Herrschaftsverhältnisse – sachlich vs. personal

Ein Gespräch zwischen Andreas Exner und Stefan Meretz

Teil 2 (Teil 1)

[Erschienen in: Grundrisse 42/2012]

Stefan: Für mich ist die Unterscheidung von Struktur und Person sehr wichtig. Wenn ich von Exklusions-Logik spreche, dann meine ich damit die Struktur, in der ich mich gezwungen sehe, einer bestimmten Logik zu folgen, auch wenn ich als Person Exklusionen eigentlich ablehne. Wenn ich einen Job bekomme, bekommt ihn ein anderer nicht. Wenn ich ein Ware verkaufe, kann mein Konkurrent diesen Verkauf nicht realisieren etc. Das ist nicht vom persönlichen Wollen abhängig, sondern strukturelle Funktionslogik der Warengesellschaft.

Wenn du jetzt von ganz konkreten Menschen sprichst, die herrschen, dann ist das augenscheinlich gesehen richtig, analytisch jedoch nicht, wenn du diese Ausübung der Herrschaft schon für das Ganze nimmst. Die ausgeübte Herrschaft ist der ausgeführte strukturelle Zwang, dem wir alle unterliegen. Dabei dürfen wir „Zwang“ nicht als „Determination“ missdeuten, es gibt selbstredend Spielräume, wir können uns im Einzelfall auch verweigern. Doch im Durchschnitt müssen wir die Exklusions-Logik bedienen, weil wir mittels dieser unsere Existenz sichern. Die allermeisten strukturellen Ausschlüsse sind ohnehin wenig sichtbar. In der Regel weiß ich nicht, was ich mit dem Kauf einer Ware am anderen Ende der Welt anrichte.

Was es allerdings auch gibt, sind die Fälle von Herrschaft, wo Menschen sich mit ihrer Rolle identifizieren und darin gleichsam aufgehen. Indem sie die strukturellen Anforderungen als innere Zwänge wenden, versuchen sie aktiv unter Ausnutzung der Ausschluss-Logik ihre eigene Position zu behaupten. Wenn ich der Stärkere bin, dann funktioniert ja die Durchsetzung des Stärkeren tatsächlich – für mich auf Kosten der anderen. Dass darin aber auch ein Moment von Selbstfeindschaft liegt, kann man nur erkennen, wenn man die strukturellen Zwänge nicht personalisiert. Dies hat die Kritische Psychologie in ausgezeichneter Weise analysiert.

Ich kann also nicht zustimmen, wenn du davon sprichst, dass der „uneingeschränkte Geltungscharakter (des) Kommandos über den Menschen … das Wesen des Geld-Werts“ sei. Ich wähne mich mit Marx in Übereinstimmung, den Wert als gesellschaftliches Verhältnis zu begreifen und nicht als Ausdruck persönlicher Herrschaft. Um unsere Diskussion „nach vorne“ zu wenden, möchte ich gerne das folgende Zitat von Marx aus den „Grundrissen“ (S. 91) einbringen:

„Persönliche Abhängigkeitsverhältnisse (zuerst ganz naturwüchsig) sind die ersten Gesellschaftsformen, in denen sich die menschliche Produktivität nur in geringem Umfang und auf isolierten Punkten entwickelt. Persönliche Unabhängigkeit, auf sachlicher Abhängigkeit gegründet, ist die zweite große Form, worin sich erst ein System des allgemeinen gesellschaftlichen Stoffwechsels, der universalen Beziehungen, allseitiger Bedürfnisse und universeller Vermögen bildet. Freie Individualität, gegründet auf die universelle Entwicklung der Individuen und die Unterordnung ihrer gemeinschaftlichen, gesellschaftlichen Produktivität als ihres gesellschaftlichen Vermögens, ist die dritte Stufe.“

Neben der Bestätigung meiner Position, die ich darin zu erkennen vermag, ist mir vor allem die Perspektive der Aufhebung des Kapitalismus, die Marx hier formuliert, wichtig: Freie Individuen handhaben ihre gemeinschaftliche Produktivität als gesellschaftliches Vermögen. Ist das nicht genial von Marx? Er konnte es formulieren ohne ein praktisches Beispiel als Keimform vor Augen zu haben wie wir etwa mit der commons-basierten Peer-Produktion heute.

Wenn du nun die Art und Weise der Produktion, die Marx hier diskutiert, als Frage verstehst, der es „bloß (um) eine neue Form der Vermittlung unseres gesellschaftlichen Stoffwechsels“ ginge, dann unterschätzt du ihre Bedeutung. Es geht gewiss nicht „bloß“ – im Sinne von „nur“ – darum, aber wie wir unsere gesellschaftlichen Lebensbedingungen herstellen, wie wir produzieren, halte ich für die zentrale Frage. Diese wiederum ist identisch mit der Frage der gesellschaftlichen Vermittlung, denn gesellschaftliches Produzieren ist immer gleichzeitig ein Vermittlungsprozess.

Im Kapitalismus dreht sich die gesellschaftliche Vermittlung um den Wert, für die freie Gesellschaft, den Kommunismus, nimmt Marx nun an, dass sie sich um die „freie Individualität“ dreht. Diese Marxsche Herausforderung gilt es zu begreifen: Was bedeutet eine gesellschaftliche Vermittlung freier Individuen, die sich ihre gemeinschaftliche Produktivität als gesellschaftliches Vermögen unterordnen? Und was heißt das für die Aufhebung jeglicher Herrschaft?

Herrschaftsverhältnisse – jenseits von sachlich vs. personal?

Andreas: Lass mich den O-Ton von Marx aufgreifen. Er schreibt von „Verhältnissen“, die, wie er meint, sich „zuerst ganz naturwüchsig“ herstellen. Wir dürfen annehmen, dass er da den Feudalismus, vielleicht auch andere vor-kapitalistische Verhältnisse im Auge hat. Nun entstanden der Feudalismus und seine Vorläufer jedoch, das ist einmal der erste Punkt, nicht naturwüchsig, sondern ihrerseits aufgrund bestimmter gesellschaftlicher Verhältnisse. Was Europa betrifft gibt es dazu auch eine breite archäologische Evidenz.

Der zweite Punkt, den Marx in der Passage über die „erste Stufe“ betont, ist der „persönlicher Abhängigkeitsverhältnisse“. Gibt es so etwas überhaupt in dem Sinn, wie es mir anzuklingen scheint, als ein ungesellschaftliches rationales Machtverhältnis, das man im Extremfall genauso gut auf zwei Menschen reduzieren könnte, die auf einer Insel leben? Meinem Eindruck nach unterliegt Marx hier der von ihm selbst kritisierten Fiktion einer Robinson Crusoe-Welt. Abhängigkeitsverhältnisse im hier verhandelten Sinn sind niemals persönlich – wir sprechen ja nicht von vormodernen, noch nicht institutionalisierten Lehrer-Schüler-Beziehungen oder dem Verhältnis von Mutter und Kind. Abhängigkeitsverhältnisse erscheinen vielmehr in einer historisch spezifischen sozialen Form, die als solche genauso unpersönlich ist wie der Wert. Und sicherlich sind diese Abhängigkeitsverhältnisse, wie auch der Wert, gesellschaftliche Verhältnisse.

In den von dir zitierten „Grundrissen“, die ja der Marxschen Selbstverständigung dienten, kommt Marx selbst übrigens an späterer Stelle zu einer Problematisierung einer allzu strikten Trennung zwischen „persönlicher“ und „sachlicher“ Herrschaft. Er schreibt, dass die „Herrschaft der Verhältnisse (jene sachliche Abhängigkeit, die übrigens wieder in bestimmte, nur aller Illusion entkleidete, persönliche Abhängigkeitsverhältnisse umschlägt) in dem Bewußtsein der Individuen selbst als Herrschen von Ideen erscheint und der Glaube an die Ewigkeit dieser Ideen, d.h. jener sachlichen Abhängigkeitsverhältnisse, von den herrschenden Klassen, of course, in jeder Weise befestigt, genährt, eingetrichtert wird“ (S. 24). Zuvor noch stellt Marx fest: „Diese äußren Verhältnisse“ – womit er die sachlich, in Gestalt unter anderem des Geldes erscheinenden Herrschaftsverhältnisse meint, „sind so wenig eine Beseitigung der ‚Abhängigkeitsverhältnisse‘, daß sie nur die Auflösung derselben in eine allgemeine Form sind; vielmehr das Herausarbeiten des allgemeinen Grundes der persönlichen Abhängigkeitsverhältnisse sind.“

Der Markt funktioniert so ähnlich wie das Bentham’sche Panoptikum: eine Struktur, die scheinbar aus sich heraus Zwang ausübt – dieses Moment sprichst du sehr stark an, und es existiert für sich genommen tatsächlich. Nur möchte ich darüber nicht vergessen, dass, um im Bild zu bleiben, das Panoptikum Menschen braucht, die andere Menschen inhaftieren, ihnen Essensrationen bringen etc. Auch der Wächter muss persönlich und konkret präsent sein – das Panoptikum funktioniert sehr effizient, aber nicht ohne direkte Herrschaft. Es vervielfacht die Wirkung direkter Herrschaft. Schließlich muss so ein Gebäude auch gebaut und erhalten werden. Die Gegenüberstellung von „abstrakter“ oder gar „subjektloser“ Herrschaft und „konkreter“ oder „persönlicher“ Herrschaft erfasst, glaube ich, nicht die reale Funktionsweise von Markt, Kapital, Staat und Patriarchat.

Wie ich schon sagte, ist an Herrschaft und am Herrschenden nichts souverän. Was die psychologische Ebene angeht, so zeigt das für dich die Kritische Psychologie. Ich begreife es mit Hilfe der Psychoanalyse. Ich denke, wir kommen hier zum selben Ergebnis.

Lass mich noch auf den Punkt eingehen, den du ins Zentrum rückst: das Verhältnis zwischen Struktur und Person. Können wir diese beiden Kategorien strikt trennen? Die Individuen sind, denke ich, der Knotenpunkt sozialer Verhältnisse, die sie zugleich bilden. Das Individuum geht darin allerdings nicht auf. Dieser Umstand begründet die Emanzipation als Ziel und Möglichkeit. Was am Individuum in den Verhältnissen einer herrschaftlichen Gesellschaft aufgeht, ist die so genannte Charaktermaske, da passt der Begriff der Person, der ja ursprünglich Maskenträger bezeichnet, recht gut. Man könnte auch vom Gesellschafts-Charakter sprechen, wie Erich Fromm.

Ich würde daher Struktur und Individuum nicht einander entgegen setzen. Der Kapitalismus entstand nicht naturwüchsig, nicht ohne die bewussten Strategien der Herrschenden, und er besteht auch nicht naturwüchsig, aus sich selbst heraus fort.

Der Gesellschafts-Charakter ist die Vermittlung zwischen Struktur und Individuum. Das Konzept des Charakters ermöglicht uns, Herrschaft als eine gesellschaftliche Struktur zu analysieren, die zugleich in den und durch die Individuen wirkt. Ohne dieses Vermittlungsglied, so glaube ich, bleibt man entweder bei einem Strukturalismus, der die Verhältnisse des Kapitalismus ähnlich wie die Sachzwang-Ideologie der Neoliberalen mystifiziert und viele Momente seiner Funktionsweise unerklärt lässt, oder aber bei einer Personalisierung von Herrschaft, die du zurecht kritisierst.

Wenn ich sagte, es sei der „uneingeschränkte Geltungscharakter (des) Kommandos über den Menschen … das Wesen des Geld-Werts“, so meinte ich nicht, dies sei ein „persönliches“ Herrschaftsverhältnis, es ist allerdings letztlich ein direktes. Das kann man, denke ich, in jedem kapitalistischen Betrieb erfahren. Im Unterschied zum Feudalsystem sind die direkten Herrschaftsverhältnisse des Kapitalismus freilich flüssig, austauschbar, sie sind nicht mehr fest, so wie etwa die Bauern an einen bestimmten Feudalherren gebunden blieben.

Die Substanz des Werts ist abstrakte Arbeit. Der Wert setzt daher das Kommando über die Arbeitskraft voraus, das heißt das Kommando der Kapitalistenklasse über die Arbeiterklasse – ein gesellschaftliches Verhältnis, wie du ja auch feststellst. Auch entsteht das Kapital als Verhältnis historisch nicht als vermeintlicher Sachzwang des Werts, sondern als direkte Vertreibung der unmittelbar Produzierenden und ihre Unterjochung durch blutige Gewalt.

In den verschiedenen empirischen Formen des Werts, beim Geld angefangen, zeigt sich dieses Verhältnis zwischen Kapitalistenklasse und Arbeiterklasse nicht nur in einer objektivierten, sondern zugleich in einer flüssigen, von konkreten Qualitäten und Dingen unabhängigen Form. Der Wert ist nur scheinbar ein Verhältnis von Dingen. Wäre er das tatsächlich, dann hätten wir wirklich einen Sachzwang vor uns. In der Tat sind die Wertformen jedoch Ausdrücke eines Verhältnisses zwischen zwei Klassen, das den Menschen als scheinbare Eigenschaft von Dingen zurückgespiegelt wird.

Der Unterschied zwischen der kapitalistischen Herrschaft und anderen, auch früheren Herrschaftsformen ist also meines Erachtens nicht, dass sie keine gesellschaftlichen Verhältnisse sind. Wie könnte man Herrschaft anders als ein gesellschaftliches Verhältnis denken?

(→Teil 3)

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