Ubuntu-Philosophie

[(Teil-)Beitrag zu dem neuen Commons-Buch (Commons – Für eine neue Politik jenseits von Markt und Staat, Hg. Silke Helfrich/Heinrich-Böll-Stiftung); Lizenz: CC BY-SA. Beide Teile gibt’s in einem PDF. There is also an English version.]

Die strukturelle Gemeinschaftlichkeit der Commons

Gemeingüter sind so vielfältig wie das Leben, und dennoch teilen alle Mitwirken­den, alle »Commoners«, gemeinsame Grundüberzeugungen. Um diese verstehen zu können, muss man sich klarmachen, was Gemeingüter praktisch bedeuten, welche Funktion sie haben und schon immer hatten. Das wiederum schließt ein, dass wir uns mit den Menschen befassen, denn Gemeingüter sind eben nicht nur »Güter«, sondern auch eine soziale Praxis, in der gemeinsam Ressourcen und Gü­ter genutzt, erzeugt und bewahrt werden. Es geht also um die Commons-Praxis, das »Commoning« – und damit um uns. Die Debatte um die Commons ist auch eine um Menschenbilder. Treten wir deshalb einen Schritt zurück, um mit der all­gemeinen Frage nach den Lebensbedingungen zu beginnen.

Menschen finden ihre Lebensbedingungen nicht einfach vor, sondern sie stel­len sie aktiv her. Dabei steht jede Generation auf den Schultern ihrer Vorfahren. Das Neuschaffen und – wenn möglich – verbesserte Weitergeben des Geschaffe­nen an die folgenden Generationen war seit jeher Bestandteil des Handelns der Menschen. Die historischen Formen, in denen dies geschah, haben sich allerdings stark gewandelt. Aus heutiger Perspektive besonders markant ist der Übergang zum Kapitalismus, zur Marktwirtschaft. Es gab zwar auch vorher Märkte, aber die­se hatten keine derartig zentrale Funktion wie im Kapitalismus. Sie geben den Ton an. Sie bestimmen die Regeln des weltweiten Austauschs. Sie organisieren rund um den Globus die Vermittlung von Produzenten und Konsumenten. Es gibt man­che, die wollen selbst in den Märkten Commons-Praktiken erkennen, schließlich ginge es dort auch darum, gemeinschaftlich Ressourcen zu nutzen und zwar nach Regeln, die Märkten ein möglichst uneingeschränktes und unmanipuliertes Funk­tionieren ermöglichen. Märkte sind jedoch keine Commons, und es lohnt sich, die Begründung dafür kennenzulernen.

Märkte werden zwar von Menschen gemacht, aber dieses Machen geschieht unter der Kontrolle der Märkte und nicht umgekehrt. Es ist kein Zufall, dass Märk­te wie handelnde Subjekte beschrieben werden. In der Wirtschaftspresse kann man täglich lesen, was Märkte so alles »tun«: Sie entscheiden, bevorzugen und be­strafen. Sie fühlen sich nervös, verlieren das Vertrauen oder reagieren vorsichtig. Wir handeln unter der Regie der Märkte und nicht umgekehrt, selbst ein Blick auf die bereits angesprochenen Regeln macht das deutlich. Staatlich erlassene Regeln erkennen zunächst die grundlegenden Marktprinzipien an. Sie sind nur »Zusätze«, die das Wirken der Märkte in die eine oder andere Richtung lenken sollen. Die eine Richtung kann bedeuten, die Marktwirkungen so zu begrenzen, dass bestimm­te soziale Ziele erreicht werden. Der vermeintliche Gegenentwurf einer zentral geplanten Wirtschaft entpuppt sich so gesehen nur als rigorose Variante der Markt­lenkung. Die andere Richtung kann bedeuten, die Regeln so zu gestalten, dass die Marktmechanismen voll zur Geltung kommen, in der Hoffnung, dass am Ende allen am besten gedient ist, wenn die Einzelnen ihre eigennützigen Interessen ver­folgen. Die Richtungsunterschiede entsprechen den verschiedenen ökonomischen Schulen. Sie alle gehen davon aus: Märkte wirken, und es kommt darauf an, ihre Wirkung zu optimieren. Ihnen gemeinsam ist, dass sie die Märkte selbst nicht hinterfragen. Märkte werden daher mitunter auch als »zweite Natur« bezeichnet (Fisahn 2010), und Natur und ihre Gesetze können nun tatsächlich nicht in Frage gestellt werden, man kann sie nur anwenden.

Die Quasi-Naturgesetzlichkeit der Märkte und damit der Wirtschaft hat Karl Polanyi dazu gebracht, von einer Umkehrung des Verhältnisses von Sozialem und Ökonomischem zu sprechen: »Anstatt einer Einbettung der Ökonomie in soziale Verhältnisse, sind die sozialen Verhältnisse in das ökonomische System eingebettet« (Polanyi 1957: 57). Die damit verbundene Verselbstständigung von etwas, das Menschen machen, hat es vor dem Kapitalismus nur in religiösen Kulthandlungen gegeben. Gott und Markt können wir nicht steuern, nur gnädig stimmen, vielleicht anflehen, manchmal austricksen, aber niemals unter Kontrolle bekommen. Die Erforschung der göttlichen Ratschlüsse übernehmen im Falle der Märkte die Wirt­schaftsauguren aller Art. Sie sind Interpreten des Unabwendbaren.

Märkte sind keine Commons – und umgekehrt. Grundprinzip der Commons ist, dass Menschen, die die Commons machen, sich die Regeln selber geben. Aber können sie das? Ist es nicht besser, auf einen zwar unsichtbaren und fremden, aber dafür allgemeinen Mechanismus zu vertrauen, anstatt zu versuchen, Regeln selbst zu bestimmen? Damit sind wir beim Kern der unterschiedlichen Menschenbilder: Die Marktverfechter gehen vom Homo oeconomicus aus, vom nutzenmaximieren­den Individuum.1 Dies ist ein vereinzelter Mensch, der zunächst nur an sich und seinen Nutzen denkt. Erst im Austausch auf dem Markt wird er soziales Wesen. Die Sozialität bestimmt dieser Vereinzelte nun jedoch nicht selbst, sondern – wir haben es oben gesehen – er gibt sich dem Wirken der Märkte hin und versucht aus ihnen seinen Vorteil zu ziehen. Um es ganz deutlich zu sagen: Der Vereinzelte unterstellt sich einer anonymen, fremden Macht, indem er sich mit ihr gemein macht und ihre Logik verinnerlicht. Er hat dann die Möglichkeit, seine Individuali­tät durch Konsum zu erschaffen und zu bestätigen. Konsum ist auch das Medium, in dem Geselligkeit stattfindet. Märkte sind also nicht nur Orte der Verteilung, sondern auch der nachträglichen Verbindung der Menschen. Da Konsum keine wirkliche Gemeinschaftlichkeit schafft und sich viele selbst in der Gruppe noch als vereinzelt empfinden, bleibt als Ausweg nur mehr Konsum. Konsum schafft so immer mehr Konsum, was ideal zum Zwang der Produzenten passt, den Konsu­menten immer mehr zu verkaufen, und zudem hervorragend den Zwang der kapitalistischen Wirtschaft bedient, ständig zu wachsen. Aus der Vereinzelung können wir uns jedoch niemals »freikaufen«. Märkte basieren auf »struktureller Verein­zelung« und schaffen diese fortwährend neu.

Die strukturelle Vereinzelung bedeutet nicht, dass wir Menschen nicht auch zusammenkommen oder kooperieren. Doch auf Märkten hat Kooperation stets den bitteren Beigeschmack der Konkurrenz. Wir kooperieren, um uns in der Kon­kurrenz besser behaupten zu können. Unter den Bedingungen der Konkurrenz bedeutet jede Kooperation auf der einen Seite einen Ausschluss auf der anderen Seite.

Der Erfolg der einen Firma ist der Misserfolg einer anderen. Der Exportüberschuss eines Landes ist das Handelsbilanzdefizit eines anderen. Eine erfolgreiche Arbeits­platzbewerbung bedeutet die Ablehnung aller anderen Bewerber. Die Greencard des einen ist die Abschiebung des anderen. Diesen Aspekt der Märkte will ich »strukturelle Exklusion« nennen. Beide Aspekte, strukturelle Vereinzelung und Exklusion, durchziehen wie ein feines Gespinst unser Handeln, Denken und Fühlen. Sie bestimmen die Normalität des Alltags. Wenn ein Fisch im Glas fort­während im Kreis schwimmt und dabei durch einen antrainierten Automatismus nicht an die Grenzen des Glases stößt, kann er sich in der Freiheit eines Ozeans wähnen. Um die strukturelle Vereinzelung und Exklusion aushalten zu können, brauchen wir Orte und Formen der Kompensation. Neben dem bereits genannten Konsum spielen dabei die Familien und andere soziale Beziehungen eine zentrale Rolle. Wir können es immer wieder beobachten: Menschen, die aus ihren sozialen Beziehungen herausfallen, kommen schnell auch real in eine Situation der Vereinsamung und Ausgeschlossenheit.

Die strukturelle Vereinzelung und Exklusion ziehen eine weitere Verhaltens­weise nach sich, die ich »strukturelle Verantwortungslosigkeit« nenne. Kaum einer will andere ausgrenzen, kaum einer will, dass andere die Nachteile des eige­nen Vorteils ausbaden müssen – und dennoch geschieht es. Vereinzelung und Getrenntheit auf Märkten bedeutet auch, dass wir nicht überschauen können, was ein Kaufakt an Konsequenzen zeitigt. Vielleicht haben wir einmal davon gehört, dass Menschen im Kongo unter extremen, menschenfeindlichen Bedingungen Coltan aus dem Boden holen, aus dem das Metall Tantal für die Handy-Produktion gewonnen wird. Verzichten wir deswegen auf Handys? Auch über Kinderarbeit bei der T-Shirt-Herstellung haben wir schon gelesen, doch achten wir bei jedem Kauf darauf? Oder von der Vergiftung der Umwelt bei der Aluminiumproduktion, doch wissen wir überhaupt, in welchen Produkten Aluminium steckt? Dies sind nur einige der unzähligen Beispiele, die zeigen, dass es unter Marktbedingungen nahezu unmöglich ist, individuell verantwortlich zu handeln. Geld kann die Ar­beits- und Umweltbedingungen bei der Produktion nicht abbilden, es ist in dieser Hinsicht ein extrem schlechtes Kommunikationsmittel. Alle Versuche, die Folgen nachträglich einzudämmen, kommen einer Sisyphos-Aufgabe gleich, die nicht sel­ten scheitert – denken wir an die Begrenzung der globalen CO2-Emissionen.

Doch es geht auch anders. Das zeigen die Commons. Hier sind die Menschen miteinander verbunden. Sie nutzen gemeinsam Ressourcen, überlegen sich Re­geln, um diese zu erhalten oder zu vermehren, und finden dabei die sozialen For­men, die am besten passen. Ausgangspunkt sind stets die Bedürfnisse der Betei­ligten, und die sind immer verschieden. Das Menschenbild geht folglich nicht von einer abstrakten Gleichheit aus, sondern von der konkreten Besonderheit der Indivi­duen. Mit einer reichen Individualität bringen sich die Menschen in das Commo­ning ein. Somit liegt auf der Hand: Wenn sowohl Ressourcen wie Produkte ver­schieden sind und wenn auch die Beteiligten besondere Individuen bleiben, dann können uniforme Regeln nicht funktionieren. Das ist aber auch kein Problem, denn im Unterschied zum Markt kommen die Regeln nicht als fremde von außen, sondern werden als eigene selbst gemacht. Das ist nicht einfach und kann auch schiefgehen, aber es gibt unendlich viele Beispiele dafür, dass sie funktionieren, wenn bestimmte Gelingensbedingungen beachtet werden.2

Selbstorganisation funktioniert, wenn sie tatsächlich selbstbestimmt stattfindet. Ein wichtiger Aspekt bei der Regelfindung ist deshalb die Berücksichtigung der unterschiedlichen Bedürfnisse der Beteiligten – sei es im Konsens oder im Kom­promiss. Das Empfinden von Fairness ist dafür entscheidend. Fairness ist etwas anderes als formale Gerechtigkeit: Es ist eine Vereinbarung, gegen die niemand intervenieren würde. Auch das ist bei Märkten anders. Hier herrscht der äquivalente Tausch, der formal gerecht ist, da bei idealem Markt gleiche ökonomische Werte den Besitzer wechseln. Doch erstens gilt dies nur im Mittel, im Einzelfall geht es ungerecht oder gar betrügerisch zu. Wir erinnern uns: Wer seinen Vorteil maximiert, tut dies auf Kosten des Anderen, der die Lasten zu tragen hat. Zweitens bedeutet äquivalenter Tausch, dass sich unterschiedliche Produktivitäten zwar in gleichen Preisen, aber real in unterschiedlichen Aufwänden ausdrücken, die er­forderlich sind, um den gleichen Preis zu erzielen. Entwicklungsländer müssen für den gleichen monetären Ertrag mehr schuften als Industrieländer. Ist das fair? Nein. Der Markt ignoriert Unterschiede, Commons berücksichtigen sie. Mehr noch: Der Markt verdrängt Unterschiede, Commons leben von ihnen. Wenn einige wenige Reissorten den höchsten Profit erzielen, dann werden alle anderen Reis­sorten verdrängt. Commoners hingegen wissen: Verschiedenheit ist kein Mangel, sondern eine Qualität. Sie bedeutet mehr Kreativität, mehr Vielfalt, mehr Lern­möglichkeiten, mehr Lebensqualität.

Selbstorganisation kann auch scheitern. Sie scheitert oft dann, wenn sich frem­de Logiken in das Commoning einschleichen. Das kann auf sehr unterschiedliche Weise geschehen: Wenn etwa den Beteiligten eine begrenzte Ressource zu glei­chen Anteilen (formal gerecht) zur Nutzung zugänglich gemacht wird, kann dies vom Einzelnen durchaus als unfair empfunden werden. So kann z.B. die Ressour­ce minderer Qualität sein, oder die Beteiligten haben nachvollziehbar ein unterschiedlich großes Nutzungsbedürfnis. Formal gleiche Verteilung muss hier um weitere Kriterien angereichert werden, die zu berücksichtigen sind, bis alle ein Gefühl von Fairness haben. Sobald Fairness nicht beachtet wird, besteht die Ge­fahr, dass sich individuelle Strategien der Nutzenmaximierung durchsetzen. Dann bricht das Marktdenken in die Commons ein. Beginnt einer, seine individuellen Ziele auf Kosten anderer durchzusetzen, wird Fairness immer weiter zersetzt. An­dere reagieren genauso, eine Abwärtsspirale setzt ein, und am Ende scheitert die Selbstorganisation. Marktideologen wissen um diese Wirkung und setzen sie mit­ unter ein, um Commons zu zerstören. So wurde in Peru vorgeschlagen (und nicht nur dort), bisher gemeinschaftlich genutztes Land aufzuteilen und mit individu­ellen Eigentumstiteln versehen an die indigene Bevölkerung zu verteilen – selbst­verständlich formal gerecht.3 Mitglieder von Gemeinschaften sollten in isolierte nutzenmaximierende Einzelwesen verwandelt werden. Die indigene Bevölkerung hat diesen Plan zurückgewiesen, da sie ihre Lebensweise gefährdet sah.

Commons funktionieren nur, wenn alle einbezogen sind und niemand aus der Gemeinschaft herausfällt. Sie basieren auf Kooperation und erzeugen Koopera­tion. Sie ermöglichen verantwortliches Handeln und brauchen es auch. Commons und ihre soziale Praxis, das Commoning, repräsentieren eine »strukturelle Gemeinschaftlichkeit«. Das Menschenbild des Homo oeconomicus wird in Commons-Projekten praktisch widerlegt. Niemand muss irgendwie sein, um in Commons-Projekten mitzumachen, aber viele verändern sich, wenn sie es tun. Menschen können in Commons das leben, was sie eigentlich immer schon sind: gesellschaftliche Wesen, die gemeinsam ihre Lebensbedingungen erschaffen. Im Unterschied zur Marktlogik hat der Einzelne nichts davon, sich auf Kosten anderer durchzu­setzen. Ein zentraler Lernschritt im Commoning besteht darin, zu verstehen, dass die eigenen Bedürfnisse nur dann berücksichtigt werden, wenn die Bedürfnisse der anderen ebenfalls in den gemeinsamen Aktivitäten aufgehoben sind. Diesen Aspekt der Commons nenne ich »strukturelle Inklusion«. Die Ubuntu4-Philoso­phie der Völker der Zulu und Xhosa formuliert dies so: »Ich bin, weil du bist, und ich kann nur sein, wenn du bist.«

Genau besehen wird damit eine Selbstverständlichkeit ausgedrückt. Sie kommt uns deshalb so besonders vor, weil wir von Kindesbeinen an darauf trainiert sind, uns als Einzelne gegen andere durchzuschlagen.5 Selektion bestimmt unser Er­leben in der Schule, mit den Noten werden Lebenschancen zugewiesen. Selektion erfahren wir auf den Märkten, wenn wir unsere Arbeitskraft oder unsere Produkte verkaufen müssen. Selektion erfahren wir bei Krankheiten oder im Alter, wenn wir darum bangen, ob wir eine angemessene Pflege erhalten. Selektion ist das Mittel der strukturellen Exklusion der Marktlogik. Was »sich nicht rechnet«, fällt durch den Rost.

Nun kennen auch Commons ein »drinnen« und »draußen«, müssen also in irgendeiner Weise entscheiden, wer dazugehört und wer nicht. Von Elinor Ostrom wissen wir, dass eine solche Grenzziehung wichtig ist – zumindest bei rivalen Ge­meinressourcen.6 Da die Commons keiner ökonomischen Logik folgen, spielen jedoch ganz andere Kriterien als beim Markt eine Rolle. Das können etwa lokale Zugehörigkeit, geleistete Beiträge oder Überlegungen sein, die sich aus der Art der Nutzung der jeweiligen Commons ergeben. So ist ein freier Zugriff (»open access«) für eine nichtverbrauchende Nutzungsweise nichtrivaler Güter sinnvoll, um eine Unternutzung (mit Gefahr der Verwaisung) zu vermeiden. Eine verbrauchende Nutzungsweise bei rivalen Gütern hingegen erfordert andere Regeln, da hier nicht das Problem der Unternutzung, sondern der Übernutzung besteht. Entscheidend ist, welche Regeln von der Gemeinschaft als sinnvoll oder notwendig anerkannt werden. Hier ist die primäre Frage also nicht, was »sich rechnet«, sondern was die Commons und ihre Ressourcen so bewahrt, dass alle Beteiligten auf Dauer etwas davon haben. Die soziale Form ist an sich wertvoll, da die sozialen Beziehungen das entscheidende Mittel sind, um Konflikte zu lösen. Und die Konflikte sind so zu lösen, dass – wie dargestellt – alle das Empfinden von Fairness haben.

Commons sind daher im Gegensatz zu Märkten »strukturell verantwortungs­fähig«. Commoners können die sozialen Beziehungen selbstbestimmt gestalten, sie können somit verantwortlich handeln. Damit haben sie jedoch auch die Ver­antwortung, dies zu tun. In Commons können Zielkonflikte, die unterschiedliche Bedürfnisse ausdrücken, ausgetragen werden, bevor etwas getan wird. Beim Markt wird erst gehandelt, und dann werden die Folgen sichtbar. Der Markt ist selten fä­hig, unterschiedliche Bedürfnisse miteinander zu vermitteln und verantwortungs­volle Lösungen zu finden. Die widersinnigen Erscheinungen kennen wir alle. Die Straßen sollen gut ausgebaut und staufrei sein, aber bitte nicht vor der eigenen Haustür vorbei führen. Ökostrom soll die Atomkraft ablösen, aber die Windräder sollen das Landschaftsbild nicht stören. Die Meere sollen nicht leergefischt wer­den, aber der Fisch soll frisch und billig sein. Unterschiedliche Bedürfnisse und Ziele kämpfen gegeneinander um ihre Durchsetzung, und wer die größte Macht mobilisieren kann, setzt sich durch. Erst werden Fakten geschaffen, und dann wer­den die Folgen ausgebadet.

In Commons sind die Menschen in der Lage, unterschiedliche Bedürfnisse von vornherein zu vermitteln. Die Bauern sind in der Lage, sich über die gemeinschaftliche Nutzung der Weide vorab und immer wieder neu zu verständigen, so dass diese nicht übernutzt wird, Fischer können sich – anders als Nationalstaaten – auf nachhaltige Fangquoten einigen, freie Software-Projekte auf Prioritäten. Spannend wird es, wenn Bauern, Fischer und Software-Entwickler ein Commons-Projekt bil­den, wenn es tatsächlich um sehr unterschiedliche Ressourcen und Bedürfnisse geht. Und es geht noch weiter. Der Filmemacher Kevin Hansen drückt die über­greifende Verantwortung so aus: »Der Commons-Ansatz unterstellt von Haus aus Verantwortlichkeit und Rechte für alle. Niemand bleibt außen vor. Es ist die Ver­antwortung aller Commons-Treuhänder (tatsächlich meint das jede und jeden), verantwortlich zu sein – auch für jene, die nicht sprechen. […] [Dies] schließt […] nicht nur die jungen, älteren oder behinderten Menschen ein, die nicht für sich selber sprechen können. Es meint auch die Entrechteten, die Armen, die Indige­nen und andere Menschen, die traditionell keine bedeutende Stimme in Politik und Ökonomie haben.«7

Der Einschluss aller ist zwar prinzipiell und strukturell in der Logik der Com­mons angelegt, aber er setzt sich dennoch nicht automatisch durch, sondern muss bewusst umgesetzt werden. Die grundsätzlich gegebene Gestaltungsfreiheit be­deutet auch eine Gestaltungsnotwendigkeit. Das ist anders als bei Marktbeziehun­gen, wo die Regeln extern und uniform vorgegeben sind: Was sich rechnet, das gilt. Gemeinschaften müssen ihre Regeln, die auf die jeweilige Situation passen und für die beteiligten Menschen angemessen sind, selber finden. Dabei sind die Verlo­ckungen der Marktlogik, sich doch auf Kosten der anderen Vorteile zu verschaffen, allgegenwärtig. Doch auch ich bin für andere der Andere. Setze ich mich auf Kos­ten anderer durch, so werden es diese mir nachtun (oder mich ausschließen). Eine Abwärtsspirale setzt ein. Das kennen wir aus vielen anderen Zusammenhängen. Wer es schneller schafft, das Lohnniveau abzusenken, sichert die Arbeitsplätze. Wer stärker Sozialleistungen einspart, bekommt die nächsten Kredite zum Über­leben. Das ist die Logik der Märkte, bei der am Ende die meisten verlieren, und auch die Gewinner können nicht sicher sein, ob sie vielleicht morgen schon selbst zu den Verlierern gehören. Commons und ihre strukturelle Gemeinschaftlichkeit, Inklusion und Verantwortungsfähigkeit können wir nur gegen die Logik des Aus­schlusses durchsetzten. Das ist nie einfach, aber es lohnt sich.

Literatur

Fisahn, Andreas (2010): Die Demokratie entfesseln, nicht die Märkte, Köln.

Polanyi, Karl (1957): The Great Transformation, Boston.

Stefan Meretz (Deutschland) ist Ingenieur, Computerwissenschaftler und Autor und lebt in Berlin. Seine Veröffentlichungen konzentrieren sich auf commonsbasierte Peer-Produktion und die Entwicklung einer freien Gesellschaft jenseits von Markt und Staat. Er bloggt auf http://www.keimform.de.

Anmerkungen

1 | Vgl. dazu auch den Beitrag von Friederike Habermann in diesem Buch (Anm. der Hg.).

2 | Vgl. dazu den vorangehenden Beitrag von Martin Beckenkamp und die Designprinzi­pien von Elinor Ostrom (Anm. der Hg.).

3 | Siehe unter: http://womblog.de/peru-vorschlag-der-individuellen-landtitelvergabe-fr-indigene-stt-auf-kritik (Zugriff am 06.02.2012) sowie zur Landfrage den Bei­trag von Dirk Löhr in diesem Buch (Anm. der Hg.).

4 | Das Wort Ubuntu bedeutet in etwa Menschlichkeit, Nächstenliebe und Gemeinsinn.

5 | Über diesen Aspekt schreibt Friederike Habermann in diesem Buch (Anm. der Hg.).

6 | Der Begriff der »Rivalität« wird im Beitrag von Silke Helfrich ab S. 85 erklärt (Anm. der Hg.).

7 | Vgl. http://vimeo.com/25486271 (Zugriff am 06.02.2012).

[Update] LennStar schrieb eine schöne Zusammenfassung dieses Textes.

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