FAQ zum Fünfschritt und zum Keimform-Ansatz

Nach der Darstellung des Fünfschritts als methodisch-analytisches Denkwerkzeug, sollen nun häufig gestellte Fragen (FAQ) diskutiert werden. Also bitte erst den vorhergehenden Artikel lesen, sonst werden die Fragen und Antworten nicht unbedingt verständlich.

Ich halte eine Diskussion um diese Fragen für sehr wichtig. Ich habe selbst auf viele Fragen keine oder nur vorläufige Antworten. Und mir fallen oft auch jeweils zig Gegenargumente ein, die gegen meine eigenen Pro-Argumente sprechen. Ich hoffe, dass ich dadurch die Komplexität nicht zu hoch schraube, wenn ich das »mit mir« diskutiere. Lest den Text als eine Form individueller Selbstverständigung. Wenn wir daraus eine kollektive machen könnten, wäre das gut.

Weitere Fragen oder Kritiken an Fragen und Antworten bitte als Kommentar notieren. Ich nummeriere die Fragen durch, damit der Bezug einfacher ist. Außerdem bilde ich thematische Abschnitte in der Hoffnung die Übersicht zu vergrößern.

A. Zum Fünfschritt selbst

1. Wie kann man Keimformen erkennen?

Da der Fünfschritt ein retrospektives Verfahren der Analyse ist, kann man streng genommen die Keimform, die schließlich zu einer qualitativ neuen Entwicklung führte, erst im Nachhinein bestimmen. Befindet man sich selbst als Forschende_r mitten in der Entwicklung, kann man die Eigenschaft für Realprozesse vermuten und dafür Hinweise sammeln. Solche Hinweise zeigen sich vor allem im dritten Schritt: Dehnt sich die Keimform aus? Ist sie gleichzeitig inkompatibel zum Alten und nützlich für das Alte? Etc.

2. Wie kann man eine Nicht-Keimform erkennen?

Im Prinzip gilt das vorher gesagte. Während man bei der Keimform im dritten Schritt nie sicher sein kann, ob sie nicht doch in der alten Logik aufgeht und damit verschwindet (also doch kompatibel ist), ist eben jenes Aufgehen in der alten Logik ein deutlicher Beleg dafür, dass man sich im Keimform-Charakter der untersuchten Sache geirrt hat.

3. Handelt es sich um genau eine Keimform oder können es auch mehrere sein?

Im Fokus der Analyse steht nicht eine konkrete »Sache«, etwa dies oder jenes Projekt, sondern die Funktion, die die untersuchte »Sache« erfüllt. Insofern handelt es sich um eine Keimform, die bei vielen unterschiedlichen Realsachverhalten sichtbar werden kann. Oder um es philosophisch zu formulieren: Handelt es sich um ein neues Wesen, so erscheint dies in vielfältiger Form. Ist der Unterschied zur alten Logik unwesentlich, so zeigen auch irgendwann die damit verbundenen Erscheinungen ihre Kompatiblität mit dem Alten.

Alltagssprachlich verschwimmt der Unterschied zwischen Sache und Funktion. Dann ist es auch kein Problem, von Keimformen in der Mehrzahl zu reden, auch wenn es um eine Funktion geht. Dazu siehe unten im Abschnitt B.

4. Was genau ist mit »Funktion« gemeint?

Ein früherer Streit drehte sich um die Frage, ob nur die Freie Software Keimform-Charakter habe oder auch anderes. An diesem Beispiel kann man den Unterschied von Sache (Gegenstand) und Funktion erklären. Nicht die Freie Software als solche ist die Keimform, sondern die neue Funktion der gesellschaftlichen Vermittlung jenseits der Waren- und Wertform, die sie erstmals in die Welt gesetzt hat, macht ihren Keimform-Charakter aus. Heute sehen wir, dass diese Funktion auch in anderen Bereichen (Wissen, Kultur, Design, Hardware, allg. stoffliche Güter) entstand und entsteht, weshalb es auch sinnvoll war, den neuen übergreifenden Begriff der commons-basierten Peer-Produktion zu finden.

Wenn man sich diesen Unterschied von der Sache selbst und der Funktion, die sie realisiert, klar macht, dann wird auch deutlich, das sich mit großer Wahrscheinlichkeit die Sache im Zuge der Entwicklung durch die fünf Schritte hindurch verändern wird. Es ist ein bedeutender Unterschied, ob sich eine neue Funktion auf alter Grundlage herausbildet oder sich auf ihrer eigenen Grundlage entfaltet. Als Beispiel kann man sich die Herausbildung des Kapitalismus anschauen. Die Manufaktur war die frühkapitalitische Produktion auf feudaler Grundlage (Funktionswechsel), während die industrielle Produktion der durchgesetzte Kapitalismus (Dominanzwechsel) auf seiner eigenen Grundlage ist.

5. Was ist mit doppelter Funktionalität gemeint?

Der Begriff der doppelten Funktionalität taucht gelegentlich beim Funktionswechsel auf. Damit ist angesprochen, dass die neue Funktion sich noch nicht auf ihrer eigenen Grundlage, sondern noch auf alter Grundlage entwickelt und daher zwei Kriterien gleichzeitig erfüllen muss. Erstens muss sie funktional, also nützlich für die alte Logik sein. Sie kann nur von den Ressourcen des Alten leben, da sie ja noch nicht in der Lage ist, ihre eigenen Ressourcen (einschließlich der Mittel) herzustellen. Gleichzeitig muss sie zweitens — sofern es tatsächlich eine Keimform eines Neuen sein soll — inkompatibel zur Reproduktionslogik des Alten sein, sich also im Kern anders entwickeln. Geht sie im Alten auf, war die Differenz zur alten Logik nur eine quantitative oder graduelle und keine qualitative. Es handelte sich dann doch nicht um eine Keimform, sondern nur um eine bezüglich der alten Logik immanente Innovation.

Kritiken, die beklagen, dass eine Keimform vom Alten verwendet werde, haben den Aspekt der notwendigen doppelten Funktionalität nicht verstanden. Eine Forderung nach dem »ganz anderen«, das »sofort« zu realisieren sei, ist insofern abstrakt, als sie nicht erklären kann, woher denn das »ganz andere« kommen soll.

6. Handelt es sich bei den fünf Schritten um eine strikte zeitliche Reihenfolge?

Nein. Grundsätzlich ist der Fünfschritt ein logisches Entwicklungsmodell, kein zeitliches. Allerdings ist auch kein beliebiges Vertauschen von Schritten möglich, da es — eben: logische — Abhängigkeiten gibt. So kann der Dominanzwechsel logisch nicht vor dem Funktionswechsel stattfinden etc. Die ersten drei Schritte Keimform, Krise und Funktionswechsel können sich hingegen zeitlich durchdringen, insbesondere wenn man sich klar macht, dass sich eine neue Funktion an vielen verschiedenen Gegenständen (Sachen) zeigt, die unterschiedliche Stände der Herausbildung der neuen Funktion haben können (vgl. Frage 4).

B. Zur commons-basierten Peer-Produktion in der Übergangsphase

7. Unternehmen verdienen Geld mit commons-basierter Peer-Produktion, spricht das nicht gegen ihren Keimform-Charakter?

Nein. Unternehmen nutzen Ergebnisse der commons-basierten Peer-Produktion aus, um Geld zu verdienen. Da gibt’s vielfältige Methoden, um das zu erreichen. Beliebt ist die Kombination von einem »freien Gut« mit einem knappen Add-on, das dann im Bundle verkauft wird. Entscheidend ist die Frage: Handelt es sich um ein Ausnutzungsverhältnis, bei dem die Peer-Produktion im Kern erhalten und damit vom Unternehmen getrennt bleibt oder nicht. Vgl. dazu auch Frage 5 zur doppelten Funktionalität.

8. Was ist, wenn Peer-Projekte selbst ihre Produkte verkaufen?

Dann betreten sie den Übergangsbereich zu einem normalen Unternehmen. Wird aus dem Peer-Projekt ein am Markt tätiges Unternehmen, dann löst sich der Peer-Charakter schrittweise in dem Maße auf, wie das Projekt am Markt erfolgreich ist und nach dessen Imperativen arbeitet. Denn dann steht der Markterfolg und nicht mehr die Bedürfnisbefriedigung im Mittelpunkt. Das kann passieren, muss aber nicht. Es ist eine Entscheidung der Beteiligten.

9. Peer-Projekte oder mindestens die Beteiligten brauchen Geld. Spricht das nicht gegen ihren Keimform-Charakter?

Nein. Die abstrakte Frage »Ist Geld im Spiel« taugt nicht als Entscheidungskriterium. Es ist klar, dass wir (direkt oder indirekt) alle unter den gegebenen dominanten Bedingungen Geld brauchen, um uns selbst und die Projekte zu finanzieren. Die Frage ist, auf welche Art und Weise dieser Geldbedarf gedeckt wird. Wenn der Geldbedarf mit den Ergebnissen der Peer-Produktion selbst erreicht werden soll, besteht die Gefahr, dass die Bedürfnisorientierung in eine Geldorientierung umschlägt. Dafür gibt es unzählige Beispiele, insbesondere im Bereich der traditionellen Alternativ-Ökonomie. Siehe auch die vorhergehende Frage.

Gleichwohl ist eine Orientierung auf Demonetarisierung eine hilfreiche und sinnvolle, weil sie dafür sensibilisiert, wo monetäre Logiken eindringen können oder wo wir sie bewusst heraushalten wollen.

10. Viele Projekte haben gar kein Bewusstsein von den hier aufgeworfenen Fragen.

Das stimmt, aber die Orientierung an den eigenen Bedürfnissen bietet einen ganz guten Kompass. Wenn dann noch mindestens intuitiv erfasst wird, dass die eigene Bedürfnisbefriedigung von der der anderen abhängt (und umgekehrt), dann bekommt so ein Projekt schon eine gute Grundlage. Erstaunlicher Weise geschieht dies relativ häufig. Einen Automatismus kann man daraus dennoch nicht ableiten.

Das vorgestellte Fünfschritt-Modell mag dazu betragen, ein größeres Bewusstsein über das eigene Handeln und seine Widersprüche zu bekommen.

11. Unternehmen haben schon immer die Commons ausgebeutet, daran ist nichts neues.

Das stimmt. Man kann die Geschichte des Kapitalismus als eine fortwährende Einhegung der Commons beschreiben. Das Neue kann man aus der Perspektive der Ausnutzung jedoch nicht erkennen. Dazu muss man die Perspektive der handelnden Menschen einnehmen.

C. Zur Freien Gesellschaft und ihren Entfaltungsbedingungen

12. Handelt es sich denn nur um eine Funktion? Müssen sich nicht eigentlich viele gesellschaftliche Funktionen verändern?

Zweimal ja, ohne Widerspruch. Wie das? Für eine Antwort muss ich etwas ausholen.

Menschen stellen ihre Lebensbedingungen gesellschaftlich her. Dabei gehen sie historisch verschiedene Formen der sozialen Vermittlung ein. Mit »Vermittlung« ist gemeint, wie die Gesellschaft organisiert ist, damit das, was die einen produzieren und die anderen brauchen, zusammen kommt. Plus die Meta-Tätigkeiten und Strukturen, die notwendig sind, damit die Vermittlung als solche funktioniert. Das waren historisch z.B. Herrscher und Subherrscher mit ihren Exekutoren (Tributeintreibern etc.). Dazu kamen die Ideologie-Produzenten, die die personale Herrschaft als einzig realistische Vermittlungsform legitimierten (v.a. Kirche). Heute bei getrennter Privatproduktion sind es Tausch, Markt und Geld, über die die Vermittlung läuft, sowie der Staat, der Meta-Aufgaben absichert und rechtfertigt. Dazu kommen auch hier wieder die Ideologie-Lieferanten, die das alles als einzig realistische Vermittlungsform legitimieren.

Die gesellschaftliche Vermittlung, also die Art und Weise wie produziert und verteilt wird, ist die zentrale Funktion jeder Gesellschaft. Wenn sich diese qualitativ ändert, ändert sich nahzu alles in der Gesellschaft. Deswegen die Rede von einer Funktion. Diese Funktion ist jedoch so allgemein gefasst, dass auch tatsächlich sehr viele andere gesellschaftliche Teilfunktionen von dieser bestimmt werden bzw. diese (mit) bestimmen.

13. Wird mit der Zentralität der gesellschaftlichen Vermittlung nicht der alte Haupt-Neben-Widerspruch wiederholt?

Nein. Die alte Haupt-Neben-Debatte entstand, weil ein partieller gesellschaftlicher Widerspruch (der zwischen Arbeit und Kapital) in den Mittelpunkt gestellt wurde. Dem mussten dann, nach teilweise aufwändigen Interventionen unberücksichtigter Gruppen, weitere partielle Widersprüche hinzugefügt werden. Die immer länger werdende Kette der Addtionen litt darunter, dass das Gemeinsame im Unterschiedenen nicht gefunden werden konnte (außer in einer abstrakt-allgemeinen Fassung als »Herrschaft«).

Die implizite These ist also, dass die Art der gesellschaftlichen Vermittlung das übergreifende Allgemeine ist. Die Einzel-Widersprüche zeigen sich dann als Momente des Übergreifenden, nicht bloß als Teile eines unzusammenhängenden Ganzen. Dass die gesellschaftliche (Meta-)Vermittlung nicht nur über die Ökonomie, sondern auch über Sexismus, Rassismus, Homophobie, Antisemitismus etc. organisiert wird und sich organisiert, ist — so finde ich — auch anschaulich gut nachvollziehbar. Das bedeutet implizit auch, erstens, dass sich auf all diesen Widerspruchsfeldern Keimformen (als divergente Erscheinungen der neuen gesellschaftlichen Vermittlungsfunktion) zeigen sollten. Und zweitens bedeutet es, dass beim Aufbau einer neuen Form der gesellschaftlichen Vermittlung all jene früher als Nebensache abgetrennten Widersprüche unmittelbar zur Geltung kommen und nach Lösung/Berücksichtigung verlangen. Das wäre zu überprüfen.

14. Nebenfrage: Was war nochmal gleich der Unterschied der Begriffskombis Moment/Ganzes und Teile/Ganzes?

Das Ganze ist das additive Verhältnis seiner Teile, bei dem die Teile als getrennte Einzelne bestehen bleiben. Die Teile haben keinen notwendigen inhaltlichen Bezug zum Ganzen. Ich kann zum Beispiel neue Gruppen von Teilen bilden und zu neuen Ganzen addieren, die Zusammengehörigkeit definiere ich mehr oder weniger willkürlich.

Das Übergreifende (auch Ganzes genannt) besteht dergestalt aus seinen Momenten, dass die Momente jedes für sich auch das Ganze sind. Ganzes und Momente enthalten sich wechselseitig. Am Ganzen erscheinen immer auch seine Momente, und die Momente zeigen auch immer das Ganze. Da Ganzes und Momente sich hier wechselseitig inhaltlich bestimmen, kann ich keine willkürliche Neugruppierung vornehmen und neue Zusammengehörigkeiten definieren, sondern nur die inhaltlich bestehenden, objektiven Zusammengehörigkeiten erkennen.

15. Was ist mit der Machtfrage?

Welche Machtfrage? Es gibt nicht nur eine Machtfrage, sondern entlang der oben diskutierten Widerspruchsfelder sehr viele Machtfragen. Implizit ist aber auch hier wieder gesagt, dass der Fokus aller Machtfragen der des Aufbaus von Handlungsmacht bei der praktischen Durchsetzung einer neuen Form der gesellschaftlichen Vermittlung ist, also einer neuen Art und Weise die gesellschaftlichen Lebensbedingungen herzustellen. Auf diese Weise werden faktisch alte Machtstrukturen außer Kraft gesetzt, die ihre Legitimität daher bezogen, dass sie die Lebensbedingungen auf alte Weise herstellten (mit allen Verwerfungen, die schließlich zur Krise führten).

Dabei ist nicht ausgeschlossen, dass alte Eliten aus alter Logik resultierende Macht mobilisieren, um die neue Handlungsmacht zu bedrohen oder zu (zer-)stören. Dies kann partiell auch erfolgreich sein, doch wenn die alte Systemlogik tatsächlich nicht mehr in der Lage ist, für den Systemerhalt zu sorgen, so schwinden auch Legitimität und Machtmittel des Alten. Und wenn dann die neue Systemlogik tatsächlich in der Lage ist, eine neue Art und Weise der Produktion der gesellschaftlichen Lebensbedingungen durchzusetzen (im Dominanzwechsel), dann ist der neue Prozess auch nicht mehr aufzuhalten (etwa durch Gewalt). Als Analogie kann man etwa die Überwindung des Mubarak-Regimes in Ägypten nehmen (nur dass es hier nicht um eine neue Produktionsweise ging).

Entscheidender Punkt ist hierbei: Das Verhältnis von Machtfrage und neuer gesellschaftlicher Produktionsweise kann nicht umgedreht werden!

16. Aber ist nicht der Staat entscheidendes Zentrum der Macht? Was passiert damit?

Wenn die Funktion, die der Staat so wie wir ihn kennen, nicht mehr gebraucht wird — nämlich die gesellschaftlichen Widersprüche zu vermitteln, die aus der Produktionsweise selbst als unvermittelbar ausgestoßen werden –, dann wird diese Form von Staat verschwinden und mit ihm die Zentralität von (exekutiven) Machtmitteln.

Andere Aspekte des Staats wie etwa organisatorische, planerische und infrastrukturelle Funktionen werden entsprechend der durchgesetzten neuen Imperative (Bedürfnisbefriedigung statt Verwertung) entweder als unbrauchbar ersetzt oder als halbwegs brauchbar umgewandelt. Dabei gehen solche Instanzen zurück in die gesellschaftliche Vermittlung, weil in einer Freien Gesellschaft organisatorische, planerische, infrastrukturbezogene Prozesse Momente der gesellschaftlichen Vermittlung sind und nicht von ihr getrennt in einer eigenen Sphäre und Logik laufen. Sich dabei herausbildende Instanzen sind also genau wie alle anderen produktiven Prozesse commons-basierte Peer-Produktion, nur das hier die Produkte dann Konzepte, Pläne oder sonstige Meta-Konzeptionen sind, die gesellschaftlich gebraucht werden.

Wenn manche die neuen Institutionen dann auch wieder »Staat« nennen wollen, so ist das nurmehr eine terminologische Frage und keine inhaltliche mehr. Ein Streit um das Wort ist müßig, um die inhaltlichen gesellschaftlichen Funktionen sollte es gehen.

17. Hängt das Erkennen einer Keimform nicht davon ab, welche Vorstellung man von einer zukünftigen Gesellschaft hat?

Ja. Der Keimform-Ansatz funktioniert ja fiktiv-retrospektiv. Gedanklich setzen wir uns in die zukünftige Gesellschaft und fragen uns, wie diese entstehen konnte und was früher einmal die Keimform war. Damit ist es notwendig, einige Rahmenbestimmungen der neuen Gesellschaft zu entwickeln.

Ausgehend von der Identifizierung der zentralen Funktionalität der gesellschaftlichen Vermittlung kann man im Ausschlussverfahren vorgehen und überlegen, was es alles nicht sein kann, das die neue Funktion ausmacht. Wenn man das tut, dann kommt man — ich kürze jetzt ab — auf die menschlichen Bedürfnisse und damit auf die Menschen selbst als zentraler Vermittlungsinstanz. Die Menschen stellen selbst die Formen der Vermittlung her, und der Maßstab dafür sind ihre Bedürfnisse (siehe dazu auch Frage 18 zur Produktivkraftenwicklung).

Was den ersten Teil dieser Aussage betrifft, so war das genau besehen schon immer so, dass die Menschen die Vermittlung »machen«, doch was den Maßstab betrifft, so waren es (bis heute) immer dritte Personen, Instanzen oder Logiken, die den Maßstab setzten und setzen. Also entweder der personale Herrscher (»Es gilt, was ich sage«) oder die unpersonale Verwertungslogik (»Es gilt, was sich rechnet«). Die eigenen Bedürfnisse waren immer erst in zweiter Linie dran: Erst den Zehnten abliefern, dann das eigene Produkt verzehren; erst Geld verdienen, dann konsumieren.

In einer Freien Gesellschaft gibt es diese Indirektionen (Umwege) nicht mehr. Das wiederum setzt voraus, dass die Menschen frei sind, und zwar alle. Diese Freiheit kann folglich keine partielle sein, sondern nur eine allgemeine. Es ist also nicht mehr möglich, dass die Bedürfnisbefriedigung der einen die Nicht-Befriedigung der anderen bedeutet. Im Gegenteil: Die Bedürfnisbefriedigung der Individuen sind reziprok voneinander dergestalt abhängig, dass niemand ausgeschlossen wird. — Soweit die Kurzfassung zu dieser Frage (siehe auch vorherige Frage zum Staat).

18. Wie geht die Produktivkraftentwicklung in die Überlegungen ein?

Sie ist in die Überlegungen eingegangen, allerdings vielleicht nicht so sichtbar. Dazu muss man sich den Begriff der Produktivkraftentwicklung klar machen. Hierbei handelt es sich nicht, wie oft verkürzend angenommen, nur um eine Technikentwicklung, sondern der Begriff Produktivkraftentwicklung fasst das Verhältnis von tätigen Menschen, den äußeren Naturbedingungen und den eingesetzten Mitteln. Man kann nun zeigen, dass die großen Epochen der Menschheit jeweils durch einen Aspekt die Produktivkraftentwicklung bestimmt waren bzw. sind. In den agrarischen Gesellschaften war es zunächst der Naturaspekt (Bodenbearbeitung), im Kapitalismus der Mittelaspekt (Industrie), und in der Freien Gesellschaft — so die Annahme — kommt dann der dritte Aspekt zum tragen: die Entfaltung des Menschen als Selbstzweck. Diese Übergänge kann man jeweils mit dem Fünfschritt begreifen (das machen wir ja gerade hier für den Übergang zur Freien Gesellschaft).

Die jeweils vorher entfalteten Aspekte verschwinden nicht, sondern (siehe den fünften Schritt der Umstrukturierung) werden zu einem untergeordneten Moment der Gesamtentwicklung. Zum Beispiel ist die kapitalistische Industriegesellschaft nicht mehr durch ihre Agrarproduktion bestimmt, sondern umgekehrt: Die frühere Form der Agrarproduktion hat sich auf die industrielle Produktionsweise hin umstrukturiert. Entsprechend wird auch die industrielle Produktionsweise mit der Freien Gesellschaft nicht verschwinden, aber zum untergeordneten Moment der Gesamtentwicklung herabsinken und entsprechend der neuen Produktionsweise umstrukturiert (dito dann ebenfalls und nochmals die Agrarproduktion). Da das bestimmende Moment der Freien Gesellschaft die Selbstentfaltung des Menschen ist und die gesellschaftliche Vermittlung grundsätzlich bedürfnisorientiert erfolgt, stehen nicht mehr die »Mittel«, sondern das »Soziale« im Fokus der Entwicklung.

Heute sich auf die »Mittel« zu fokussieren und zu erwarten, dass »von dort« die Befreiungsimpulse kommen, geht demnach fehl. Die entscheidenden qualitativen Entwicklungsschritte entstehen im »Sozialen«, dies allerdings nicht getrennt von den Mitteln. Es ist also umgekehrt auch nicht sinnvoll, sich bloß auf das »Soziale« zu beschränken und allein dort die Veränderung voranzutreiben (wie das etwa esoterische Ansätze versuchen). Dies ist auch deswegen wichtig zu verstehen, weil es die »Mittel« selbst sind, die Gegenstand und damit Mittel der gesellschaftlichen Vermittlung sind. Gesellschaftliche Vermittlung ist also nicht bloß auf »Kommunikation« zu reduzieren, sondern es geht immer darum, wie wir unsere Lebensbedingungen und die dafür benötigten Dinge herstellen. Darüber, über die Mittel, wird kommuniziert und gehandelt.

Zum Vergleich: Heute liegt der Primat der gesellschaftlichen Kommunikation beim Wert (in Gestalt der Ware), also der Frage, ob sich das, was gemacht wird, auch rechnet. Im Kapitalismus bestimmt damit ein Drittes die gesellschaftliche Vermittlung, während es in einer Freien Gesellschaft die Bedürfnisse der Menschen (kurz: die Menschen selbst) sind, die die Vermittlung bestimmen. Diese Bedürfnisse erscheinen in den Mitteln, die wir für unsere Bedürfnisbefriedigung herstellen. Daher sind die Mittel für die gesellschaftliche Vermittlung so bedeutsam.

Es sollte deutlich geworden sein, dass »Mittel« hier umfassend verstanden werden. Es geht also nicht nur um Mittel zur Produktion von neuen Mitteln, den Produktionsmitteln, sondern allgemein um jegliche Mittel, also auch nichtstoffliche (etwa: soziale), die wir entsprechend unserer Bedürfnisse in die Welt setzen wollen. Anders gesagt: Die gewohnte Trennung unterschiedlicher Mittelarten — etwa Produktionsmttel und Konsumtionsmittel — wird schrittweise verschwinden und das Soziale wird selbst zum Mittel, da in der Freien Gesellschaft die Menschen die Hauptproduktivkraft sind und sich ihre Mittel (im umfassenden Sinne) nach ihrem Maßstab (und keinem anderen, fremden) gestalten. Sie erschaffen sich selbst als gesellschaftlichen Menschen in der menschlichen Gesellschaft.

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