.

Anmerkungen

[1] „Ein gutes Drittel habe ich auf deutsch neu geschrieben u. mit deiner Hilfe das Kapitel, in dem es um Wissenskommunismus u. Freie Softwarebewegung geht, ergänzt“ (Briefe 2004). Zitierweise im folgenden: „Briefe“ plus Jahresangabe beziehen sich auf meinen Briefwechsel mit André Gorz 2003 bis 2007, Jahresangaben ohne „Briefe“-Zusatz auf die Werke von André Gorz. Andere Autoren werden mit Namen genannt.

[2] Später schreibt er: „Der Wissenskapitalismus ist nicht nur ein krisenanfälliger Kapitalismus, er ist die Krise des Kapitalismus selbst“ (2004, 66).

[3] „…der (fiktive Börsen-) Wert des immateriellen Kapitals ist bestimmt durch die erhoffte zukünftige Rendite, die selbst keinen berechenbaren monetären Wert hat: sie ist spekulativ.“ – „Zukünftiges Wachstum u. zukünftige Gewinne werden als fiktives Kapital notiert, der Kapitalismus ‚gedeiht‘ momentan dadurch, dass er zukünftige Arbeit u. Mehrwertschöpfung in Zirkulation setzt“ (Briefe 2005).

[4] Den Begriff des subjektiven Eigenwerts übernimmt Gorz von Gabriel Tarde („valeur intrinsèque“) und setzt ihn bewusst gegen den objektiv-ökonomischen Wert: „Sinn, Erkenntnis, Wahrheit, literarische Qualitäten (eines Buches, z.B.) dürfen keinen Tauschwert haben, Tauschbarkeit ist die Negation des Eigenwertes“ (Briefe 2004).

[5] „Die Krise der Messbarkeit untergräbt das epistemische Fundament des Kapitalismus. Der Wert der Waren ist nicht mehr berechenbar, wenn die für ihre Produktion verausgabte Arbeitskraft nicht mehr messbar ist“ (Briefe 2004).

[6] Freie Lizenzen basieren auf dem Urheberrecht, der rechtsförmigen Implementation des Konzepts des geistigen Eigentums. Die Exklusivverfügung des Urhebers wird hierbei jedoch nicht genutzt, um andere von der Verfügung über das Immaterialgut auszuschließen (wie eigentlich rechtlich intendiert), sondern um eine offene Verfügbarkeit für alle festzuschreiben.

[7] Proteste der globalisierungskritischen Bewegung 1999 in Seattle führten zum Abbruch der 3. WTO-Konferenz.

Einen Kommentar hinzufügen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Entdecke mehr von keimform.de

Jetzt abonnieren, um weiterzulesen und auf das gesamte Archiv zuzugreifen.

Weiterlesen