Wie traditionelle Denkformen überwinden?

Im Vorfeld des Artikels »Kapitalistische Keimzellen?« des Autors »libertär« — wie schon von Franz erwähnt — Diskussionen darüber, ob der Text überhaupt erscheinen könne. Viele empfanden ihn inhaltlich (traditionalistische Argumentation) und stilistisch (autoritärer Tonfall) als nicht zu keimform.de passend. Der Autor hat den Artikel daraufhin überarbeitet. Es hat sich einiges verändert, anderes ist gleich geblieben. Im folgenden folgt eine längere Befassung mit einzelnen Punkten. Anderes findet sich in den Kommentaren zum Ursprungsartikel.

Verändert hat sich der Ansatzpunkt. Hatte der Autor zunächst die Keimformen der Peer-Produktion mit einer (wie auch immer) entfalteten Peer-Ökonomie verwechselt, so hat er nun vor, sich mit »Fehlentwicklungen in den Keimformen« zu befassen. Immerhin wäre damit schon mal der methodische Diskurssprung vermieden (ein zukünftige Gesellschaft mit Beobachtungen aus dem Keimform-Stadium kritisieren). Mal sehen, ob das so bleibt.

Methodisch will er »Commons den kapitalistischen Gemeinschaften im Feudalismus gegenüberstellen«. Das könnte interessant werden, denn tatsächlich befand sich ja auch der Kapitalismus mal im Keimform-Stadium. Nach der Benennung von Ähnlichkeiten zwischen Commons als Keimform und kapitalistischen Gemeinschaften als Keimform, formuliert der Autor Differenzen:

Die heutigen Keimformen unterscheiden sich jedoch auch in wesentlichen Aspekten.

Aus meiner Sicht ist es wichtig, nicht eine Keimform mit schon wesentlich weiter entfalteten Formen zu verwechseln. Nach meinem Verständnis ist eine Keimform keine Zwischengesellschaft auf dem Weg zu einer freien Gesellschaft im Sinne eines »Sozialismus« (das kommt unten noch). Bitte im Fünfschritt-Artikel nachlesen.

Wenn man dennoch so tut, als seien Keimformen so etwas wie eine eigenständige Zwischenphase, dann rutscht man doch wieder in eine Form des oben erwähnten methodischen Diskurssprungs, den es zu vermeiden gilt, weil man sonst Äpfel mit Birnen vergleicht.

Die kapitalistischen Zentren stritten mit den etablierten feudalen Kräften um die Vorherrschaft im Staat und um die richtige Herrschaftsmethode.

Hier wird das vorher Genannte deutlich: Es gab schon eine entfaltete neue Produktionsweise, die sich gar in Zentren schon soweit vernetzt hatte, dass sie die Produktion auf der eigenen (kapitalistischen) Grundlage organisieren konnte. Nun ging es – quasi als Schlussakkord in der Durchsetzungsphase – auch noch darum, die politische Herrschaft zu etablieren. Bezogen auf das Fünfschrittmodell handelt es sich um den vierten Schritt des Dominanzwechsels. Um Keimformen geht‘s da schon lange nicht mehr. Ein Keimform-Vergleich müsste also wesentlich früher ansetzen.

Eine Klasse trat an, eine andere als herrschende Klasse abzulösen und obsolet zu machen, was nach Jahrhunderten der Verbreitung und Festigung der kapitalistischen Strukturen gelungen ist.

Es ist richtig, dass die Durchsetzung des Kapitalismus mit der Ablösung einer herrschenden Klasse durch eine andere verbunden war. Dies ist bei der Aufhebung des Kapitalismus jedoch nicht mehr das Thema. Der Wechsel zu einer freien (commonistischen, kommunistischen, wie auch immer) Gesellschaft ist kein „Klassenwechsel“, sondern eine Beendigung des „Klassenmodus“ überhaupt.

Der Kapitalismus wurde zudem im Schoß des Feudalismus vorbereitet.

Mal abgesehen vom unpassenden Bezug auf den weiblichen Körper: Das Neue entsteht immer im Alten.

Beide Ökonomien existierten nebeneinander und standen in keinem fundamentalen Widerspruch.

Das ist ein Irrtum. Die feudale Produktionsweise basierte auf Privilegiensystemen, Gilden, Zünften, Leibeigenschaft und subsistenzorientierter Agrarproduktion. Auf dieser Grundlage war Kapitalismus nicht möglich. Erst mussten die personalen Abhängigkeiten aufgelöst, die Privilegien und Restriktionen abgeschafft und – ganz entscheidend – die (doppelt) freie Arbeitskraft geschaffen werden. Dieser gewalttätige Prozess eines „Enclosure of the Commons“ wurde von Marx die „sogenannte ursprüngliche Akkumulation“ genannt.

Beide beförderten die Bereicherung einer Klasse durch die Unterjochung einer anderen.

Das ist oberflächlich richtig, aber der Herrschaftsmodus änderte sich fundamental: Statt auf personaler Herrschaft basiert der Kapitalismus auf sachlicher struktureller Herrschaft. Das Kapital sind eben nicht „die Kapitalisten“, sondern das Kapital ist ein verselbstständiges Herrschaftsverhältnis der Verwertung von Wert, dem sich alle unterordnen müssen.

Betrachtet man die gescheiterten Sozialismusversuche des 19. Jhs., Kommunen, die eine sozialistische Produktion als Alternative in einer kapitalistischen Umwelt zu etablieren suchten, wird klar, dass es nicht unbedingt erfolgversprechend ist, die „keimförmigen“ Ursprünge des Kapitalismus zu adaptieren.

Mir ist nicht klar, welche Kommunen hier gemeint sind und was diese mit Keimformen zu tun hatten. Die Pariser Commune etwa hatte überhaupt nicht die Zeit, eine andere Produktion zu organisieren.

Ursächlich für den Misserfolg war der fehlende Beitrag jener Kommunen zum herrschenden System. Anders als kapitalistische Keimformen waren die sozialistischen den Zwecken der bestehenden Ökonomie diametral entgegengesetzt.

Das halte ich für eine komplette Fehleinschätzung. Erstens war noch kein System der vorhergehenden Gesellschaftsform so deutlich entgegengesetzt und hat bei seiner Entfaltung nahezu kein Stein auf dem anderen gelassen wie der Kapitalismus (s.o.). Zweitens war die „sozialistische Ökonomie“ der kapitalistischen gerade nicht entgegengesetzt, sondern war (ist: China) wie diese eine Warenproduktion.

Sie konnten mit dem Kapitalismus in keinem Bereich konkurrieren.

Die Tatsache des Konkurrieren-könnens verweist auf ihre Vergleichbarkeit, denn in der Tat können zwei unterschiedlich organisierte Formen der Warenproduktion miteinander konkurrieren. Dies dementiert jedoch die vorhergehende Behauptung der Entgegensetzung. Im übrigen zeigt China, dass eine staatsgesteuerte Warenpoduktion durchaus konkurrenzfähig sein kann.

Diese Beobachtungen deuten auf eine grundsätzliche Unvereinbarkeit sozialistischer Gemeinschaften mit dem Kapitalismus, auf einen tiefen Antagonismus zwischen diesen ökonomischen Systemen, hin.

Das Gegenteil ist richtig. Folgen wir aber der Illusion des Autors, dann ergibt diese Forderung Sinn:

Wollten die Keimformen in eine nachkapitalistische Gesellschaft überleiten, so müssten sie im Klassenkampf für das Proletariat Partei ergreifen. (…) Entweder diese kapitalistische Klassengesellschaft wird fortgeschrieben oder das Proletariat entscheidet den Kampf für sich und eine klassenlose Gesellschaft bahnt sich an.

Das ist die zentrale Idee des Autors, nämlich eine völlig überholte und historisch disqualifizierte Transformationskonzeption mit dem Keimform-Ansatz zu verbinden. Das ist jedoch nicht möglich. Die „Keimform“ steht immer für die Keimform einer neuen Produktionsweise (da widerspreche ich Franz). Das Proletariat steht – gleich, ob es herrscht oder nicht – immer für die und in der existierenden Warenproduktion. Nur dort ist es existent. Es hat nichts mit einer neuen Produktionsweise zu tun.

Nun zu den Commons:

Unwissentlich fällt ihnen die Funktion zu, den krisenhaften Kapitalismus zu stärken und zu erneuern.

Der Kapitalismus lebt kontinuierlich davon, die Commons einzuschließen, zu privatisieren und in die Warenform zu transformieren. Diese Gefahr besteht auch für neue Commons. Die Krise des Kapitalismus werden sie aber nicht aufhalten.

Die Geldlogik wird in den Commons beibehalten. In Commons wird investiert, sie beziehen Spenden. Sie kaufen und verkaufen Güter in ihrem kapitalistischen Umfeld.

Geldlogik bedeutet Verwertungslogik. Nicht überall dort, wo Geld im Spiel ist, geht es um die Verwertung. Spenden zum Beispiel verwerten nichts. Diese Spenden in Commons zu stecken, ist dann keine „Investition“, wenn das Ziel nicht die Produktion von Waren für den Verkauf ist. Ist das jedoch der Fall, dann handelt es sich nicht um Commons. Commons agieren jenseits von Markt und Staat, aber nicht jenseits vom Geld. Wie auch jede/r Einzelne sind auch Commons auf Geld angewiesen. Die Frage ist nur, ob Geld als Kapital zwecks Verwertung eingesetzt wird oder nicht. Die Grenze ist allerdings nicht immer eindeutig.

Die Commons produzieren teilweise Waren für den Markt. Das impliziert eine kapitalistische Ausrichtung ihrer Produktionsweise.

Dann sind das keine Commons, sondern Unternehmen. Von mir aus kann man sie commons-orientierte Unternehmen nennen, aber es sind keine Commons.

Die Commons problematisieren den Staat und seine Gewalt nicht.

Dort, wo Commons von Staatsgewalt betroffen sind, tun sie das sehr wohl.

Die Aufhebung des Eigentums, mithin die Enteignung der Kapitalistenklasse, ist nicht vorgesehen.

Vielleicht haben einzelne Commons das auch explizit vorgesehen, wenn es denn hilft. Implizit findet eine „Aufhebung des Eigentums“ sehr wohl statt, etwa in der Freien Software. Und jede erfolgreiche „Entwertung“ (die der Autor anerkennt) ist eine „Enteignung der Kapitalistenklasse“. Generell gilt: Es gibt nicht „die Commons“. Das ist keine Partei und keine uniforme Bewegung.

Der gegenwärtige Klassenkampf durch das Kapital und ein mögliches Einschreiten der Commons werden nicht thematisiert.

Das ist schlicht Quatsch. Commons werden immer wieder bedroht und müssen sich gegen allerlei Angriffe zur Wehr setzen. Wenn dies nicht „Klassenkampf durch das Kapital“ genannt wird, dann vielleicht deswegen, weil es nichtssagend ist. Stattdessen werden die Konflikte viel konkreter geführt. Ferner ist der „Klassenkampfismus“ keine emanzipatorische Option.

Da sie sich dem Klassenkampf des Kapitals nicht stellen und in der Frage der Vergesellschaftung des Eigentums keinen Handlungsbedarf sehen, werden sie eine Verallgemeinerung der Peerproduktion so nicht einleiten können.

Das ist traditionalistische Rhetorik ohne Substanz. Was heißt „Vergesellschaftung des Eigentums“? Was soll das sein, etwa „Gemeinschaftseigentum“ wie Lafontaine meint (und dafür schon wieder zu unrecht Elinor Ostrom heranzieht)? Doch Gemeinschaftseigentum steht nicht im Gegensatz zu Privateigentum, sondern ist eine kollektive Form des Privateigentums. Das wird in der Regel nicht gesehen. Auf dieser Nicht-Differenz baut jedoch in der Regel die traditionalistische Rhetorik auf: Sie weiß nicht, wovon sie redet. Oder sie glaubt schlicht daran, dass kollektiv verwaltetes Eigentum besser sei, auch wenn es im gleichen Betriebsmodus der Warenproduktion betrieben wird.

Auch hier wieder geht‘s um eine Rechtsform und nicht um die Produktionsweise. Die Produktionsweise folgt jedoch nicht der Rechtsform, sondern umgekehrt wird ein Schuh draus: Die Produktionsweise schafft sich ihre Rechtsformen (so sie denn noch gebraucht werden).

Ein großes Rätsel der Commonsbewegung ist ihr widersprüchliches Verhältnis zum Eigentum. Es verwundert, dass sie, obwohl sie Eigentum ablehnt, keinen Versuch unternimmt, es zu beseitigen und in eine gemeinsame Verwaltung zu überführen. Stattdessen wird das Eigentum affirmiert, indem es in den ökonomischen Beziehungen zur kapitalistischen Umwelt anerkannt und vorausgesetzt wird.

Da es „die“ Commons-Bewegung nicht gibt, kann man auch nicht sagen, dass „sie Eigentum ablehnt“. Was die Commons jedoch auszeichnet ist, dass sie die Exklusionsfunktion des Eigentums außer Kraft setzt oder zumindest abschwächt. Deswegen funktionieren Commons auf Grundlage sehr unterschiedlicher Eigentumsformen. Ich wüsste jedoch nicht, wie eine gesellschaftliche Rechtsform beseitigt werden solle. Das ginge erst, wenn sich die Produktionsweise dominant so geändert hat, dass sie keines Eigentums mehr bedarf. Unter der Dominanz des Kapitalverhältnisses ist leider jede/r gezwungen (auch der Autor libertär), die kapitalistische Umwelt als vorausgesetzt anzuerkennen. Übrigens: Auch der Sozialismus basiert auf Eigentum, er ist ja auch nur Warenproduktion.

Abhilfe könnte geschaffen werden, indem Experten der Kapitalismusforschung, also Marxisten, ihre Agitationsanstrengungen auf eine existierende Bewegung, auf die Menschen in Keimformen, richteten. (…) Der Theoretiker trifft auf die unentbehrlichen Praktiker einer revolutionären Bewegung und die Praktiker erhalten eine Anleitung in der unentbehrlichen Theorie. Wer als Marxist sein Wissen weitergibt, Proletarier agitiert, handelt in der besten marxschen Tradition. Nur weil Marx selbst so gehandelt hat – sich Erkenntnisse erworben und sie in die proto-revolutionären Bewegungen getragen hat –, gibt es überhaupt eine Marxsche Theorie.

Oh je, oh je, bitte nicht (nochmal). Übrigens hat Marx, wenn er tatsächlich mal so gehandelt hat, das Dünnste produziert, was seine Theorie hergibt. Die Erfindung einer „Übergangsgesellschaft“ zum Beispiel war eine schlechte Idee von Marx. Er reagierte damit auf die Arbeiterbewegung, die ihn mit dem Ruf nach »konkreten Konzepten« nervte. Inhaltlich geht es um die Frage, wie etwas qualitativ Neues, etwas mit einem fundamental anderen Charakter, in die Welt kommt. Die Übergangsgesellschaft bestand nun gerade nicht darin, dass sie einen „fundamental anderen Charakter“ als der Kapitalismus besitzt, sondern ihm noch sehr ähnlich ist (gleiche Produktionsweise: Warenproduktion), allerdings bei veränderten Machtverhältnissen. Der Realsozialismus konnte sich zurecht drauf berufen – und er scheiterte, weil er die schlechtere Warenproduktion war. Chinas autoritärer Staatskapitalismus könnte die erfolgreichere Warenproduktion werden, aber mit Emanzipation hat das nichts zu tun.

Fazit

Der Keimform-Ansatz hat nicht viel mit traditionalistischen Sozialismus-Konzepten zu tun. Auch sind Commons nicht notwendig Keimformen. Keimformen nenne ich nur solche Ansätze, die das Potenzial haben, eine neue Produktionsweise jenseits von Markt, Staat, Kapital, Wert und Arbeit zu konstituieren. Sozialismus-Konzepte, so unterschiedliche sie im Einzelnen sein mögen, gehen davon aus, durch die Verfügung über die Staatsmacht allerlei Erwünschtes realisieren zu können: Reichtum verteilen oder auch eine andere Produktion aufbauen. Das funktioniert nicht und hat auch noch nie funktioniert (historisch erwiesen), weil die Produktionsweise bestimmt, was mit ihr zu machen ist.

Jede gesellschaftliche Transformation ging und geht von der Entstehung einer neuen Produktionsweise aus. Diese entsteht nicht spontan, sondern im einem widerspruchsvollen Prozess der Gleichzeitigkeit von „Neuem im Altem“. Das versuche ich mit dem Fünfschritt-Modell theoretisch zu erfassen, um eben nicht in Fallen von unangemessenen Vergleichen (Keimform mit entwickelter Form) und Diskurssprüngen zu tappen. Solange das jedoch ignoriert wird, ist eine Diskussion schwierig bzw. mir bleibt dann als (langweilige) Antwort nur, immer wieder darauf zu verweisen.

Gibt es aber dennoch etwas Gemeinsames mit Anhänger/innen traditioneller staatsorientierter Sozialismus-Konzepte? Viele Ziele, Wünsche nach Emanzipation und Selbstbestimmung, werden sicherlich geteilt. Und auch praktisch ist eine Zusammenarbeit oft fruchtbar. Ein gegenseitiges Belehrungsverhältnis ist jedoch unangebracht. Viel Lehrreicher wäre ein tatsächlich inhaltlich bezogener inhaltlich gehaltvoller Diskurs.

[Update] Gerade sehe ich, dass Christian in einem Kommentar ähnlich argumentiert. Das lief parallel.

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