Verwaiste Werke in die Gemeinfreiheit!

Ein »verwaistes Werk« (engl.: orphan work) ist ein kulturelles Werk, dessen Urheber_in oder Rechtsinhaber_in nicht oder nur sehr schwer zu ermitteln ist. Wenn eine Urheber_in stirbt, gehen die Verwertungsrechte auf die Erben über. Wenn die jedoch ihrerseits das Zeitliche segnen, dann kann die Kette der Erben abreissen. Oder die Urheber_in macht sich sonstwo ein schönes Leben und vergisst ihr Werk. Folge: Das Werk ist verwaist.

Die Konsequenz ist, so James Boyle, dass die Mehrheit der kulturellen Güter nicht kommerziell verfügbar und wegen des Urheberrechts auch nicht unkommerziell verbreitbar sind. So bleibt etwa die Deutsche Digitale Bibliothek nur eine Alibiveranstaltung, wenn sie die verwaisten Werke nicht digitalisieren und in ihren Bestand aufnehmen darf.

Was geschieht nun mit den verwaisten Werken?

»Die reissen wir uns unter den Nagel«, denken sich VG Wort, Verlage und Kulturrat. Dann sind klare Rechtsverhältnisse vorhanden. Wer will, kann die verwaisten Werke dann nutzen — gegen Lizenzgebühren, versteht sich. Enteignungsphantasien nennt Ilja Braun die Gesetzesinitiative der drei großen Organisationen und schreibt:

Was spricht gegen eine gesetzliche Regelung für verwaiste Werke? Nichts. Im Gegenteil. Man bräuchte den Bibliotheken und Archiven bloß zu erlauben, Werke, deren Urheber oder Rechteinhaber mit vertretbarem Aufwand nicht zu ermitteln sind, im Rahmen ihres Kultur- und Bildungsauftrags dennoch der Öffentlichkeit in digitalisierter Form zur Verfügung zu stellen. Urheberrechtlich wäre das auf europäischer Ebene über eine Schrankenregelung möglich.

Eine solche Schrankenregelung hat etwa das Aktionsbündnis »Urheberrecht für Bildung und Wissenschaft« vorgeschlagen (nur als PDF). Aber ist das eine gute Lösung? Warum soll man nicht allen erlauben, verwaiste Werke zu nutzen? Warum nicht verwaiste Werke automatisch die Gemeinfreiheit (Public Domain) fallen lassen? Das ließe sich mit einer Änderung im Urheberrechts erreichen bzw. befördern: Die Übertragbarkeit durch Erbfolge wird abgeschafft.

Das kontinentaleuropäische Urheberrecht ist als Persönlichkeitsrecht gestaltet. Urheber_in ist eine natürliche Person, die ein Werk schafft. Die Urheberschaft kann nicht übertragen oder abgelegt werden, da sie mit der Person verbunden ist. Einzige Ausnahme ist die Übertragung durch Erbfolge. Diese Ausnahme verletzt das Prinzip der an die Person gebundenen Urheberschaft. Es gilt sie abzuschaffen. Nach dem Tod der Urheber_in fallen die Werke automatisch in die Gemeinfreiheit.

Durch Abschaffung der Erbfolge wären viele Probleme auf einen Schlag gelöst: die Verletzung des Persönlichkeitsprinzips, die permanent verlängerten Fristen für die Verwertungsfirmen, die Blockade des gesellschaftlichen Wissens. Tatsächlich läge ein Verzicht auf Urheberschaftsvererbung noch komplett innerhalb der marktwirtschaftlichen Logik, denn gemeinfreie Werke können sehr wohl kommerziell verbreitet werden — nur eben von jedem. Oder unkommerziell — auch von jedem.

Dies hat zum Beispiel auch Eckhard Höffner in seiner wichtigen historischen Untersuchung zur negativen Wirkung des Urheberrechts erkannt. Er fordert eine Trennung von Persönlichkeits- und Verwertungsrecht sowie eine Verkürzung der Monopolverwertungsdauer auf 10 Jahre nach Erstveröffentlichung. Das ist ein sinnvoller Vorschlag.

Das oben genannte Triumvirat wäre jedoch nicht erfreut. Sie argumentieren, dass mit ihrer Gesetzesinitiative, wonach verwaiste Werke an die Verwertungsgesellschaften fallen, die Einnahmen steigen würden, was den Urheber_innen zu Gute käme. Tatsächlich würden neue Einnahmen jedoch nicht breit getreut werden, sondern in der Regel sind es Verlage, die Verträge über die verwaisten Werke in der Hand halten und auf diese Weise ohne einen Handschlag eine neue Einnahmequelle hätten. Denn das normale Verlegen der verwaisten Werke »rechnet sich nicht«, aber das Kassieren von umgeleiteten Lizenzgebühren immer.

Die Lizenzgebühren kämen von Bibliotheken, die verwaiste Werke nutzen und (zum Bespiel digital) zur Verfügung stellen wollen. Bibliotheken werden aus Steuergeldern finanziert. Faktisch besteht die »Enteignungsphantasie« darin, uns alle um etliche Euros zu enteignen, die als Steuer den Bibliotheken zukommen, die sie über die Verwertungsesellschaften an die Verlage fließen lassen. Dass die Bibliotheken diesen Plan unterstützen scheint absurd, es ist aber so. Auch von den Gewerkschaften ist keine andere Position zu erwarten.

Auch die LINKE hat hier keine klare Position. Sie erkennt zwar einerseits die Probleme, eiert aber andererseits zwischen Verwertungslogik und gesellschaftlichem Nutzen hin und her. Inhaltliche Klärung ist hier erstmal angesagt. Ob ich da wohl noch mal eine Antwort bekomme?

P.S. Der 1. Januar ist Public Domain Day.

Eckhard Höffner

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